Donnerstag, 16. März 2023

Homophobie und Nationalismus – Zwei Seiten einer Medaille?


 Homophobie und Nationalismus – Zwei Seiten einer Medaille?

Sexuelle Minderheiten sollten die gleichen Rechte haben wie Heterosexuelle – das finden 88 Prozent der Deutschen. In anderen europäischen Ländern ist die Akzeptanz oft geringer. Offenbar versuchen gerade nationalistisch und populistisch geprägte Regierungen, Ressentiments innenpolitisch zu nutzen.

The Man I love“ von Kate Bush – dieses Lied ist Gabor von dem Tag, an dem er den Bund des Lebens schloss, in Erinnerung geblieben. 2011 war das, im britischen Oxford. Weil Gabor Ungar ist, feierten sie mit Gulasch und ungarischen Süßigkeiten, später gab es für ihn und seinen Mann ein Feuerwerk.

„Das war einer der frohesten Tage meines Lebens. Danach oder an dem Tag von meiner – sozusagen – Heirat habe ich mich auch auf meinem Arbeitsplatz geoutet. Irgendwie bin ich also mit meinem Schwulsein klargekommen.“

Als Gabor und sein Mann 2019 zurück nach Ungarn ziehen, wollen sie sich auch dort nicht verstecken. In der Nachbarschaft stellen sie sofort klar, dass sie ein Paar sind. Im fortschrittlichen Budapest kein Problem, sagt Gabor – das wirkliche Problem sei die ungarische Regierung. Die Fidesz-Partei unter Viktor Orban hetzt gegen Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transmenschen, kurz LGBT.

„Schwul ist minderwertig. Wenn du schwul bist, dann sei froh, dass du in Partnerschaft leben kannst, dass du arbeiten kannst, dass niemand dich prügelt. Aber üb das nicht aus, bleib zu Hause. Und dann, unter vier Wänden, kannst du machen, was du willst.“

Ungarn war einst Vorreiter bei Liberalisierung

Dabei war Ungarn zu Zeiten des Ostblocks noch eines der liberaleren Länder in Osteuropa. 1961 wurde Homosexualität unter Erwachsenen dort entkriminalisiert. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 habe es in Budapest eine regelrechte Schwulenszene gegeben, sagt Franz Schindler, Doktor für Slawische Philologie an der Universität Gießen:

„Das, was für uns im Westen damals Amsterdam war, also eine schwule Metropole, war sicherlich für viele Schwule im ehemaligen Ostblock – in anderem Umfang natürlich – Budapest.“

Nach Liberalisierungen in den 90er-Jahren geht es inzwischen in die Gegenrichtung: Im vergangenen Jahr verabschiedete die Orban-Regierung ein Gesetz, dass die mediale Darstellung von Homo- und Transsexualität gegenüber Minderjährigen verbietet. Mit Ideologie habe das wenig zu tun, sagt Richard Mole, Professor für politische Soziologie am University College in London:

„Viktor Orban ist seit 2010 Premierminister. Wenn er von dem Wunsch getrieben wurde, ungarische Kinder vor Homosexualität zu schützen, warum bis jetzt warten? Meiner Meinung nach ist der Grund dafür, dass seine Popularität letztes Jahr wegen seines Managements der Covid-Pandemie gesunken ist. Deswegen hat er einen Sündenbock gesucht, um von seinen Problemen abzulenken.“

Inzenierte Rolle als „Verteidiger der Tradition“

Orban kopiert damit eine Strategie von Wladimir Putin. Auch Putin fiel nach Amtsantritt nicht als homophob auf. Ende 2011 kam es in Russland nach Wahlfälschungen zu ersten großen Protesten. Kurz danach verabschiedete Putin ein Gesetz gegen so genannte „Homo-Propaganda“. Franz Schindler:

„Bei beiden ist es ganz klar so, dass man ausnutzt, dass es einfach homophobe Ressentiments in der Gesellschaft gibt, dass man die Leute damit aktivieren kann, dass man auch eine Gruppe angreift, die auch sehr klein ist, die öffentlich in der Regel nicht zu sehen ist – leichte Opfer.“

Orban inszeniert sich dabei auch als Verteidiger der ungarischen Tradition. Aber warum küren nationalistische Populisten wie er ausgerechnet Homosexuelle zum Feindbild?

Richard Mole hat untersucht, welchen Zusammenhang es zwischen Nationalismus und Homophobie gibt. Er unterscheidet dabei zwei Formen von Nationalismus: Die eine beschreibt eine Nation, deren Mitglieder stolz auf ihr Land sind, Minderheiten dabei einschließen und international kooperieren. Mole hingegen konzentriert sich auf eine zweite Form des Nationalismus: den Gruppennarzissmus. Er beschreibt den Glauben einer Nation, besonders privilegiert zu sein. Homosexualität wird in diesem Weltbild zu einer Bedrohung.

Plakative Abgrenzung gegen „fremde Einflüsse“

Mole nennt vier Punkte, die Populisten dabei anführen: Erstens trügen sexuelle Minderheiten nichts zur biologischen Reproduktion eines Volkes bei. Zweitens gäben sie Sprache und Kultur nicht weiter, weil sie keine Nachkommen hätten. Drittens widersprächen sie Geschlechterstereotypen, denen zufolge Männer beispielsweise die Heimat verteidigen. Viertens brächen sie mit nationalen Normen – zum Beispiel in Polen, wo die Lehre der katholischen Kirche eine zentrale Rolle spielt. Hinzu kommt ein weiteres Argument, erklärt Richard Mole:

„Da LGBT-Personen in westlichen Städten öfter sichtbarer sind, ist es für Populisten wie Orban und Kaczynski und Putin leicht zu argumentieren, dass Homosexualität spezifisch westlich ist. Und deswegen ist es legitim, Gesetze gegen diese sogenannte fremde Ideologie zu erlassen.“

Diese Darstellung sei nicht nur in Osteuropa, sondern weltweit zu finden, sagt der Hamburger Aktivist Wanja Kilber:

„Wir kennen das von allen homophoben Politikern, die sagen, Homosexualität ist nicht afrikanisch, Homosexualität ist nicht ungarisch, es kommt aus dem Westen, aus dem Osten, sonst noch wo her. Wir kennen auch die Bezeichnungen für die Homosexualität aus den Jahrhunderten zuvor: In Georgien war es die armenische Sünde, in Armenien war es die georgische Sünde. In Deutschland war es die französische Sünde und so weiter.“

Gewalt gegen Homo- und Transsexuelle nimmt zu

Wanja Kilber, der aus Kasachstan stammt, unterstützt mit seinem Verein Quarteera russischsprachige LGBT in Deutschland und besucht seit Jahren die homo- und transsexuelle Community in St. Petersburg. Das russische Propaganda-Gesetz werde zwar selten angewendet, trotzdem habe es dazu geführt, dass die Gewalt gegen Homo- und Transsexuelle zugenommen habe:

„Wenn der Staat regelmäßig die Augen zudrückt, kommt es früher oder später zu Folterungen und Ermordungen. Gegipfelt hat das natürlich in Tschetschenien. Wir kennen mittlerweile 170 Fälle, wo Menschen gefoltert und teilweise auch getötet worden sind. Das ist quasi die neue Art des Totalitarismus: Von Demokratie reden und sich die Hände selbst nicht dreckig machen, sondern diese Gewaltenteilung zu verlagern.“

So dramatisch ist die Situation in Ungarn nicht – gerade erst scheiterte eine Volksabstimmung zu Orbans Propaganda-Gesetz. Trotzdem fühlt Gabor sich immer weniger willkommen. Seit März arbeitet der IT-Experte nicht mehr in Budapest, sondern pendelt nach Wien.

„Ich habe es aufgegeben eigentlich, in Ungarn zu leben – wenn das so weitergeht. In Ungarn ist es so, dass die Mehrheit sagt, wie die Minderheiten sich benehmen sollen. Und meiner Meinung nach in einem demokratischen System sollten auch die Werte von Minderheiten geschützt werden – nicht immer, was die Mehrheit will.“

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