Dienstag, 15. Mai 2012

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitbetroffene,
Trans-Sexualität – gibt es das überhaupt? Gibt es eine spezifische, in Triebstruktur und Verhaltensweisen von Durchschnittsmenschen unterscheidbare Sexualität bei Transsexuellen?
Der Begriff »transsexuell« wurde erst Mitte unseres Jahrhunderts geprägt. Vorher wurde unsereins in der Literatur unter dem Oberbegriff der Homosexuellen und mit diesen zusammen als sexuell pervers geführt und gebrandmarkt. Und selbst der neue Begriff »transsexuell« zeigt schon von der Wortkonstruktion her, dass auch dahinter immer noch die Vorstellung einer zumindest vorwiegend sexuellen Besonderheit stand.
Transsexuelle waren zu dieser Zeit weit mehr als heute sozial stigmatisiert. Es gab keinerlei legale Möglichkeit eines offiziellen Geschlechtsrollenwechsels; das uns heute so selbstverständlich erscheinende Transsexuellengesetz kam in Deutschland erst Jahrzehnte später. Wer noch in den 50er und 60er Jahren als Mann-zu-Frau-Transsexueller die Rolle wechseln wollte, der konnte sich zwar bereits im Ausland operieren lassen; in Deutschland blieb »ihm« aber in den meisten Fällen nichts anderes übrig, als sein Geld im Rotlicht-Milieu zu verdienen. »Er« galt amtlich und nach sämtlichen Papieren weiterhin als angeblich verkleideter Mann; die angebliche Verkleidung galt als unseriös und moralisch verwerflich, was einem solchen Menschen für sämtliche bürgerlichen Berufe – und oft genug auch schon für simple Behördengänge – die Türen verschloss.
Die Folgen für unser Bild in der Öffentlichkeit waren fatal: jahrzehntelang kam Genosse Normalbürger fast ausschließlich im Rotlicht-Milieu mit unsereinem in Berührung, was das Bild einer sexuellen Perversion in den Köpfen der Bevölkerung zementierte. Dabei war die dort gezeigte Sexualität ja gerade nicht die unsere – vorwiegend wurden und werden dort die Wünsche der sexuell angeblich normalen Kunden transsexueller Prostituierter bedient!

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Seitdem haben wir uns bemüht, unsere Sexualität aus dem Rampenlicht zu nehmen und unsere geschlechtliche Alltags-Identität in den Vordergrund zu stellen. Wir betonten den Unterschied zwischen Transsexualität und sexuell motiviertem Transvestismus; Transvestiten wiederum betonten den Unterschied zum sexuell motivierten Fetischismus. Niemand wollte mehr etwas mit Sexualität zu tun haben… Viele Jahre lang verschwiegen wir beim Gutachter peinlichst unsere sexuellen Motivationen, unsere fetischistischen und sexuell-tranvestitischen Neigungen, soweit vorhanden, um die Diagnose nur ja an das – durch solche systematische Zurückhaltung natürlich mitgeprägte – ärztlich-psychologische Bild einer Transsexualität anzupassen. Die Prüderie führte bis hin zu dem Versuch der Transidentitas in den letzten Jahren, den Begriff »transsexuell« in der öffentlichen Diskussion durch »transidentisch« zu ersetzen. Trans-»identisch« – eine Identität auf dem Weg von wo nach wohin? Nur noch »trans«, nicht mehr sexuell? Und wenn doch, dann so normal wie die Kuh auf der Weide? Was ist denn überhaupt sexuell »normal«?
Die Nachdenklicheren und Ehrlicheren unter uns haben bei diesem Versteckspiel mit unserer Sexualität schon geraume Zeit ein ungutes Gefühl. Denn die angeblich so klaren Trennstriche zwischen Transsexualität einerseits und Homosexualität, Transvestitentum, Fetischismus und Sadomasochismus andererseits existieren nicht – all das sind fließende Übergänge, in denen sich die Erscheinungsbilder verwirrend mischen. Das trans-identische Idealbild von einer im Gegengeschlecht sexuell völlig »normalen« Person stimmt einfach nicht. Soweit es eine solche Normalität überhaupt gibt, bedeutet doch schon allein unser besonderer Weg dahin einen Unterschied zum Normalen: wie könnten denn mindestens zwei Jahrzehnte Leben und Sozialisation im »falschen« Geschlecht ohne Auswirkungen auf sexuelle Wünsche und Gepflogenheiten bleiben?

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Bevor wir unsere sexuellen Besonderheiten betrachten, müssen wir uns klarmachen, was Sexualität überhaupt ist. Das ist keineswegs so klar, wie es auf den ersten Blick scheint: ist z. B. Sexualität der körperliche Akt zur Zeugung von Kindern? Ist dann der homosexuelle Akt, der ja prinzipbedingt nicht zur Zeugung führen kann, keine Sexualität? Ist Sexualität etwa mit jenen Aktivitäten gleichzusetzen, die zu einem Orgasmus führen? Hat dann eine Frau, die zwar keinen Orgasmus hat, die aber trotzdem den Verkehr mit ihrem Partner durchaus auch erotisch genießt, keinen Sex – selbst wenn dabei ein Kind entsteht? Wo fängt Sexualität an: schon beim Wunsch nach körperlicher Nähe zu einem potentiellen Partner, mitsamt allen physiologischen Folgen eines solchen Wunsches – oder erst bei der unmittelbaren Hautberührung an erogenen Zonen? Ist z. B. ein Exhibitionist oder Spanner, der den körperlichen Kontakt zu seinen unfreiwilligen Partnerinnen gar nicht erst anstrebt, deswegen asexuell? Sexualität hat viele Aspekte, von denen kein einziger den Begriff vollständig definieren kann; erst in der Summe ergibt sich das, was wir unter Sexualität verstehen.
Der am häufigsten zitierte Aspekt von Sexualität ist die Fortpflanzung – genauer: der Austausch von Erbgut bei der Fortpflanzung, denn prinzipiell (und vermutlich in nicht allzuferner Zukunft auch beim Menschen) ist Fortpflanzung ja auch ohne einen solchen Austausch möglich. Doch Vorsicht mit der volkstümlichen Schlussfolgerung, der Sex diene der Fortpflanzung! Die Evolution kennt keinen wie auch immer gearteten Zweck, sie wirkt nicht gezielt; »Sinn« und »Zweck« bestimmter Eigenschaften eines Lebewesens sind nachträgliche Interpretationen unsererseits. Im Spiel von Mutation und Auslese sind Individuen einfach zweckfrei so, wie sie sind; die Gesamtheit ihrer Lebensbedingungen entscheidet darüber, ob sie ihre Eigenschaften erfolgreich an eine Nachkommenschaft vererben oder nicht. So hat eben Sexualität ihre Bedeutung nicht nur bei der Fortpflanzung, sondern auch in vielen anderen Lebensbereichen, auf die sie einwirkt: auf den sozialen Zusammenhalt mit der Familie oder Großgruppe zum Beispiel, oder auf die Hierarchie einer Gruppe, in der die Männer um die Frauen konkurrieren. Für die Fortpflanzung einer Art genügt es, wenn ein Teil der Individuen an ihr teilnimmt; bei allen anderen kann die Sexualität durchaus sogar ausschließlich andere »Zwecke« als die Fortpflanzung haben, ohne deshalb ihren Zweck zu verfehlen. Die Evolutionslehre grenzt Sexualität keineswegs auf einen klar definierten Zweck ein, und schon gar nicht versucht sie sie auf ein vermeintlich »gesundes« Erscheinungsbild hin zu normieren, wie diesem Wissenschaftszweig oft unterstellt wird. Im Gegenteil: eine gewisse Streubreite gehört zu jeder gesunden Population, denn erst dadurch wird eine Art anpassungsfähig und fähig zur Weiterentwicklung. Wären Menschen einander so ähnlich wie die Produkte einer Serienfertigung, dann würde der Austausch der Gene beim Sex jeglichen Sinn verlieren: es gäbe dann überhaupt nichts mehr auszutauschen und neu zu kombinieren. Das gilt auch für den Bereich der Sexualität selbst. Der Begriff »normal« im Sinne von »gesund« ist ein medizinischer oder auch moralischer, aber kein evolutionstheoretischer Begriff; wer der Evolutionslehre unterstellt, Menschen unter solchen Aspekten normieren zu wollen, hat diese Theorie grundlegend falsch verstanden.
Sexualität ist einer der ältesten, elementarsten, am tiefsten in unserer »Hardware« verankerten Triebe. Es gab sie schon lange, bevor es auch nur Wirbeltiere, geschweige denn Säugetiere oder schließlich Menschen gab. Nahezu jeder Aspekt unseres Menschseins hat sich in Jahrmillionen unter der Voraussetzung einer längst vorhandenen Sexualität entwickelt und wurde von ihr beeinflusst. Unsere Augen und Ohren, unser Knochengestell, unsere Haut, unser Gehirn wären anders geformt, wenn sie nicht bereits in ihrer Entwicklung unserer Sexualität Rechnung getragen hätten und in jedem Einzelfall beim Sex wieder ihre Rolle spielen würden – so gesehen hat der Mensch eigentlich weder primäre noch sekundäre Sexualorgane, sondern einen kompletten Sexualkörper.
Andererseits ist unsere vererbte Sexualität, unser Sexual-Trieb keineswegs eine so einfache, kompakte, eng umgrenzte Eigenschaft, wie uns das Wort weismachen will. Aus vergleichenden Untersuchungen bei anderen Primaten und Säugetieren wissen wir, dass da jede Art ihre ganz spezifischen, sehr differenzierten Besonderheiten hat. Schon die vererbte Sexualität ist in Wirklichkeit ein ganzes Bündel, verschiedenster, hochkomplizierter Eigenschaften mit vielfältigen Unterschieden nicht nur von Art zu Art, sondern auch zwischen den einzelnen Individuen – Stichwort Streubreite. Beim Menschen sind all diese Ausgestaltungen durch erlernte Gehirnfunktionen überlagert und entziehen sich deshalb dem Zugriff der Wissenschaft: denn bis heute können wir keine Emotionen messen, sondern nur Verhaltensweisen – der Rückschluss daraus auf zugrundeliegende Emotionen ist schon im höher entwickelten Tierreich mit Vorsicht zu genießen, um so mehr beim Menschen, der nahezu jede äußere Verhaltensweise gewollt oder unbewusst manipulieren kann. Schon Gespräche über Emotionen sind problematisch: während wir uns über die Wortbedeutung äußerer Gegenstände jederzeit verständigen können, ist das bezüglich Emotionen nicht möglich, die sind nun mal subjektiv für jeden einzelnen Menschen. Wir verfügen deshalb nur über recht wenige Worte für emotionale Zustände, was unserem Bewusstsein wiederum unsere Triebe als weit einfacher und primitiver vorgaukelt, als sie tatsächlich sind.
Wir haben davon auszugehen, dass auch wir Menschen via Erbgut mit einer komplizierten, differenzierten, spezifisch menschlichen Struktur an Sexualtrieben ausgestattet sind, die die Grundlage unseres Sexualverhaltens bilden, nur begrenzt modifiziert durch erlernte oder aufgeprägte Verhaltensmuster. Die von einer gewissen politischen Richtung heute so vehement vertretene These, die Sexualität des Menschen sei komplett ein Erziehungsprodukt, lässt sich zwar nicht mit letzter Sicherheit widerlegen; bei Kenntnis unserer Abstammung und einiger grundlegender Erkenntnisse der Biologie erscheint sie aber als grotesk unwahrscheinlich.

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Von einer Sexualität, die den Menschen in Jahrmillionen gegen ungeheure Konkurrenz zur herrschenden Art dieses Planeten gemacht hat, kann man nicht erwarten, dass sie so lieb und brav und harmlos ist, wie sich Oswalt Kolle in den 60er Jahren den »Familiensex« vorgestellt hat. Zumindest potentiell – und oft genug auch im tatsächlichen Leben – enthält dieser Sexualtrieb auch gewalttätige, skurrile oder gar zerstörerische Impulse, unterschiedlich von Individuum zu Individuum. Oft ist es nicht leicht, manchmal gar unmöglich, solche Impulse zwecks Sozialverträglichkeit bewusst zu unterdrücken, wie die Wiederholungstaten vieler straffälliger Exhibitionisten oder Pädophilen immer wieder beweisen – oder auch unsere eigene Besonderheit, mit der nahezu jeder von uns die Erfahrung machen musste, dass man auf Dauer nur damit, nicht dagegen leben kann.
Ich stelle hier unsere Transsexualität ganz bewusst in ein heikles Umfeld: nicht etwa, um Transsexuelle mit sexuellen Straftätern und -täterinnen auf dieselbe Stufe zu stellen, Gott bewahre! Ich engagiere mich seit Jahren dafür, dass wir uns mit unserer Besonderheit nicht als krank und auch nicht als behindert sehen, sondern als eine geschlechtliche Variante innerhalb der Bandbreite menschlicher Normalität. Diese Variante kann im Einzelfall zu ärztlich behandlungsbedürftigem Leiden führen – und sie tut es in unserer geschlechtlich dual orientierten Gesellschaft nahezu regelmäßig, die meisten von uns kennen das sattsam aus eigener Erfahrung. Trotzdem ist nicht die Variante an sich krankhaft, sondern nur deren häufige Folgen, die in einer anderen Gesellschaft durchaus weniger verbreitet sein könnten.
Wenn es aber uns Transsexuellen erlaubt sein soll, das – entgegen herkömmlichen Ansichten – so zu sehen, dann gehören konsequenterweise auch all die anderen herkömmlichen Ansichten über menschliche Sexualität und Geschlechtlichkeit auf den Prüfstand. Teilweise ist unsere Gesellschaft da schon sehr viel progressiver als wir selber und hat auch ehemals geächtete Aspekte der menschlichen Sexualität integriert. So erscheint unsere verschämte Art, hinter vorgehaltener Hand über sadomasochistische Impulse bei Transsexuellen zu flüstern, mittlerweile arg unzeitgemäß – in einer Zeit, in der schon ganz normale Großversandhäuser zwischen Bettwäsche und Hygieneartikeln auch Utensilien zu sexuellen Fesselungen im Katalog führen. Andererseits sind z. B. gewisse Parallelen zwischen Exhibitionismus und Transsexualität – wie ich später noch ausführen werde – zu deutlich, um uns da einfach nur mit einem kalten »Das geht uns nichts an« abzugrenzen.

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Bevor ich nach dieser langen – aber zum Verständnis notwendigen – Vorrede zum eigentlichen Thema komme, lassen Sie mich noch eine Vorbemerkung machen: dies ist kein wissenschaftlicher Vortrag. Im wissenschaftlichen Sinn wissen wir über die menschliche Sexualität ganz allgemein noch recht wenig – und über die spezielle Sexualität transsexueller Menschen so gut wie nichts. Ich kann hier nur eigene Beobachtungen und Erzählungen anderer Betroffener weitergeben, in jedem Fall subjektiv und sicher auch nicht vollständig, und da ich selbst Mann-zu-Frau-transsexuell bin, vermutlich noch nicht einmal geschlechtlich ausgewogen. Aber immerhin einmal nicht durch das Filter einer sehnlichst herbeigewünschten, gutachterlichen Stellungnahme hindurch; und vielleicht findet sich in den nächsten Jahren auch mal ein Frau-zu-Mann-Transsexueller, um hier diese Dinge genauso freimütig aus seiner sicherlich recht anderen Perspektive zu schildern. Erwarten Sie also von diesem Vortrag, bitte, keinen Almanach transsexueller Sexualität; nehmen Sie es stattdessen als einen sehr subjektiven Anstoß, als Denkanregung und Diskussionseröffnung. Es bedarf noch viel gemeinsamer, weiterführender Arbeit, bis wir uns ein auch nur halbwegs verlässliches Bild von unserer speziellen Sexualität machen können – sofern es eine solche überhaupt gibt. Unter anderem wird morgen auch der Arbeitskreis mit demselben Thema Gelegenheit dazu bieten, die Dinge zu vertiefen.

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Landläufig herrscht immer noch die Meinung, unsere Sexualität erwache erst in der Pubertät. Aber meine eigene Erinnerung widerspricht dem, und wenn ich heute Kinder beobachte, dann stelle ich immer wieder fest, dass sie spätestens ab drei, vier Jahren eindeutig sexuelle Verhaltensweisen zeigen, u. a. sogar wortwörtlich »zeigen« in exhibitionistischer Art. Sicher haben solche Verhaltensweisen eine geringere und teilweise auch qualitativ andere Bedeutung als bei Erwachsenen – trotzdem sind sie bereits Ausdruck kindlicher Sexualität.
Mehr noch: meine Erinnerungen – und die vieler Transsexueller, mit denen ich darüber gesprochen habe – weisen bereits in dieser frühen Zeit dieselben sexuellen Besonderheiten auf, die bis ins Erwachsenenleben meine Sexualität prägten. Ich weiß noch genau, wie ich als Achtjähriger zum erstenmal heimlich den damals viel zu großen BH meiner Mutter anprobiert habe: das Gefühl dabei hätte ich damals noch nicht als »erotisch« benennen können, rational wusste ich damals einfach noch nicht, was Erotik war; aber es war zumindest ansatzweise dasselbe, unbeschreiblich kribbelnde, euphorische Gefühl, das ich bis heute mit ähnlichen Bereichen meiner Sexualität verbinde. Ähnlich auch die Entwicklung bei sadomasochistischen Fantasien: meine gelegentlichen Fesselungsspiele als Kind waren weit entfernt von bloßer, unschuldiger Spielerei. In passiver Form mündeten sie schließlich in meine erste Masturbationsfantasie, noch lange bevor die Pubertät mein Interesse am weiblichen Körper als Sexualobjekt wachrief. Selbst meine spätere, erotische Schwäche für Gummi findet sich in einer sehr klaren, eindringlichen Szene meiner Kindheit schon mit etwa 7 Jahren wieder. All diese Extravaganzen schienen weit tiefer zu wurzeln als die angeblich normale Sexualität eines Mannes gegenüber einer Frau, die bei mir – nach einer recht intensiven homoerotischen Phase – tatsächlich erst in der Pubertät erwachte und dann freilich alles andere in den Hintergrund drängte.
Angesichts der prüden Atmosphäre, in der ich aufwuchs, hatte ich erst in der Pubertät Gelegenheit, überhaupt eine bewusste Vorstellung von Sexualität zu entwickeln. Damals war das schlicht mit »Schweinkram« gleichzusetzen: jegliche irgendwie lustvolle Betätigung mit eigenen oder fremden Geschlechtsorganen, für die einem der Herr Pfarrer Rückenmarkserweichung androhte… Dass zum Beispiel eine Frau sich durch das bewusste Herausstellen ihrer Figur und die dadurch provozierten männlichen Blicke durchaus euphorische Gefühle verschaffen kann, wusste ich damals nicht, und wusste es schon gar nicht unter »Sexualität« einzuordnen: denn das war ja erlaubt, das gehörte nicht zu dem verbotenen Bereich, den man uns damals als Sexualität verkaufte. Zudem waren die lustvollen Gefühle, die bei ersten Manipulationen am eigenen Geschlechtsteil auftraten, auch qualitativ anders als die ebenfalls sehr euphorischen Gefühle, die mich z. B. beim Anprobieren des mütterlichen Büstenhalters oder beim ersten öffentlichen Auftritt als Ministrant in der Kirche (»Ministrantenrock«…) befielen. Dass auch letzteres zu meiner Sexualität gehörte, habe ich erst sehr viel später verstanden – und vermutlich verstehen es manche Betroffene ihr ganzes Leben lang nicht.
Das letztere Beispiel bitte ich nicht als Gotteslästerung misszuverstehen: meine Religiosität als Ministrant war echt und tief. Die euphorischen Gefühle bei diesem für mich ersten transvestitischen Akt in der Öffentlichkeit, die ich freilich erst viel später als sexuelle Gefühle zu deuten lernte, standen keineswegs im Widerspruch dazu. Im Gegenteil: Spiritualität und Sexualität gehören untrennbar zusammen; man kann nicht harmonisch in einem größeren Ganzen aufgehen, wenn man dabei einen so wesentlichen Teil der eigenen Person wie die Sexualität ausklammert.
Im östlichen Tantra wird deshalb die Sexualität sogar explizit als ein Weg zur Erleuchtung gewählt, und selbst die katholische Kirche oder der Islam verleihen der Sexualität durch ihre systematische Ausgrenzung eine sehr wesentliche spirituelle Bedeutung, wenn auch in Form des Negativs.

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Die Pubertät war dann sexuell zunächst von drei Entwicklungen geprägt – lassen Sie mich das exemplarisch weiter an meinem eigenen Fall beschreiben, denn es ist zumindest in dieser Phase für sehr viele Mann-zu-Frau-Transsexuelle typisch; und so kann ich es anschaulich machen, ohne andere Leute bloßzustellen. Da war zunächst eine enorme Intensitätssteigerung beim Sexualtrieb. Zweitens begann sich dieser Sexualtrieb auf ein sexuelles Objekt, einen anderen Menschen zu richten, während er bis dahin einfach nur so für sich gestanden war. Und drittens driftete dieses Sexualobjekt langsam, aber gründlich vom zunächst bevorzugten, eigenen Geschlecht hin zum anderen Geschlecht.
Erst in dieser dritten Phase masturbierte ich so regelmäßig, dass ich gemäß der damals üblichen »Schweinkram-Definition« den Begriff »Sexualität« damit verband. Schon die vorhergehende homoerotische Phase konnte ich damals noch nicht als zu meiner Sexualität gehörig erkennen – und zwar keineswegs nur aus Homophobie, sondern vor allem deshalb, weil die erotischen Gefühle gegenüber Jungen einfach anders gewesen waren: da war mehr Schwärmerei, mehr Zärtlichkeits-, Anlehnungs- und Schutzbedürfnis dabei, wie es junge Mädchen gegenüber Jungen zu zeigen pflegen.
Bis zu diesem Punkt mag man die Entwicklung trotz aller Verwirrung als normal bezeichnen; bekanntlich machen sehr viele Jungen in der Pubertät eine homoerotische Phase durch. Während jedoch »normale« Jugendliche im geminsamen Erlebnis ihrer reifenden Sexualität selbst eine sehr prüde Erziehung irgendwann ablegen und zu einem emanzipierteren Verständnis von Sexualität finden, begannen sich bei mir – wie bei sehr vielen Mitbetroffenen – die Probleme ab diesem Punkt zu häufen. Im Gegensatz zu all meinen männlichen Altersgenossen war ich schlicht nicht in der Lage, sexuell aktiv auf ein Mädchen zuzugehen; ich bin es heute noch nicht, es widerstrebt mir einfach zutiefst. Alle Versuche, das zu ändern, endeten in Verkrampfung und Misserfolgen, obwohl ich – wie ich heute weiß – bei den Mädchen in meinem Umkreis durchaus als attraktiv galt. Ich erwartete immer, dass das Mädchen auf mich zugehen sollte; das widersprach aber der bis heute üblichen Rollenverteilung, bei der zwar sehr wohl die Frau entscheidet, mit welchem Mann sie ins Bett geht, aber die diesbezügliche Initiative – samt fallweisem Korb – hat auch heute noch üblicherweise der Mann vorzutragen bzw. zu erleiden.
So konnte für mich lange Zeit kein sexueller Kontakt zustandekommen, und ich handelte mir völlig entgegen den Tatsachen den Ruf ein, schwul zu sein.

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An dieser Stelle nochmal ein kleiner Ausflug in die Evolutionstheorie: es scheint so zu sein und ergibt auch evolutionstheoretisch Sinn, dass Männer im Allgemeinen einen stärkeren Sexualtrieb haben als Frauen. Ein Mann kann theoretisch nahezu beliebig viele Frauen schwängern, eine Frau kann dagegen nur relativ wenige Kinder austragen. Es ist daher naheliegend, dass die Evolution in die männliche Sexualität die Tendenz gelegt hat, den Samen möglichst breit zu streuen, also möglichst vielen zeugungsfähigen Frauen das Angebot zum Sex zu machen – und anderseits Frauen die Tendenz, aus einem solchen, sexuellen Überangebot eine sorgfältige Auswahl zu treffen, um für Zeugung und Aufzucht ihrer wenigen Nachkommen optimale Bedingungen zu schaffen.
Wir haben keine Möglichkeit, den Sexualtrieb als solchen zu messen, wir können nur Sexualverhalten messen – und das kann beim Menschen bekanntlich auch andere Gründe haben als die Triebstruktur. Aber immerhin wissen wir, dass sowohl bei Männern als auch bei Frauen der Sexualtrieb mit dem Testosteronspiegel variiert; gerade wir Transsexuelle machen da ja mit unseren gegengeschlechtlichen Hormoneinnahmen auch recht eindrucksvolle, praktische Erfahrungen. Zudem klagt eine große Mehrheit normal heteosexueller Männer immer wieder darüber, von ihren Frauen nicht oft genug »herangelassen« zu werden, und ihre Frauen beklagen sich vice versa darüber, zu oft bedrängt zu werden. Eine Erfahrung, die sich für uns Transsexuelle spätestens nach den ersten Hormongaben ins Gegenteil verkehrt… Was also in der Evolutionstheorie als logisch erscheint, scheint sich im sexuellen Alltag auch zu bestätigen: der Mann bietet im Überfluss an, die Frau wählt aus dem Überangebot aus. Dieser Unterschied hat sich wohl auch in die weitere Entwicklung menschlicher Sexualität eingegraben: denn sehr viele »normale« Männer empfinden es als höchst ernüchternd und haben prompt einen Hänger, sobald eine Frau ausnahmsweise das »Hasch-mich-Spielchen« nicht mitspielt, den Spieß umdreht und ihrerseits die sexuelle Initiative ergreift.

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Gegenwärtig ist es reine Spekulation, aber man könnte in der Unfähigkeit eines Mann-zu-Frau-Transsexuellen, sexuell auf Frauen zuzugehen, eine teilweise weibliche Triebstruktur sehen: denn das Verhalten, das ich ab der Pubertät zeigte, ist durchaus typisch für Frauen und untypisch für Männer. Es hatte in meinem Fall nur deshalb andere Folgen als sonst, weil ich äußerlich – und auch von meiner Partnerorientierung her – ein Mann war, womit zwei miteinander inkompatible Verhaltensweisen aufeinanderprallten: wo beide erwarten, dass der jeweils Andere den ersten Schritt tut, da tut sich halt nix…
Also blieb ich trotz großer Sehnsucht zunächst sexuell isoliert und hatte mangels Partnerin nur Sex mit mir selber. Dass bei meinen Masturbationsfantasien die schon früher erwähnten Besonderheiten – Transvestismus, Anflüge von Masochismus und Gummifetischismus – breiten Raum einnahmen, erlebte ich in Übereinstimmung mit der damals verbreiteten Sexualmoral als »pervers« und als männliches Versagen. Immerhin war der Erkenntnisprozess bei mir wenigstens schon soweit gediehen, dass ich diese Extravaganzen überhaupt bewusst meiner Sexualität zuzuordnen lernte, trotz ihrer höchst unterschiedlichen Gefühlsqualitäten. Jeder Transvestit wird bestätigen, dass der transvestitische Akt – selbst dann, wenn er in Masturbation mündet – eine ganz unverwechselbar eigene Gefühlsqualität hat, völlig anders als etwa das Penetrieren einer weiblichen Sexualpartnerin. Obwohl beides Euphorie vermittelt, sind diese Gefühle so unterschiedlich, dass man tatsächlich erst lernen muss, sie unter demselben Oberbegriff »Sexualität« einzuordnen. Dass diese »anderen« sexuellen Gefühle in Wahrheit Ausdruck einer weiblichen Sexualität sein könnten, auf diese Idee kam ich erst sehr viel später.

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Auch hier wieder ein kleiner Ausflug in die Evolutionstheorie: Männer und Frauen sind unterschiedlich groß, schwer und stark. Die Bereiche überlappen sich zwar, es gibt vereinzelt auch Paare, bei denen die Frau größer und stärker ist als der Mann – aber das sind seltene Ausnahmen.
Da dieser Unterschied offenbar älter ist als die Menschen selber (auch unsere engsten Verwandten im Tierreich zeigen diesen Unterschied), ist die Annahme naheliegend, dass sich unser Sexualtrieb daran angepasst hat. Eine Frau erlebt ihren Partner im sexuellen Akt ganz handfest als körperlich überlegen, zumal er dazu meistens auch noch derjenige ist, der die sexuelle Initiative ergreift. Sicher will keine Frau vergewaltigt werden; aber sie weiß und akzeptiert, dass sie mit einem von ihr erst mal angenommenen Sexualpartner ab einem bestimmten Punkt nur noch einen sehr begrenzten Einfluss auf das weitere Geschehen hat. Sie »gibt sich hin«, wie schon unsere Sprache in einem bemerkenswerten Gegensatz zum physiologischen Vorgang formuliert, bei dem ja rein körperlich gesehen eher der Mann sich der Frau hingibt, in Form seines Samens. Und er »nimmt sie«, obwohl er ihr doch in Wirklichkeit etwas gibt…
Die Frau akzeptiert nicht nur, dass der Mann ihr körperlich überlegen ist, sie genießt es beim Sex sogar. Nur so ist es zu erklären, dass so viele Frauen körperlich größere und stärkere Männer nicht nur gemäß Statistik akzeptieren, sondern bei der Partnerwahl sogar ausgesprochen bevorzugen. Es scheint zu den Besonderheiten weiblicher Sexualität zu gehören, die körperliche Kraft und Überlegenheit des männlichen Partners beim Sex spüren zu wollen.
Eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle ist aber nun mal körperlich ein Mann, samt seinen Durchschnittswerten bei Größe und Körperkraft. Gehen wir davon aus, dass dieser Mensch mit einer eher weiblichen Sexualität ausgestattet ist, dann hat er/sie mit Biofrauen als Partnerinnen ein Problem: die sind fast durchweg kleiner und schwächer als er, und die wenigen größeren bevorzugen eben deshalb andere, größere Partner. Das von Frauen beim Sex normalerweise erwünschte Kräfteverhältnis kann er/sie schlechterdings in den seltensten Fällen erleben, es sei denn, die Partnerin greift zu einem speziellen Hilfsmittel: gefesselt liefert er sich ihr etwa genauso hilflos aus, gibt sich ihr genauso hin wie eine ganz normale Frau einem ganz normalen Mann bei einem ganz normalen Akt. Ich denke, man kann die bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen so enorm verbreiteten, masochistischen Fantasien durchaus in dieser Richtung interpretieren: nämlich als ein Stück weiblicher Sexualität, das sich in der völlig anderen Situation eines äußerlich männlichen Körpers irgend einen Weg sucht, gelebt zu werden – zumal es bei mir wie bei vielen anderen Mann-zu-Frau-Transsexuellen mit einer sexuellen Vorliebe für größere Frauen korrespondiert, die nur leider mangels entsprechender Partnerinnen selten Befriedigung findet.
Ebenso könnte man den bei Mzf-Transsexuellen ebenfalls recht häufigen Gummifetischismus als das Bedürfnis interpretieren, in eine andere, glattere, weichere Haut zu schlüpfen – in die Haut einer Frau, der dieses Material weit ähnlicher ist als der eines Mannes.

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Es gibt immer wieder Stimmen, die schlicht ableugnen, dass Transsexuelle überhaupt häufiger zu solchen, sogenannten Paraphilien neigen würden als der Durchschnitt. Möglicherweise haben sie sogar recht damit: denn vielleicht sind diese Paraphilien in der Normalbevölkerung weit mehr verbreitet, als wir bisher glauben – und sie fallen bei uns Transsexuellen nur deshalb mehr auf, weil wir mit unserer Sexualität aufgrund unserer Lebensgeschichte ein Stück bewusster und ehrlicher umgehen als andere Leute.
Aber zwei Dinge lassen mich persönlich doch an der Überzeugung festhalten, dass solche Besonderheiten ein Stück weit typisch für Transsexuelle sind. Erstens sind das die vielen, persönlichen Gespräche, die ich in den letzten zehn Jahren mit Mitbetroffenen geführt habe. Abgesehen von einer Minderheit, die angibt, so gut wie überhaupt keinen Sexualtrieb zu haben – auch das gibt’s – haben die meisten im persönlichen Gespräch mit mir derartige Paraphilien zumindest im Ansatz eingestanden: die große Mehrheit zumindest Fesselungsfantasien, sehr viele auch weitergehende sadomasochistische Fantasien. Gelegentliche Ausflüge in die aktive Seite des Sadomasochismus speziell gegenüber weiblichen Partnern sind kein Widerspruch dazu: denn oft projizieren wir dabei unsere eigenen sexuellen Wünsche in die zum passiven »Opfer« gemachte Frau. Gummifetischismus wurde mir zwar nicht ganz so häufig, aber doch immer noch auffallend oft beschrieben.
Ein Gutachter, dem das bei »seinen« Transsexuellen selten oder gar nie begegnet ist, sollte sich m. E. einmal ein paar Gedanken zu seinem Auftreten gegenüber den Klienten machen: offensichtlich sehen sich die in der Mehrzahl genötigt, ihm wichtige Details zu verschweigen… Gegenüber einem Mitbetroffenen, der selbst zugibt, solche Paraphilien zu haben, sind Transsexuelle ganz einfach ehrlicher.
Zum Anderen widerlegt das breitere Auftreten solcher Paraphilien auch bei anderen Bevölkerungsschichten keineswegs die besondere Beziehung zu Transsexuellen. Die Übergänge zwischen Normalos und Transsexuellen sind genauso fließend wie die zwischen Transsexuellen einerseits und Fetischisten, Sadomasochisten, Transvestiten und Homosexuellen andererseits. Es spricht überhaupt nichts dagegen, dieselben Paraphilien auch bei anderen, sich nicht als transsexuell verstehenden Menschen in ähnlicher Weise zu interpretieren. Möglicherweise liegen diese Menschen mit prinzipiell denselben Eigenschaften nur einfach noch unterhalb der Schmerzschwelle, die uns Transsexuelle zu Coming-Out und Rollenwechsel zwingt.

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Zurück zu meiner exemplarischen, sexuellen Entwicklung. Irgendwann ergaben sich schließlich doch erste sexuelle Beziehungen, zunächst noch unter der Prämisse, ein normal männliches Leben führen zu wollen. Hier die Schwierigkeiten zu beschreiben, die ich und andere Betroffene damit hatten und haben, hieße Eulen nach Athen tragen: so gut wie jeder hier hat damit sattsam Erfahrungen gemacht. Nur kurz ein paar Stichworte dazu für Nichtbetroffene, denen dieser Bereich nicht so vertraut ist: es genügt für eine befriedigende sexuelle Beziehung nicht, dass das Partnerbild stimmt, auch das sexuelle Selbstbild muss stimmen, denn ich habe ja nicht nur eine (in meinem Fall) Partnerin, ich bin auch Partner. In dieser letzteren Rolle ständig falsch gesehen zu werden, ständig eine Rolle spielen zu müssen, die den eigentlichen, originären Empfindungen zuwiderläuft, ist auf Dauer genauso unerträglich, wie wenn man mit dem falschen Partner auskommen soll. Wenn ich als Mann-zu-Frau-transsexueller Mensch versuche, in einer ganz normalen, heterosexuellen Beziehung zu leben, dann kann das nur schiefgehen – denn ich bin nun mal kein Mann, sondern (zumindest in Teilen, seelisch, emotional) eine lesbische Frau. Seit ich diesen Versuch aufgegeben habe und mich meiner Partnerin körperlich spürbar als der Mensch zu erkennen gebe, der ich bin, geht´s mir entschieden besser; erst seitdem hatte ich überhaupt erstmals wirklich befriedigende, sexuelle Beziehungen.
Einen Teil der typischen Probleme vor und nach dem Coming-Out kann ich nur aus zweiter Hand schildern: ich stehe von meiner Partnerorientierung her eindeutig auf Frauen und konnte mich zudem ohne Unterleibsoperation begügnen.
Sehr viele Transsexuelle müssen auch bezüglich der Partnerorientierung erst mühsam zu »ihrem« Partnergeschlecht finden, behindert durch eine falsche, angeblich homosexuelle Zuschreibung ihrer Präferenz; und die Operation schafft bei MzF zwar optisch einen halbwegs weiblich wirkenden Unterleib, wie jedoch die damit möglichen, sexuellen Gefühle beschaffen sind, das bleibt mit einem großen Fragezeichen versehen. Euphorische Äußerungen von Betroffenen sollte man mit einer gewissen Vorsicht zur Kenntnis nehmen: da sie nicht mehr zurück können, werden die Betroffenen schon aus Selbstschutz eher dazu neigen, den Zustand schönzureden, selbst wenn er nicht so toll sein sollte. Und bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen sind die diesbezüglichen Ergebnisse schon optisch sehr kompromissbehaftet, funktionell um so mehr.
Doch ich greife vor: vor diese Schritte haben die Götter Selbstfindung und Coming-Out gesetzt – und gerade diese Phase ist nun wiederum auch in sexueller Hinsicht besonders interessant, insbesondere im Hinblick auf die Motive.

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Auch nur teilweise unmittelbar sexuelle Motive für den transsexuellen Weg zu haben – volkstümlich gesagt: es »geil« zu finden, diesen Weg zu gehen – ist eines der letzten großen Tabus bei Transsexuellen. Die wenigsten Betroffenen wagen es, solche Impulse gegenüber Gutachter oder Chirurg offen einzugestehen. Die Zurückhaltung ist berechtigt: denn wo Medizin nicht nur Hilfe zur sexuellen Selbsthilfe bietet, sondern unmittelbar der Befriedigung sexueller Fantasien dient, da prostituiert sich der Arzt. Eine solche Medizin käme schnell in Misskredit.
Aber spielen denn unmittelbar sexuelle Motive überhaupt eine Rolle als Motivation für den transsexuellen Weg? Klassisch gelten solche Motive als Kontraindikation: wer sich am geschlechtlichen Rollenwechsel aufgeilt, ist Fetischist oder Transvestit oder Masochist, aber angeblich auf keinen Fall transsexuell. Transsexuelle – so die offizielle Lesart – haben allenfalls ein Interesse daran, im anderen Geschlecht sexuell funktionieren zu können; der Wechsel an sich erregt sie nicht.
Die Wahrheit ist komplizierter. Auch die seit Jahrzehnten erfolgreich im Wunschgeschlecht lebenden Mann-zu-Frau-Transsexuellen, mit denen ich gesprochen habe, haben mir in ehrlichen Momenten immer wieder beschrieben, wie angesichts des Rollenwechsels teilweise auch der sexuelle Mann in ihnen wieder durchkam, bis hin zur Masturbation, bis hin zum »Abspritzen«. Gerade in der Phase des Coming-Outs konnte und kann das in regelrecht suchtartige Verhaltensmuster ausarten: es wird unverhältnismäßig viel Zeit auf den Rollenwechsel auf verschiedensten Stufen investiert, andere Lebensbereiche werden vernachlässigt, die sexuelle Befriedigung durch und mithilfe des allfälligen Rollenwechsels beherrscht zeitweise das gesamte Leben und Denken des Betroffenen. Nicht nur, aber auch daran scheitert das Leben so manches Betroffenen in dieser Phase.
Exhibitionisten sind sehr scheue Menschen – kein Wunder angesichts der strafrechtlichen Verfolgung ihres Tuns. Aber bei den wenigen Kontakten, die ich in der Aktionsgemeinschaft Sexualität (AHS) mit solchen Menschen hatte, war ich sehr verblüfft über die Parallelen, die sie mit vielen MzF-Transsexuellen in der Phase des Coming-Out zeigen: dasselbe suchtartige Getriebensein hin zu immer gewagteren Begegnungen, derselbe Zwiespalt zwischen Mut und Angst, dieselbe Beziehung gerade auch der sexuellen Erregung zu dem Nervenkitzel bei der Sache, dieselbe bevorzugte Offenheit genau der Art Menschen gegenüber, die man auch intim als Sexualpartner bevorzugen würde, dieselbe Euphorie nach einem gelungenen (sprich: mit positiver Akzeptanz aufgenommenen) Offenbarungsakt. Das Bild des Exhibitionisten, der sich am Entsetzen seiner unfreiwilligen Zuschauerin weidet, scheint nach meinen Informationen ziemlich falsch zu sein: genauso wie ein Transsexueller will ein Exhibitionist mit seiner Sexualität zwar deutlich und spürbar wahrgenommen, aber nicht etwa abgelehnt werden. Der größte Unterschied liegt einfach darin, was Exhibitionisten einerseits und MzF-Transsexuelle andererseits zeigen: letzteres darf in unserer Gesellschaft straffrei gezeigt werden, ersteres nicht – obwohl es für die zufälligen Zeugen im einen wie im anderen Fall gleich unschädlich ist. Das deutliche, körperliche Sich-Zeigen einer Frau wird gemeinhin noch nicht einmal als sexueller Akt der betreffenden Frau selber gesehen, obwohl dahinter oft genug euphorische Gefühle stecken, die kein bisschen weniger sexuell sind als die dadurch geweckten Begierden betrachtender Männer. Wir sind einfach gewohnt, »Sexualität« verbal mit männlicher Sexualität gleichzusetzen, mit der Beziehung eines männlichen Subjekts zu einem weiblichen Objekt. Wo die nicht handgreiflich in Form zumindest versuchter Penetration stattfindet, da pflegen wir allenfalls noch von »Erotik« zu sprechen, nicht von Sexualität…

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Aus Amerika kommt wieder einmal ein neuer Begriff zu uns herüber, mit dem sich dort viele Mzf-Transsexuelle identifizieren: Autogynäkophilie, abgekürzt AGP. Im Hinblik auf die vorhin beschriebene, sexuelle Komponente beim Coming-Out beschreibt dieser Begriff, dass MzF-Transsexuelle an sich selbst (»auto…«) die Frau (»…gynäko…«) als sexuelles Objekt lieben und begehren (»…philie«).
Nun: wenn Psychologen etwas nicht verstehen, dann erfinden sie erst einmal ein Fremdwort dafür. Isoliert gesehen ist dieses Konzept durchaus richtig; aber es ist nur die halbe Wahrheit. Man übersieht dabei die Tatsache, dass in nahezu jedem transsexuellen Menschen auch emotional beide Geschlechter stecken.
Ich will es am Beispiel der Östrogeneinnahme zwecks Brustwachstum veranschaulichen: hinter dem Wunsch einer MzF-Transsexuellen, weibliche Brüste zu haben, steckt zunächst ein Gemisch sowohl männlicher wie auch weiblicher Körper- und Sexualempfindungen. Einerseits ist da das weibliche Bedürfnis nach körperlicher Vollständigkeit und sexueller Attraktivität – wobei das Spüren der eigenen Brüste bei jeder Bewegung und das gleichzeitige Wissen um die optische Wirkung spezifisch weibliche, hoch erotische Gefühle vermitteln kann. Aus unserer männlichen Sozialisation heraus neigen wir freilich dazu, diese Gefühle gedanklich zunächst gar nicht mit Sexualität in Verbindung zu bringen, weil Sexualität für einen Mann nun mal traditionell etwas ziemlich anderes ist: wir nennen diese Gefühle daher eher »wohlig«, »euphorisch«, »prickelnd«. Sex dagegen ist für uns kulturell erlernt eher das, was wir als männliche Teilperson fühlen: dass uns der Anblick weiblicher Brüste von außen her geil (männlich kopulationsbereit, erigiert) macht, dass wir sie entblößen, anfassen, kneten, daran saugen und uns bei all dem weiter aufgeilen möchten – der weibliche Körper als sexuelles Objekt, während er bei den oben angesprochenen, weiblich-erotischen Gefühlen Teil des sexuellen Subjekts ist.
Die Kombination dieser beiden Gefühlsseiten im geschlechtlichen Rollenwechsel ergibt dann jenen unbeschreiblich prickelnden, wohligen, geilen Gefühlsmix, den Psychologen wegen der männlich-geilen Komponente – und unter Nichtbeachtung der immer auch vorhandenen weiblichen Seite – neuerdings so kalt und unemphatisch mit dem Wort »autogynäkophil« abstrafen. Ein ganz normaler Mann, der eine Frau liebt, wäre demnach »heterogynäkophil«: das klingt doch auch schön pervers, der muss auch dringend zum Psychiater, nicht wahr?

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Mit der Östrogeneinnahme wird nun allerdings die Balance verschoben: denn die männlich-geile Komponente ist Testosteron-abhängig. Unter Einwirkung des Östrogens fällt der Testosteronspiegel – und mit ihm die »männliche« Geilheit – auf ein für Frauen übliches Maß. Das ist durchaus eine Nagelprobe auf Transsexualismus, und insofern m. E. auch diagnostisch wertvoll: ist nämlich daraufhin aus dem Geschlechtswechsel-Begehren »die Luft raus«, erschrickt das Individuum gar über seine erschlaffte Männlichkeit und möchte da schleunigst wieder heraus, dann war wohl eher männlich-objektorientierter Fetischismus im Spiel als eine echte weibliche Seele. Tritt dagegen wie bei den allermeisten Transsexuellen Beruhigung ein, wird das Versanden der spezifisch männlichen Sexualität als eine Befreiung von einem (wegen der problematischen Triebrichtung) eher quälenden Getriebensein erlebt, und bleibt dabei der Wunsch nach dem Rollenwechsel stabil, dann kann man wohl tatsächlich von einer echten transsexuellen Veranlagung ausgehen. Auch bei echten Transsexuellen nimmt zwar die Intensität des Begehrens unter Östrogeneinnahme zunächst mal ein bisschen ab, weil ja die meisten von uns auch einen »autogynäkophilen« Mann in sich tragen; aber anstelle der gedämpften, männlichen Libido findet dann die spezifisch weibliche Erotik mehr Raum, sie wird sogar oft erst dann bewusst als solche wahrgenommen.
Im selben Maß, in dem die männlich-geile, objektorientierte, »autogynäkophile« Komponente im transsexuellen Weg sich selbst das Wasser abgräbt, werden wir ausgleichend durch wachsende Möglichkeiten bereichert, sexuell als weibliches Subjekt zu handeln. Unseren zwischenmenschlichen Beziehungen kann das nur gut tun, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.

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Obwohl wir also auch die sogenannte Gynäkophilie als logische Folge einer zweigeschlechtlichen Emotionalität verstehen können, bleibt doch das Phänomen eines zeitweisen sexuellen Kurzschlusses bestehen: eine Sexualität eines Teils einer transsexuellen Person mit einem anderen Teil derselben Person. Von außen gesehen ist diese Form von Sexualität tatsächlich eine Besonderheit Transsexueller; Durchschnittsmenschen können das nicht nachempfinden – obwohl es ausschließlich aus Komponenten besteht, die Durchschnittsmenschen auch haben, nur eben nicht in dieser Kombination. Lassen Sie es uns als einen Ausgleich dafür sehen, dass uns so manche für »Normalos« selbstverständliche sexuelle Befriedigung aus körperlichen und sozialen Gründen die meiste Zeit unseres Lebens versagt bleibt.
Überhaupt habe ich bei all meiner Selbstbeobachtung und bei all meinen Gesprächen mit Mitbetroffenen in den letzten zehn Jahren bis heute keine einzige sexuelle Komponente entdecken können, die man nicht auch bei »normalen« Männern und Frauen in irgendeiner Form wiederfindet, oder die sich nicht zumindest als durch äußere Umstände behinderter Ausdruck einer normalen Sexualität interpretieren lässt, siehe Paraphilien; im Grunde macht nur die individuelle Mischung das Besondere bei uns Transsexuellen aus und lässt unsere Sexualität nach außen bisweilen etwas skurril und unverständlich erscheinen.
Es ist wie in anderen Bereichen auch: Transsexuelle haben dieselben Eigenschaften, dieselben Stärken und Schwächen wie ganz normale Männer und Frauen, nur etwas exotisch zusammengemixt. Unsere Sexualität ist dabei zwar bei weitem nicht der einzige Aspekt, unsere Besonderheit durchzieht bekanntlich das ganze Leben; insofern war und ist unsere Abgrenzung gegen eine Sichtweise als sexuelle Perversion notwendig und richtig. Aber Transsexualität ist auch und sogar sehr zentral Trans-Sexualität. Es wird Zeit, zu dieser Seite unserer Veranlagung genauso selbstbewusst und selbstverständlich zu stehen wie zu allen anderen Aspekten unserer Besonderheit.

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