Diskriminierung und Intoleranz
Die im Mai veröffentlichten offiziellen Statistiken zeigen einen deutlichen Anstieg der politisch motivierten Straftaten von 44.692 im Jahr 2020 auf 55.048 im Jahr 2021. Die politisch motivierte Gewalt nahm um fast 16 Prozent zu. Das Innenministerium verzeichnete im ersten Halbjahr 2022 9.167 rechtsmotivierte Straftaten, darunter 418 Gewalttaten. Antisemitisch motivierte Straftaten nahmen von 2020 auf 2021 um rund 29 Prozent zu; das Bundeskriminalamt (BKA) registrierte im ersten Halbjahr 2022 965 antisemitische Straftaten.
Im April warnte der Verfassungsschutz vor der Ausbreitung antisemitischen Gedankenguts im Diskurs des politischen Mainstreams. Im Juli fällten Vandalen Bäume an der Gedenkstätte für die Opfer des Konzentrationslagers Buchenwald. Bundeskanzler Olaf Scholz wurde scharf kritisiert, weil er eine Erklärung des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas nicht sofort verurteilt hatte. Abbas hatte Aktionen Israels mit dem Holocaust gleichgesetzt.
Laut einer Studie vom Mediendienst Integration, einer Online-Informationsplattform für Journalist*innen, unternimmt die Polizei zu wenig, um Rassismus und Antisemitismus in ihren eigenen Reihen vorzubeugen. Nur in fünf von 16 Bundesländern wird das Thema Rassismus und Antisemitismus bei der Polizei in entsprechenden Schulungen behandelt. Nur in sieben Bundesländern gibt es unabhängige Stellen, die entsprechende Beschwerden gegen die Polizei bearbeiten.
Am 8. August schoss die Polizei in Dortmund sechs Mal auf einen 16-jährigen unbegleiteten Asylsuchenden aus dem Senegal, weil er mutmaßlich ein Messer bei sich hatte. Medienberichten zufolge hatte er bereits mehrere psychische Krisenerfahrungen. Bei Redaktionsschluss liefen die Ermittlungen zu dem Vorfall noch.
Im August teilte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit, dass sie im Jahr 2021 mehr als 5.600 Beratungsanfragen erhalten hat, von denen sich 37 Prozent auf rassistische Diskriminierung und 32 Prozent auf Diskriminierung aufgrund einer Behinderung bezogen.
Im Mai trat der erste Beauftragte der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland sein Amt an.
Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar meldete das BKA bis Mitte April mehr als 1.700 Straftaten „im Zusammenhang mit dem Krieg“. Die Straftaten, darunter Beleidigungen, Bedrohungen, körperliche Angriffe und Sachbeschädigungen, richteten sich gegen Russ*innen, Ukrainer*innen und Weißruss*innen.
Im März erlaubte ein Kölner Gericht dem Verfassungsschutz, die AfD formell auf verfassungsfeindliche Tendenzen zu überwachen.
Im April erhob die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main Anklage gegen fünf Polizeibeamt*innen, die zwischen 2014 und 2018 rassistische, antisemitische und rechtsextreme Inhalte in Chatgruppen geteilt hatten. In einem anderen Fall ordnete der Frankfurter Polizeipräsident ein Disziplinarverfahren gegen fünf Polizeibeamte im Zusammenhang mit dem Teilen von Nazi-Symbolen in Chatrooms an. Im Juli wurde gegen acht Polizeibeamte in Münster wegen rechtsextremer, sexistischer und gewaltverherrlichender Inhalte in Chaträumen ermittelt.
Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und das Deutsche Institut für Menschenrechte veröffentlichten im Mai Empfehlungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen, nachdem es wiederholt zu Gewalttaten gekommen war. Diese Empfehlungen beinhalten auch Änderungen des gesetzlichen Rahmens zum Gewaltschutz.
Internationale Justiz
Im Januar verurteilte ein Koblenzer Gericht einen ehemaligen syrischen Geheimdienstoffizier zu lebenslanger Haft, weil er die Folter, Ermordung und Vergewaltigung von Gefangenen in einem syrischen Gefängnis beaufsichtigt hatte. Im selben Monat begannen die Richter*innen in Frankfurt mit der Beweisaufnahme in einem Prozess, in dem es um Vorwürfe der Folter und Ermordung durch staatliche Agenten während des bewaffneten Konflikts in Syrien ging. Der Angeklagte soll als Arzt in zwei Militärkrankenhäusern in den Städten Damaskus und Homs in Syrien gearbeitet haben.
Im April begann in Celle der Prozess gegen einen gambischen Staatsbürger wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil er mutmaßlich an der vom ehemaligen gambischen Präsidenten Yahya Jammeh gegründeten „Todesschwadron“ beteiligt war.
Diese Prozesse sind möglich, weil die deutschen Gesetze die universelle Gerichtsbarkeit für bestimmte schwere Verbrechen nach internationalem Recht anerkennen.
Ein Landgericht in Neuruppin verurteilte im Juli einen 101-jährigen Mann, der während des Zweiten Weltkriegs als KZ-Wachmann gearbeitet hatte, wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen zu fünf Jahren Gefängnis. Der Mann wird aufgrund seines Alters seine Haftstrafe wahrscheinlich nicht antreten.
Im Juli gab Deutschland Artefakte zurück, die es während seiner Kolonialzeit in Tansania, Kamerun und Namibia geraubt hatte. Deutschland unterzeichnete auch ein Abkommen mit Nigeria über die Rückgabe von geraubten Benin-Bronzen.
Im März eröffnete die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ein Ermittlungsverfahren wegen möglicher Kriegsverbrechen in der Ukraine.
Wirtschaft und Menschenrechte
Im April befürwortete der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes die Idee eines Entschädigungsfonds für die Familien von Arbeitsmigranten, die beim Bau und bei der Wartung der Infrastruktur für die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar ums Leben gekommen sind.
Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle hat seine Rolle als Aufsichtsbehörde für das Lieferkettengesetz 2021, das 2023 in Kraft treten wird, ausgebaut, wenn auch zu langsam.
Migrant*innen und Asylsuchende
In den ersten neun Monaten des Jahres 2022 beantragten 134.908 Menschen in Deutschland Asyl, was einem Anstieg von 34,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht. Die meisten Antragstellenden kamen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Bis Ende August waren 101.380 Anträge anhängig.
Der Europäische Gerichtshof entschied im August, dass Deutschland die Familienzusammenführung nicht verweigern darf, nur weil ein unbegleiteter Minderjähriger im Zeitraum der Antragsbearbeitung volljährig wird.
Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine zählte das Ausländerzentralregister zwischen Februar und dem 10. Oktober mehr als eine Million Geflüchtete aus der Ukraine, die nach Deutschland kamen, davon über ein Drittel Minderjährige. Während Ukrainer*innen im Rahmen der deutschen Umsetzung der EU-Richtlinie über vorübergehenden Aufenthalt eine zweijährige Aufenthaltserlaubnis beantragen können, die es ihnen ermöglicht, zu arbeiten, zu studieren und Sozialleistungen zu erhalten, waren Tausende von Drittstaatsangehörigen, die aus der Ukraine geflohen waren, nicht antragsberechtigt.
Nach Angaben des Innenministeriums haben im April 222 Menschen aus Russland in Deutschland Asyl beantragt. Im Mai kündigte Deutschland niedrigschwelligere und beschleunigte Visaverfahren für russische Menschenrechtsaktivist*innen, Mitarbeitende von Nichtregierungsorganisationen (NGO) und zivilgesellschaftlichen Gruppen an.
Das Innenministerium kündigte im Juni Pläne an, Ausländer*innen, die seit mindestens fünf Jahren mit dem Status „Duldung“ in Deutschland leben, die Möglichkeit eines langfristigen rechtmäßigen Aufenthalts zu geben. Hiervon könnten schätzungsweise 105.000 Menschen profitieren.
Im August berichtete die Regierung, dass im ersten Halbjahr 2022 29 von 43 Angriffen in oder auf Flüchtlingsunterkünfte und 349 von 424 Angriffen auf Asylsuchende und Geflüchtete rechtsextremistisch motiviert waren. Im gleichen Zeitraum gab es fünf Straftaten gegen Hilfsorganisationen und sieben Straftaten gegen Ehrenamtliche, fast alle mit rechtsextremistischem Hintergrund. Im August wurde ein Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Leipzig verübt.
Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung
Im Juni legten das Justizministerium und das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Eckpunkte für ein neues Selbstbestimmungsgesetz vor, das Transgender-, Intersex- und nicht-binären Menschen ermöglicht, ihren Namen und ihr Geschlecht in amtlichen Dokumenten zu ändern, um ihre Geschlechtsidentität in einem einfachen Verwaltungsverfahren und ohne „Expertengutachten“ anerkennen zu lassen. Bei Redaktionsschluss lag dem Bundestag noch kein Gesetzentwurf vor.
Im August griff ein Mann einen 25-jährigen Transmann bei einer Pride-Parade in Münster brutal an. Dieser erlag eine Woche später seinen Verletzungen. Der mutmaßliche Angreifer befand sich bei Redaktionsschluss noch in Gewahrsam.
Im September erlitt eine 57-jährige Transfrau schwere Verletzungen, nachdem sie in einer Bremer Straßenbahn von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen worden war. Bei Redaktionsschluss wurde der Angriff als Hassverbrechen strafrechtlich untersucht.
Im September wurde ein 16-jähriger Junge in Berlin wegen verbaler Belästigung und versuchter Körperverletzung festgenommen, nachdem er eine 49-jährige Transfrau, die in einem Friseursalon arbeitete, angegriffen haben soll. Der Verdächtige wurde aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Bei Redaktionsschluss dauerten die Untersuchungen in dem Fall noch an.
Meinungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit
Im Mai verbot die Berliner Polizei mehrere Demonstrationen zum Nakba-Tag unter Hinweis auf die „unmittelbare Gefahr“ von „volksverhetzenden, antisemitischen Äußerungen“ und ging gewaltsam gegen Personen vor, die trotz des Verbots protestierten. Die Organisatoren hatten gegen das Verbot Widerspruch eingelegt, jedoch wurde das Verbot sowohl von einem Berliner Verwaltungsgericht als auch von einem Bundesberufungsgericht bestätigt.
Frauenrechte
Im Juni änderte der Bundestag das Strafgesetzbuch, um das sog. „Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche“ aufzuheben, so dass Ärzt*innen ihre Patient*innen nun legal über den Eingriff informieren können, ohne sich strafbar zu machen.
Im August hat der Berliner Senat Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen beschlossen, darunter den Ausbau von Unterstützungs- und Schutzdiensten, die Verbesserung der Ausbildung verschiedener Berufsgruppen und die Verbesserung der Zusammenarbeit verschiedener Institutionen. Der Senat entwickelt außerdem einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Die Femizidrate in Deutschland ist eine der höchsten in Europa.
Terrorismus und Terrorismusbekämpfung
Im März führte die Regierung 37 weitere Staatsangehörige – 27 Kinder und 10 Frauen - aus dem Nordosten Syriens zurück, wo sie unter katastrophalen Bedingungen in abgeriegelten Lagern für Verdächtige des sog. Islamischen Staates (IS) und deren Familienangehörige festgehalten wurden. Vier der Frauen wurden bei ihrer Ankunft aufgrund von Terrorismusvorwürfen verhaftet, darunter eine, die beschuldigt wurde, eine jesidische Frau versklavt zu haben. Im Oktober führte die Regierung weitere vier Frauen, sieben Kinder und einen 20-jährigen Mann zurück und erklärte, dass fast alle deutschen Staatsangehörigen in den Lagern, die nach Deutschland zurückkehren wollten, zurückgeführt worden seien. Die betroffenen Kinder erhielten u.a. psychosoziale Unterstützung und wurden, wenn möglich, in die Obhut von Familienmitgliedern gegeben.
Wirtschaftliche Gerechtigkeit
Offizielle Daten, die im August veröffentlicht wurden, ergaben, dass 15,8 Prozent der deutschen Bevölkerung, d.h. etwa 13 Millionen Menschen, im Jahr 2021 von Armut bedroht waren. Alleinerziehende und ältere Frauen waren stärker gefährdet als der Durchschnitt. Seitdem haben Preissteigerungen und Inflation bei grundlegenden Gütern und Dienstleistungen, die für den Lebensunterhalt unerlässlich sind, Besorgnis über die Ernährungssicherheit und eine Lebenshaltungskostenkrise im Land ausgelöst.
Die Lebensmittelpreise in Deutschland sind zwischen September 2021 und September 2022 um 18,7 Prozent gestiegen. Im Juli richtete der Dachverband der knapp 1000 Tafeln in Deutschland einen dringenden Appell an die Regierung, da mehr Menschen als je zuvor die Tafeln in Anspruch nahmen.
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