Sonntag, 24. Mai 2015

Vom "sie" und "er" zum "sier"

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2015

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Urteil des Europäischen Gerichtshofs
Trans* und zeugungsfähig
Wer das Geschlecht anpassen will, muss sich vorher nicht sterilisieren lassen. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Es ist ein Grundsatzurteil für die Menschenrechte von Trans*menschen: Wer das Geschlecht anpassen will, muss sich vorher nicht sterilisieren lassen. Mit seinem am Dienstag verkündeten Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg der Klage eines Trans*mannes aus der Türkei stattgegeben: Der Mann, der nur mit der Abkürzung Y. Y. bezeichnet wird, wollte sich 2005 einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen. 

Das zuständige Gericht verbot ihm jedoch die OP: 
Erst müsse er sich sterilisieren lassen. Dagegen klagte er.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte nun einstimmig: Sterilität darf keine Voraussetzung für eine Geschlechtsangleichung sein. Vorschriften dieser Art widersprächen dem Artikel 8 der Menschenrechtskonvention, die das allgemeine Recht jeder Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens festschreibt. Zudem sei die Freiheit, das eigene Geschlecht auszuleben, ein essentieller Teil des Rechts auf Selbstbestimmung.

„Wir sind sehr zufrieden, dass das Gericht diese absurde Regelung für ungültig erklärt hat“, kommentiert Richard Köhler von der Menschenrechtsorganisation Transgender Europe (TGEU). „So können Trans*leute in der Türkei Zugang zu medizinischer Behandlung bekommen, die ihre Lebensqualität signifikant verbessern kann.“ Es sei nun an der Türkei, das Urteil des Europäischen Gerichts auch im türkischen Recht umzusetzen.

Transgender Europe hatte bereits vor knapp zwei Wochen mit einem berührenden Youtube-Video auf die demütigende Behandlung von Trans*menschen durch Staat, Medizin und Gesellschaft hingewiesen. Der Clip ist aus der Sicht einer Trans*frau gedreht, die versucht, ihren Personenstand zu ändern, um auch offiziell als Frau leben zu können.

Wegweisender Charakter für Trans*aktivisten

Für Y.Y. hat das Gerichtsurteil vor allem symbolische Wirkung, ihm wurde 2013 eine geschlechtsangleichende Operation dann doch erlaubt. Doch für Trans*aktivist_innen und Menschenrechtler_innen hat das Grundsatzurteil wegweisenden Charakter: 47 Staaten sind derzeit Mitglied des Europarates, sie alle sind an die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofes gebunden. Doch nach Angaben von Transgender Europe gilt noch in 20 dieser Länder Sterilität als Voraussetzung für geschlechtsangleichende Operationen.

Auch Deutschland arbeitet noch an der angemessenen Behandlung von Trans*menschen. Das 1981 eingeführte Transsexuellengesetz erlaubte eine Personenstandsänderung (also die formale Angleichung des Geschlechts) nur, wenn die beantragende Person „dauernd fortpflanzungsunfähig“ sei und sich auch körperlich voll dem gefühlten Geschlecht angeglichen habe. 2011 kassierte das Bundesverfassungsgericht diese Regelung: Eine vom Staat verordnete Operation sei unvereinbar mit der im Grundgesetz garantierten Menschenwürde und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Vier der sieben Richter hätten diese Regelung, die so ähnlich immer noch in vielen Ländern gilt, am liebsten auch gleich mitbehandelt. „Auch dies ist ein wichtiges Zeichen für die Trans-Community", sagte Alecs Recher, Anwalt und Co-Vorsitzender von Transgender Europe. Der Weg zur Anerkennung der Rechte von Trans*menschen ist noch weit. Doch das vorliegende Urteil macht Mut.



Vom "sie" und "er" zum "sier"
Auf dem zweiten Europäischen Transgender-Council gehen Menschen, die nicht ins Zwei-Geschlecht-Schema passen, an die Öffentlichkeit.

Dass es zwei Geschlechter gibt, wird selten in Frage gestellt. Dass man sich in seiner Haut nicht wohl fühlen kann, ebenso wenig. So gibt es auch immer wieder Männer, die sich wie Frauen, und Frauen, die sich wie Männer fühlen. "Tomboy" nennt man Letztere mitunter, wenn es sich um junge Mädchen handelt, die gerne Jungs wären. "Das wächst sich raus", heißt es meistens. Was aber, wenn nicht? Wenn die Frau partout ein Mann sein will und der Mann eine Frau?

Manche machen sich dann auf den mühsamen Weg, sich dem Wunschbild anzugleichen. Lange wurde dabei das zweigeschlechtliche Modell nicht in Frage gestellt. Ein Dazwischen - im Kopf Mann, im Körper Frau etwa - war kaum denkbar. Dass es solche transidentischen Menschen, für die sich auch der Begriff "Transgender" durchgesetzt hat, gibt, wurde lange nicht wahrgenommen. Erst seit wenigen Jahren ist Transgeschlechtlichkeit ein politisches und öffentlich wahrgenommenes Thema.

Dabei gebe es neben Mann und Frau viele Spielarten von Identität, sagt Dan Christian Ghattas, einer der Organisatoren. "Die Bindung der Geschlechtsidentität an äußere Körpermerkmale - wie sie ja auch vielen sogenannten geschlechtsuneindeutigen Neugeborenen operativ aufgezwungen wird - spiegelt eine auf Kontrolle ausgerichtete Gesellschaft." In der Regel denke man eben in zwei Geschlechtern. "Das Uneindeutige dagegen macht Angst", fügt Carsten Balzer, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Transgender-Netzwerkes Berlin. Balzer weiß, wovon er spricht. Für manche Menschen ist er eine sie.
Anfang Mai findet im Schöneberger Rathaus nun das Zweite Europäische Transgender Council (TGEU) statt. Dort treffen sich fast 200 AktivistInnen aus 36 Ländern. 

Der europäische Rahmen, auf den es ursprünglich ausgerichtet war, ist gesprengt. Transgender-Menschen aus Südamerika, aus Japan, aus Aserbaidschan haben sich auch angemeldet. Ihr oberstes Anliegen ist die Verbesserung ihrer Lebenssituation. Denn neben der staatlichen Missachtung, die sie in den meisten Ländern erfahren, auch in der EU, sind sie mancherorts zusätzlich massiver Verfolgung oder Gewalt ausgesetzt, sagt Balzer. In einer Studie aus Großbritannien sprechen 73 Prozent der befragten 800 transidentischen Menschen von alltäglicher Diskriminierung am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit, im Gesundheitssystem. In einigen Ländern wird gar schon das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts sanktioniert, wie etwa in der Türkei.

Gewalt kann jedoch auch anders aussehen. In Deutschland muss, wer seinen Personenstand, also sein Geschlecht im Pass, geändert haben will, Unfruchtbarkeit nachweisen. In Österreich und der Schweiz muss jemand, der seinen Vornamen in einen Vornamen des anderen Geschlechts ändern will, sogar sämtliche geschlechtsangleichenden Operationen hinter sich haben. Die Erlaubnis dazu muss man sich vom Psychologen holen. Er diagnostiziert eine Geschlechtsidentitätsstörung. "Und selbst, wenn Sie die OPs wollen, was machen Sie in der Zwischenzeit?", fragt Ghattas. "Auf welches öffentliche Klo gehen Sie? Zu welchem Arzt? Wie kommen Sie ins Ausland, wenn Ihr Pass Unvereinbarkeiten zwischen Aussehen und Eintrag vorweist?" Immer, wenn Ausweise gezeigt werden müssen, gebe es Probleme. "Und was macht man, wenn man sich gar nicht operieren lassen will?"

Die Aktivisten der Transgender Organisationen fordern deshalb auf der Konferenz das Recht auf freie Vornamenswahl sowie das Recht auf Änderung des Personenstands ohne medizinische Vorbedingungen. Ebenso zentral ist die Forderung, dass die Antidiskriminierungsgesetze auch für transgeschlechtliche Menschen gelten müssen.

"Geschlechterrollen sind gesellschaftlich hergestellt", sagt Ghattas. Eine Gesellschaft aber, die sich von diesem Paradigma befreit, gewinne an Offenheit. "Bipolares Denken in Gut und Böse in Schwarz und Weiß hat selten jemanden weitergebracht."


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