Samstag, 29. August 2015

There is no other job than the grain // Es gibt keinen anderen Job als den Strich


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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2015
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Es gibt keinen anderen Job als den Strich
Menschenrechte In der Türkei werden Transsexuelle unter dem Vorwurf des Exhibitionismus von der Polizei aufgegriffen und verklagt. Manche werden misshandelt
Hülya ist eine Transsexuelle oder "Travestie", wie sie sich selbst bezeichnet. Sie ist 34 und lebt seit zwölf Jahren in Istanbul. Als Transsexuelle findet sie keine andere Arbeit außer in der Prostitution. Im Juni 2003 wird Hülya von Polizisten auf der Straße aufgegriffen und für mehrere Stunden zu einer Baustelle gebracht, die die Polizisten offenbar vorab als Ort ausgewählt haben. Sie reißen ihr die Haare aus, brechen ihr die Finger, treten ihr in den Leib. Sie schlagen auf ihr Gesicht ein, bis es blutüberströmt ist und vergewaltigen sie. Man lässt sie liegen, im Glauben sie sei tot.
Ein halbes Jahr nach diesen Ereignissen begegnen wir Hülya zum ersten Mal im Büro ihrer Rechtsanwältin in Istanbul. Für einen Dokumentarfilm suchen wir Kontakt zu Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften gefoltert wurden. Über ein Jahr lang sehen wir uns viele Male zu Gesprächen mit und ohne Kamera.
Hülya ist an der Schwarzmeerküste aufgewachsen als ein mittleres von 10 Kindern. Die Eltern sind streng religiös. Mit 13 geht der damalige Junge mit dem Namen Sherif weg von zuhause. Nach Istanbul zur älteren Schwester, wohnt bei ihr, jobbt in den Kneipen. Mit 15 kann er in Antalya an der touristischen Mittelmeerküste beim älteren Bruder in einem Restaurant arbeiten, er lernt die ersten Worte Deutsch: Was wünschen Sie? Darf es noch etwas sein?
Das Restaurant geht Pleite. Sherif ist mittlerweile 17 und zum ersten Mal sehr verliebt. Das bleibt für ihn bis heute die größte Liebe. Doch bald zieht der vier Jahre ältere Camil nach Izmir, um zu heiraten. Ein Wiedersehen ist nicht möglich.
Sherif geht zurück nach Istanbul und nennt sich jetzt Hülya. Sie nimmt Hormone, bekommt runde Formen. Den Kontakt zur Familie bricht sie ganz ab. Sie sagt, sie könne die Familie nie wieder sehen, weil die sie eher umbringen würde als irgendwas zu verstehen, vor allem der älteste Bruder. Vermisst sie die Familie?
Es beginnt ein neues Leben in Istanbul. Sie lebt in Wohngemeinschaften mit mehreren Transsexuellen. Sie lernt Bauchtanz und verdient ihr Geld in den Nachtclubs. Als das nicht mehr geht, arbeitet sie als Hure. Damals auch schon auf der Straße, ohne Schutz? "Nein, damals hatten wir Transvestierten gleich einen ganzen Straßenzug, nur für uns, wo wir zusammen wohnten und arbeiteten. Bis die Polizei alle Häuser geräumt hat. Jetzt gibt es keine Zuflucht mehr." Heute lebt Hülya in einem billigen Hotel in Taksim, im europäischen Teil Istanbuls. Allein.
Sie ist sehr gutaussehend mit ihren langen blondgefärbten Haaren, streng nach hinten gebunden. Bist du Russin? wird sie oft gefragt wegen ihrer breiten Backenknochen und ist dann ganz stolz. Wenn sie geschminkt ist und hergerichtet, sei sie "beautiful", erklärt sie uns. Man würde nicht mehr sehen, dass sie ein Junge war.
Das Geld für eine Operation hatte sie bisher nicht. Hätte sie es gemacht, wenn das Geld vorhanden wäre? "May be, cut it", sagt sie mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland und macht mit der Handkante eine scharfe, schnelle Bewegung auf Hüfthöhe.
Nachts laufen wir zusammen mit Hülya über eine Hauptstraße, nahe dem Viertel, wo das fortschrittliche, emanzipierte Leben spielt, die netten Lokale sich befinden, der Menschenrechtsverein, dem Viertel, wo wenige Wochen später die Anschläge auf die britische Botschaft und die jüdische Synagoge stattfinden werden. Jenseits dieser Straße ist eine andere Welt. Die Gosse, das Areal der Underdogs. Die Beleuchtung ist spärlich. Es riecht nach Urin. "Dangerous people, attention", warnt Hülya immer wieder eindringlich. Eigentlich müssten wir verschreckt sein. Taschen und Rucksack fest im Griff fühlen wir aber eher Nähe als Furcht. Sie, die Ortskundige, wird uns schützen. Tänzelt auf ihren Absatzsandalen über das unebene Pflaster und grüßt hin und wieder einige gutaussehende Damen, die am Rande stehen und mit tiefen, dunklen Stimmen antworten. Kolleginnen, Transsexuelle. Sie arbeiten gerade. Auch hier ist Strich. Auf der Suche nach einem Treffpunkt von Transsexuellen schlängeln wir uns vorbei an stinkenden Pfützen, hinein in einen Hauseingang mit enger Wendeltreppe, viele Stockwerke hoch und wieder runter: Es war der falsche Aufgang. Beim nächsten Mal klappt es. Im 4. Stock breitet sich geradezu eine Filmszene vor uns aus: Auf 20 Quadratmetern drängeln sich rund 15 Menschen, viele Haare, Wimpern, Perücken, Pedi-, Maniküre. Ein Friseursalon.
Wir sitzen eine Weile auf den Wartestühlen. Hülya dreht eine Begrüßungsrunde, kommt zurück und erklärt uns mit wenigem Englisch die einzelnen Leute. Viel müssen wir nicht verstehen. Es lässt sich selbst sehen mit den vorhandenen Klischees im Kopf als erste Wahrnehmungsmuster: das dickliche Besitzerehepaar im Hintergrund an der Kasse, die Karikatur eines gealterten, kontaktsuchenden Schwulen mit Morbus Bechterew, der gertenschlanke, glatte Transvestitenstar kurz vor Vollendung des po-langen, hellblonden Haararrangements. Der Friseurlehrling bearbeitet mit nicht enden wollenden Bürstenstrichen einen fast haarlosen, fleischfarbenen Musterkopf. Auf einmal fallen uns in einigen Gesichtern strichförmige, genähte Narben auf - zwischen abrasierten Augenbrauen und darüber dick gezogenem Brauenstrich. Weiße Striche an den Lippen, an den Wangen. Ich denke an Berichte über Opfer billiger Schönheitsoperationen. Aber später erfahren wir, dass die Narben alle von Messer-Verletzungen herrühren durch Freier und Polizei.
Wir sitzen da und hoffen, uns nicht wie Voyeurinnen oder Soziologinnen zu verhalten. Scherze und Wortgeplänkel mit Hülya. Immer, wenn die Sprachbarriere unüberwindlich scheint, der Gesprächsfluss ganz zu stocken droht, wir uns nur noch mit weiten Augen ansehen, sagen Hülya und wir schnell und kurz: "Trans-later" (gemeint: Das klären wir nicht jetzt, sondern später, mit der Übersetzerin), bis die gemeinsam entwickelte Brücke zum running gag wird.
Hülya sagt, sie habe Angst durch die Straßen zu gehen, auch bei Tag. Die Leute schauen sie blöd an, machen sie blöd an. Seit dem erlittenen Angriff ist es für sie unerträglich. Sie will weg. Unbedingt. Und so schnell wie möglich.
Weg von weiteren polizeilichen Übergriffen. Weg von den türkischen Männern. Selbst ihr Istanbuler Ex-Lebensgefährte hat sie geschlagen. "Am Ende bekommen die Männer (Freier) stets so eine Aggression, dass ich keine echte Frau bin. Obwohl ich das immer von Anfang an klar anspreche."
Seit sie zwölf ist, hat sie den Wunsch nach einem starken Mann, an den sie sich anlehnen kann, der ihr Schutz gibt und zärtlich ist. "Hast du es schon einmal erlebt?" fragt unsere Übersetzerin spontan nach. - "Nein".
Wir sind in einer Kellerkneipe mit hard core Musik. Das Bier kostet hier nur wenig. Hülya ist unermüdlich im Erforschen der günstigsten Preise. Es ist reizvoll zuzusehen, wie sie sich durchfragt, mit ihren Händen Drehbewegungen macht und charmant einen schönen Abend wünscht, wenn sie die Begegnung beendet. Eigentlich sind die befragten Männer immer freundlich zu ihr. Nur im Vorübergehen auf der Straße, in der Fußgängerzone bemerken wir auch abfällige Verhaltensweisen. Umdrehen, Starren, Zischeln. Worte, die wir nicht verstehen, aber die Gesichter dazu machen Nachfragen überflüssig. Seit ihr die Misshandlung widerfahren ist, kann Hülya nicht mehr arbeiten, aus Angst vor neuer Gewalt. Aber sie hat keine Wahl. Abgesehen von ihrer Gage für eine kleine Rolle in einem Spielfilm an der Seite von Bürol Ünel gibt es für sie keinen anderen Job als den Strich.
Seit einem Jahr versucht Hülya zusammen mit ihrer Rechtsanwältin Eren Keskin ein Visum für eine Einreise nach Deutschland zu bekommen. Im Normalfall dauert das zwei Wochen, längstens zwei Monate. Aber die Vorgaben des wachsenden und sich festigenden Europa scheinen ihr eine legale Lösung zu verwehren, ohne Nachweis von ökonomisch abgesicherten Verhältnissen bleibt die Türe zu. Hülya empfindet ihre Lage aussichtslos. "Wenn ich hier bleibe, krepiere ich."
Anfang November 2004 sehen wir uns das letzte Mal. Hülya ist kämpferisch. Wir begleiten sie zum Gericht, wo sie gegen eine hohe Geldstrafe wegen "Exhibitionismus" klagt. Es ist das erste exemplarische Verfahren einer Kampagne gegen das zunehmend massive Vorgehen des Staates: Transsexuelle auf der Straße aufzugreifen und mit dem Vorwurf des Exhibitionismus, des Verstoßes gegen die Kleiderordnung beträchtliche Geldstrafen zu verhängen, die bezwecken, die Transsexuellen von den Straßen und aus der Stadt zu vertreiben. Unterstützt wird Hülya dabei von Lambda, dem Verein von Schwulen und Lesben in Istanbul und ihrer Rechtsanwältin. Ihre Argumentation vor Gericht ist politisch: "Es geht hier nicht um Exhibitionismus, sondern um Vorurteile und die Diskriminierung eines Menschen mit queerer Identität. Und dies verstößt gegen internationale Kontrakte, die die Türkei unterzeichnet hat." Der Richter vertagt die Verhandlung.
Wenige Wochen später wird Hülya auf der Bagdadstraße in Kadiköy, auf der asiatischen Seite Istanbuls von vier Polizisten mit Pfeffergas besprüht und zusammengeschlagen. Die Arme gebrochen. Der Körper, übersät mit Blutergüssen.
Im Ümraniye-Gefängnis, auf der asiatischen Seite, sitzt sie mit zwei eingegipsten Armen seither. Einzelhaft, das ist üblich bei Transsexuellen. Die Anklage lautet Widerstand gegen die Staatsgewalt. Falls es ein Urteil bis zum April gäbe, könnte das eine Geldstrafe oder auch sechs Monate Gefängnis bedeuten. Wird nach dem 1. April entschieden, mag das Urteil milder ausfallen, da die neue Rechtssprechung liberaler ist, vermutet ihre Anwältin Eren Keskin und berichtet: "Ihr psychischer Zustand ist erstaunlich gut. Sie hat nichts unterschrieben und ist stolz darauf, sich nichts gefallen zu lassen".
Hülya hat Strafanzeige gestellt wegen Menschenrechtsverletzung durch Folter und Diskriminierung durch verbale sexuelle Angriffe. Mehrere Haftprüfungstermine blieben bisher erfolglos. Der letzte Termin am 31. 12. 2004 blieb ungenutzt, weil die Gefängnisleitung es angeblich vergessen hatte, Hülya zum Gericht zu bringen. Es wäre so viel zu tun gewesen an diesem Tag.


Luxuria: Vom Strich ins Parlament
Vom Tellerwäsche zum Millionär auf Italienisch: Die Transsexuelle Vladimir Luxuria aus dem armen Süden zieht ins neue Parlament.
Gegen sie wirkt selbst Deutschlands Vorzeigetranse Olivia Jones blass: Vladimir Luxuria hat heute als erste "übergeschlechtliche Person" (Luxuria über Luxuria) den Einzug ins italienische Parlament geschafft. Sie ist Spitzenkandidatin der kommunistischen Wahlliste in der Hauptstadt Rom. Die Rifondazione Communista will allerdings - anders als die Linkspartei.PDS im Bund - keine Fundamentalopposition sein: Sie ist Teil des Mitte-Links-Bündnisses unter Führung von Romano Prodi. Nach ersten Hochrechnungen erhält Luxurias Partei fünf bis sieben Prozent der Stimmen - und wird wahrscheinlich einiges zum Machtwechsel beitragen. Denn Prodis Bündnis liegt knapp vor Berlusconi.

Luxuria ist inzwischen eine Ikone der Schwulenbewegung in Italien. Sie bezeichnet sich selbst als weder Frau noch Mann - nur als "eine Person auf der Suche nach einem Ehemann". 1994 hat sie den ersten CSD in Rom organisiert und sich lautstark für die Gleichstellung von Schwulen, Lesben und Transsexuellen eingesetzt. Ihr Leben begann aber unscheinbar in der Region Apulien im armen Südostitalien. 1965 als Vladimiro Guagagno geboren, fühlte sie sich bereits als Jugendlicher in ihrem (seinem) Körper nicht ganz wohl. Außerdem war sie sowohl zu Männern und zu Frauen hingezogen - ein kaum lösbarer Konflikt in der tiefkatholischen Provinz. Also entschied sie sich, den traditionellen Weg zu gehen - den ins Kloster. Allerdings hielt sie das nicht lange durch. Als 20-Jährige brach sie mit der Vergangenheit, ging in den Sündenpfuhl Rom und tobte sich dort aus. Sie nahm Hormone und illegale Drogen und machte sich als Drag-Queen in Schwulenclubs einen Namen. Geld verdiente sie unter anderem als Prostituierte. Untätig war sie während dieser Sturm- und Drangphase nicht: Sie studierte Literaturwissenschaften und schaffte ihr Diplom. Als Aktivistin für Homo-Rechte erlangte sie bald einen hohen Bekanntheitsgrad.

In die Politik schaffte sie den Seiteneinstieg, weil sie - und das unterscheidet sie von Olivia Jones - wirklich ein Programm hat. Auch darum hat ihr Parteichef Fausto Bertinotti den ersten Listenplatz in Rom geschenkt. "Ich will bei der Schaffung einer multiethnischen, multireligiösen und multisexuellen Gesellschaft mithelfen, und die Vielfalt als Wert und Möglichkeit, nicht als Bedrohung durchsetzen", so umschreibt sie ihre Agenda. Neben sozialen Themen und der Legalisierung von Drogen stehen vor allem Homo-Rechte auf dem Plan. Kommt es wirklich zum Regierungswechsel, hat sie gute Chance, viele ihrer Vorhaben auch umzusetzen. Immerhin hat der Mitte-Links-Chef Romano Prodi bereits im Wahlkampf angekündigt, Eingetragene Partnerschaften einführen zu wollen.

"Manche fühlen sich angepisst, weil ich als erste transsexuelle Kandidatin ins Parlament kommen werde", so Luxuria zu Reportern. "Ich sage, dass das Parlament dann ein Ort sein wird, der alle Formen der Gesellschaft repräsentiert - sogar Transsexuelle." Im Wahlkampf musste sich Luxuria - die dort stets betont dezent auftrat - so einiges anhören: So sagte ihr die faschistische Europaabgeordnete Alessandra Mussolini in einer TV-Show: "Es ist besser, Faschist zu sein, als eine Schwuchtel" (queer.de berichtete). "Ich habe ihr nur geantwortet, sie sei ungehobelt", so Luxuria. "Eine moderate Sprache empfinde ich als politische Tugend". Mussolinis Partei erreichte ersten Hochrechnungen zufolge gerade einmal einen Prozent.

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