Mittwoch, 20. Juni 2012

Zur Aufrechterhaltung und Infragestellung der zweigeschlechtlichen Ordnung

Copyright © 2011-2021 Nikita Noemi Rothenbächer- Alle Rechte vorbehalten!

Männer, Frauen und der Rest:
Zur Aufrechterhaltung und Infragestellung der zweigeschlechtlichen Ordnung im Umgang mit Transsexualität und Transgender

Seit Anfang der 90er Jahre kämpfen vor allem in den USA Transsexuelle, Transvestiten, Zwitter, Schwule, Lesben und andere Leute mit abweichenden Körpern und Geschlechtsidentitäten unter dem Label "Transgender" gegen Diskriminierung und für geschlechtliche Selbstbestimmung. Die Bewegung der Transgenderisten zeichnet sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus: Zum einen wird Geschlecht nicht länger als natürlich und determiniert verstanden, sondern (konstruktivistisch) als Lebenspraxis, die veränderbar ist. Die Auflösung der zweigeschlechtlichen Ordnung und eine Vervielfältigung der denk- und lebbaren Geschlechtsidentitäten jenseits der gängigen Vorstellungen von (heterosexuellen) Frauen und Männern ist politisches Ziel der Transgenderbewegung. Zum anderen betreiben Transgenderisten zwar durchaus Identitätspolitik, doch die jeweiligen Identitäten beruhen nicht länger auf einer feststehenden Essenz, sondern im Gegenteil gerade auf dem "trans", also auf dem Überschreiten bestehender Grenzen. So werden Differenz, Veränderung und Grenzüberschreitung gelebt und mitgedacht.1

Der Begriff "Transgender" wird nicht nur in der Subkultur, sondern auch in der Fachliteratur seit Anfang der 90er Jahre als Sammelbegriff benutzt, wobei die Reichweite des Begriffs variiert (vgl. Ekins/King 1998: 98ff). In der Einleitung zu dem seit 1997 erscheinenden The International Journal of Transgenderism wird der Ausdruck folgendermaßen definiert: " [transgender], a new term which transcends the restricting and extant categories of gender identity, is more neutral regarding etiology, and encompasses the vast complexity of gender manifestations and identities" (Pfäfflin/Colemann 1997

Begriffe wie Transsexualität, Transvestismus, Hermaphrodismus oder Geschlechtsidentitätsstörung werden aufgrund der meist mit ihnen einhergehenden Pathologisierung abgelehnt. Im weitesten Sinne beinhaltet Transgender alle Lebensweisen von Geschlechtlichkeit, die nicht eindeutig in die Kategorien von Mann oder Frau einzuordnen sind. Zu den Personenkreisen, die sich in diesem Sinne als transgendered bezeichnen, gehören zum Beispiel prä-, post- und überhaupt nicht operierte Transsexuelle, und zwar sowohl Mann-zu-Frau als auch Frau-zu-Mann, Transvestiten, Crossdresser (drag queens genauso wie drag kings), Personen mit uneindeutigen Genitalien, Personen, die sich dazu entschieden haben, uneindeutige Geschlechtsidentitäten im Alltag zu leben und Personen, die sich entschlossen haben, überhaupt kein Geschlecht darzustellen (Stone 1999).

Der Ausdruck Transgender bezieht sich so verstanden also auf jede Art von Verhalten oder Lebenspraxis, die bestehende Geschlechtsrollen überschreitet. Dementsprechend zählen sich auch einige butches oder stone-butches, d.h. sehr maskulin auftretende lesbische Frauen, zur Transgendergemeinschaft. Auch Intersexuelle/Hermaphroditen/Zwitter identifizieren sich zum Teil mit der Transgenderbewegung. In einem zweiten, etwas engeren Sinne wird der Ausdruck Transgender in der Subkultur als Oberbegriff für Transsexuelle und Transvestiten verwandt. Die Aufhebung dieser Grenzziehung ist insofern bemerkenswert als die Definition von Transsexualität hauptsächlich in Abgrenzung zur Travestie erfolgte: In der klassischen, auf Harry Benjamin (1966) zurückgehenden Definition wird zwischen "echten" Transsexuellen und "falschen" Transsexuellen, d.h. Transvestiten, unterschieden. In einer dritten Bedeutung, der am engsten gefaßten, meint der Begriff Transgender Transsexuelle, die zwar vollständig in der "anderen" Geschlechtsrolle leben, sich aber nicht operieren lassen wollen. Damit grenzen sie sich bewußt von der gängigen Definition und dem gängigen Verlauf des Geschlechtswechsels ab. 

Löst man sich von dem biologistisch fundierten Alltagsverständnis von Zweigeschlechtlichkeit, wird erkennbar, daß die Standardgeschichte vom "falschen Körper", in dem Transsexuelle gefangen sind und von dem es sich auf jeden Fall zu befreien gilt, nur eine von vielen Möglichkeiten ist, einen Geschlechtswechsel zu leben (vgl. Hubbard 1998).
Im weiteren wird der Ausdruck hier im weitesten Sinne verwendet. Es geht um alle Formen, die Eindeutigkeit geschlechtlicher Identifikation aufzugegeben und anstelle eines zweigeschlechtlichen Systems mit klar zuzuordnenden Geschlechtskörpern und Geschlechtsrollen die gesamte Bandbreite von Möglichkeiten, Geschlecht und Körper zu leben, anzuerkennen. Als kleinster gemeinsamen Nenner der verschiedenen, also auch engeren, Verwendungen kann der politische Anspruch bezeichnet werden, der mit dem Begriff verbunden ist. Immer geht es darum, das Recht auf abweichende und damit potentiell subversive Arten, Geschlecht und Körper zu leben, durchzusetzen. Unterschiedlich ist nur, in wessen Namen dieses Recht in Anspruch genommen wird. Lebensweisen und Körperpraxen, welche die naturalisierte hegemoniale Ordnung der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit mit ihren Kategorien Mann und Frau zu überwinden suchen, werden durch die Transgenderbewegung unterstützt und ermöglicht.
Erste Ergebnisse dieser Bewegung werden im folgenden trotz des weiten Verständnisses von Transgender allerdings am Beispiel Transsexualität aufgezeigt. Genauer: an der Regulierung des Geschlechtswechsels durch verschiedene medizinische Standards, in denen verschiedene Grundauffassungen von Geschlecht - essentiell versus konstruiert - zum Ausdruck kommen. Hier wird die Veränderung des Bezugs auf die zweigeschlechtliche Ordnung besonders deutlich. Im Umgang mit dem Wunsch nach einem Leben im anderen Geschlecht zeichnet sich nämlich ein grundlegender Wandel ab: Während bislang der Geschlechtswechsel sowohl von vielen Betroffenen als auch von der Medizin so behandelt wurde, dass die zweigeschlechtliche Ordnung weiterhin als natürliche Ordnung erscheinen konnte, stellen seit Beginn der 90er eine zunehmende Anzahl von Transsexuellen den Anspruch, Geschlecht jenseits gängiger Regeln des Mann- oder Frauseins zu leben. Besonders weit fortgeschritten ist dieser Bewusstseinswandel bislang in den USA (und Großbritannien), und dort hat die Veränderung in der Selbstwahrnehmung Transsexueller inzwischen auch Eingang in den medizinischen Diskurs gefunden - zumindest in die Überarbeitung der Standards of Care für Transsexuelle, auch Benjamin-Standards genannt. Bei den etwa zeitgleich entstandenen deutschen Standards hingegen kann von einer abnehmenden Reglementierung im Umgang mit Transsexualität und damit von einer Öffnung gegenüber Infragestellungen des binären Geschlechtersystems keine Rede sein. Am Beispiel dieser beiden unterschiedlichen Regulierungen des Geschlechtswechsels Transsexueller lässt sich zeigen, wie Abweichungen von der hegemonialen zweigeschlechtlichen Ordnung entweder in diese reintegriert oder aber in ihrem subversiven, die Natürlichkeit dieser Ordnung in Frage stellendem Potential anerkannt werden können.

Mann oder Frau – lebenslänglich?
Geschlecht ist unveränderbar. Genitalien sind das wesentliche Merkmal von Geschlecht. Jedwede Ausnahme zu den zwei Geschlechtern ist nicht ernstzunehmen. Es gibt keine Übergänge von einem Geschlecht zum anderen außer zeremonielle (Maskeraden). Jeder Mensch muss als das eine oder das andere Geschlecht klassifiziert werden. Die Dichotomie männlich/weiblich ist natürlich. Die Zugehörigkeit zu dem einen oder dem anderen Geschlecht ist natürlich. - Diese teil impliziten, teils expliziten Regeln bestimmen die vorherrschende Wahrnehmung von Geschlecht im Alltag und in der Wissenschaft und sind so grundlegend, daß selbst abweichende Phänomene wie z.B. eine hohe Stimme bei einer als Mann identifizierten Person oder leichter Bartwuchs auf der Oberlippe bei einer Frau sie nicht in Frage stellen (vgl. Kessler/McKenna 1978).
Vielmehr werden Abweichungen durch entsprechende Differenzierungen oder Ergänzungen so gedeutet und klassifiziert, dass sie die Grundannahmen aufrechterhalten und sogar bestätigen. Die Zweigeschlechtlichkeit ist fest in unserer alltäglichen Wahrnehmung verankert. Alle Menschen ordnen sich in der Begegnung wechselseitig als entweder Männer oder Frauen nach diesen Regeln ein. Zu den Abweichungen auf der Ebene des Alltags gehören Körper und Lebenspraxen von Menschen, die sich im Übergang von einem ins andere Geschlecht befinden, uneindeutige körperliche Geschlechtsmerkmale haben oder bei denen Geschlechtsrolle und körperliches Geschlecht nicht miteinander übereinstimmen - also Körper und Lebenspraxen von Transsexuellen, Hermaphroditen, Transvestiten oder auch bestimmte schwul-lesbische Selbstinszenierungen.
Transsexualität
Wie auch massive Abweichungen von den Regeln für Geschlechtlichkeit durch entsprechende Differenzierungen oder Ergänzungen so gedeutet und klassifiziert werden, daß sie die Grundannahmen über Zweigeschlechtlichkeit aufrechterhalten und sogar bestätigen, läßt sich besonders deutlich am Umgang mit Transsexuellen zeigen. Für Transsexuelle und deren Geschlechtswechsel sind zwei der oben genannten Regeln für die gegenseitige geschlechtliche Einordnung besonders bedeutsam: Zum einen die Regel, nach der Genitalien als das wesentliche Merkmal von Geschlecht behandelt werden, oder kurz: das Kongruenzgebot - Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität müssen deckungsgleich sein. Zum anderen die Regel der Unveränderlichkeit von Geschlecht - die einmal vorgenommene Geschlechtszuweisung gilt lebenslänglich. Transsexuelle stellen diese beiden Gebote massiv in Frage. Ihre Geschlechtsidentität weicht von ihrem Körpergeschlecht ab, und im Rahmen des Geschlechtswechsels findet ein Übergang von einem Geschlecht ins andere statt.
Transsexualität stellt also zunächst eine Abweichung von diesen Setzungen dar. Die angeblichen Natürlichkeiten werden durch transsexuelle Wünsche und Begehren in Frage gestellt: Transsexuelle verändern ihr Geschlecht, und für sie sind die Genitalien nicht länger ausschlaggebend für die eigene geschlechtliche Zuordnung. Mit dieser Abweichung kann auf zweierlei Arten umgegangen werden: Zum einen kann man sich weiterhin von den Grundannahmen über Geschlecht leiten lassen und dementsprechend dafür sorgen, dass eine Erklärung und ein Umgang mit Transsexualität gefunden wird, der die Infragestellung der zweigeschlechtlichen Ordnung unsichtbar macht - Transsexualität wird in das zweigeschlechtliche Muster "reintegriert". Zum anderen kann dem subversiven Potential insofern Rechnung getragen werden, als daß anerkannt wird, dass es sich bei den Grundregeln über Geschlecht um kontingente Grundlagen handelt, die erschütter- und veränderbar sind. Dies ließe Raum für ein Verständnis von Geschlecht, das den binären Rahmen aufbricht.
Inwieweit Transsexualität die Grundregeln für Geschlechtlichkeit tatsächlich aus dem Lot bringt, hängt zentral von den subkulturellen und auch medizinischen Praktiken ab, die bei der Umsetzung des Wunsches nach einem Leben im anderen Geschlecht oder zwischen den Geschlechtern zum Tragen kommen. Der vergleichende Blick auf die medizinischen Standards zur Behandlung von Transsexuellen in den USA und Deutschland zeigt, dass Ende der 90er Jahre beide Möglichkeiten des Umgangs mit Transsexualität nicht nur theoretisch möglich sind, sondern auch praktisch existieren. Die unterschiedlichen medizinpolitischen Praktiken sind Ausdruck zweier verschiedener Grundideen von Geschlecht. Eine essentialistisch-naturalistische Auffassung behandelt sex und gender als untrennbare Einheit: die Geschlechtsrolle fußt auf dem Körpergeschlecht, das über unsichtbare Merkmale wie z.B. Chromosomen oder sichtbare Geschlechtszeichen wie z.B. die An- oder Abwesenheit eines Penis bestimmbar ist. Es gibt nach dieser Auffassung nur zwei Geschlechter, die Zugehörigkeit zu diesen Geschlechtern wird bei der Geburt festgelegt bzw. liegt schon fest und verändert sich im Laufe des Lebens nicht. Zwischen den Geschlechtern gibt es nichts, und die Frage der Geschlechtszugehörigkeit ist eine eindeutige Entweder-Oder-Frage. Im Unterschied dazu gehen sozialkonstruktivistische Ansätze davon aus, daß Geschlecht in sozialen Interaktionen hergestellt wird. Geschlecht liegt nicht in der Natur begründet, im Gegenteil, der Begriff "Natur" und seine verschiedenen Bedeutungen werden ebenfalls als sozial bestimmt verstanden. Die Konstruiertheit von Geschlecht wird im Alltag unsichtbar gemacht, so dass Geschlecht als natürlich erscheint. Ein solches Verständnis von Geschlecht lässt Abweichungen von der zweigeschlechtlichen Ordnung zu, da diese selbst als kontingent begriffen wird. Sex und gender müssen nicht unbedingt deckungsgleich sein.
Diese beiden Grundauffassungen bestimmen die Regulierung des Geschlechtswechsels. In einem essentialistischen Verständnis muss der Wechsel unsichtbar gemacht werden, während eine Auffassung von Geschlecht als kontingenter sozialer Ordnung Wechsel und Abweichungen zulassen kann. Konkret sieht die Situation folgendermaßen aus. In der BRD wird dafür gesorgt, dass Abweichung auf keinen Fall zu einer Infragestellung der zweigeschlechtlichen Ordnung führt. Dem Geschlechtswechsel ist ein juristischer und ein medizinischer Rahmen gesteckt, der beide Verletzungen der Regeln für Geschlechtlichkeit ungeschehen macht. Transsexualität wird in das zweigeschlechtliche Muster "reintegriert". Juristisch ist der Umgang mit Transsexualität seit 1981 durch das Transsexuellengesetzes geregelt. Das Gesetz bietet den Betroffenen zwei Lösungen für ihren angestrebten Geschlechtswechsel an. Die Vornamensänderung oder sogenannte "kleine Lösung" ist möglich, wenn zwei GutachterInnen unabhängig voneinander bescheinigen, daß es sich bei der Antragsstellerin bzw. dem Antragsteller um eine transsexuelle Person handelt, die seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben, und bei der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit das Geschlechtszugehörigkeitsempfinden nicht mehr ändern wird. Die sogenannte "große Lösung", die Änderung des Personenstandes, kann erfolgen, wenn die betreffende Person zusätzlich nicht verheiratet und dauernd fortpflanzungsunfähig ist. Außerdem muss sie sich "einem die äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen" haben, "durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht worden ist." (§8) Der Gesetzgeber fordert also die Kongruenz von Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität, indem er die Angleichung des Körpers an die gewünschte Geschlechtsrolle verbindlich festschreibt. Außerdem wird die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern ausgeschlossen - Transsexuelle müssen sich für die Änderung ihres Personenstandes auch dann scheiden lassen, wenn ihre PartnerInnen nach dem Geschlechtswechsel weiterhin mit ihnen zusammenleben möchten. Außerdem verhindert das Gesetz, dass Transsexuelle Kinder zeugen bzw. Kinder bekommen können.6
Ergänzt und vollstreckt wird dieser gesetzliche Rahmen durch die Medizin. Diese ist nicht nur durch die vom Gesetzgeber vorgeschriebene Begutachtung an der Regulierung des Geschlechtswechsels beteiligt. Viele Transsexuelle wenden sich an die Medizin, weil diese in Form von Hormonen und operativen Veränderungen des Körpers Mittel bereitstellt, die es erheblich erleichtern können, das Erscheinungsbild der transsexuellen Person ihrem Geschlechtsempfinden anzupassen. Wie der medizinische Fachmensch angemessen auf dieses Hilfsgesuch reagieren sollte, ist seit 1997 durch die "Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft für Sexualwissenschaft" geregelt. Diese Standards sind zwar nicht verpflichtend, sie drücken aber dennoch die derzeit in Deutschland vorherrschende medizinische Meinung aus. Die Standards sind ohne die Beteiligung von Selbsthilfegruppen oder sonstigen Transsexuellenorganisationen entstanden. Inhaltlich folgen sie sowohl dem Kongruenzgebot als auch der Annahme einer unveränderbaren Geschlechterbinarität, und zwar durch die verbindliche Festschreibung von Psychotherapie und Operation.
Der Wunsch nach einer operativen Veränderung des eigenen Körpers diente Ende der 60er Jahre dazu, Transsexualität in Abgrenzung zum Transvestismus zu definieren. Diese auf Harry Benjamin, den "Erfinder" der Transsexualität zurückgehende Definition (Benjamin 1966) ist in den deutschen Standards von 1997 immer noch zu finden. "Transsexualität ist durch die dauerhafte innere Gewissheit, sich dem anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen, gekennzeichnet. Dazu gehören die Ablehnung der körperlichen Merkmale des angeborenen Geschlechts und der mit dem biologischen Geschlecht verbundenen Rollenerwartung sowie der Wunsch, durch hormonelle und chirurgische Maßnahmen soweit als möglich die körperliche Erscheinungsform des Identitätsgeschlechts anzunehmen und sozial und juristisch anerkannt im gewünschten Geschlecht zu leben" (Becker et al. 1997: 147, meine Hervorhebung). Das Festhalten an Benjamins klassischer Definition von Transsexualität ist insofern folgenschwer, als sie die operative Veränderung des Körpers als klares Ziel der Geschlechtsumwandlung vorschreibt. Dem erwähnten Kongruenzgebot entsprechend sind Körper und Geschlechtsidentität auf jeden Fall miteinander in Einklang zu bringen. Am Ende eines "erfolgreichen" Weges steht die operative Geschlechtsumwandlung, wodurch die Bedeutung der Genitalien als ausschlaggebendes Geschlechtsmerkmal aufrechterhalten wird.7
Das Operationsgebot schafft immanente Zwänge: Da es sich bei geschlechtsumwandelnden Operationen um nicht rückgängig zu machende körperliche Eingriffe handelt, wird große Sorgfalt auf die "richtige" Diagnostizierung von Transsexualität gelegt. Die Diagnose muss zweifach bestätigt werden. Zum einen durch eine Therapeutin oder einen Therapeuten. Zum anderen durch den sogenannten Alltagstest, d.h. die Einnahme der gewünschten Geschlechtsrolle im Alltag. Die Selbsteinschätzung der Betroffenen spielt nur eine untergeordnete Rolle. Eine Selbstdiagnose wird explizit abgelehnt. Stattdessen übernimmt es medizinisch-therapeutischer Sachverstand, die "Ernsthaftigkeit" und "Stimmigkeit" des transsexuellen Begehrens zu überprüfen.
Therapie und Alltagstest spielen nicht nur eine zentrale Rolle im Rahmen der Diagnose. Sie sind auch allen somatischen Therapiemaßnahmen vorangestellt. D.h. sie sind nicht nur Voraussetzung für die Zulassung zur Operation, sondern auch für die Vergabe von Hormonen. Da auch Hormone zu endgültigen Veränderungen des Körpers führen, herrscht hier die gleiche Angst vor Fehleinschätzungen vor wie bei der Zulassung zur Operation. Bevor mit der Hormonvergabe begonnen werden kann, muss eine einjährige Therapie nachgewiesen werden. Ziel der Therapie ist neben der Bestätigung der Diagnose der Nachweis, dass die betroffene Person sich eigentlich "schon immer", spätestens jedoch seit dem Abschluss ihrer psychosexuellen Entwicklung dem anderen Geschlecht zugehörig gefühlt hat. Die "innere Stimmigkeit und Konstanz des Identitätsgeschlechts und seiner individuellen Ausgestaltung" (Becker et al. 1997: 150, m.H.) muss sowohl im Rahmen der Therapie als auch im Rahmen des Alltagstests demonstriert werden. Dadurch wird die Tatsache des Geschlechtswechsels, den Transsexuelle vornehmen, geleugnet. Es findet kein Wechsel statt, sondern der Körper wird lediglich einer bereits existierenden Identität angepasst.
In der Soziologie wird im Gegensatz zu dieser Vorstellung von geschlechtlicher Identität normalerweise davon ausgegangen, daß eine Person ihr Geschlecht nicht nur für sich alleine, sondern auch und vor allem in der Interaktion mit anderen lebt. Geschlechtliche Identität ist nicht etwas, das man einfach hat. Im Gegenteil, die Geschlechtsidentität wird erst durch das Leben in einem bestimmten Geschlecht langsam herausbildet und konsolidiert (Lindemann 1993,1997; Hirschauer 1993; Kessler/McKenna 1978). Die deutschen Standards machen mit dem geforderten Nachweis der Stimmigkeit und Konstanz des Identitätsgeschlechts etwas zur Voraussetzung, was nach einem Geschlechtswechsels und dem Einnehmen der neuen Geschlechtsrolle überhaupt erst langsam entsteht. Eine bereits im Vorfeld des Geschlechtswechsels bestehende Stimmigkeit des Identitätsgeschlechts zur Bedingung für die Vergabe von Hormonen zu machen diskriminiert außerdem diejenigen, deren körperliches Erscheinungsbild relativ weit von den gängigen Vorstellungen über ihr Identitätsgeschlecht entfernt ist. Hormone verändern das Erscheinungsbild weitaus tiefgreifender als die Operation, sie sorgen durch die Veränderung von Stimme, Haut, Körperfettverteilung und Muskeln für ein stimmiges Gefühl im Identitätsgeschlecht und erleichtern so den Geschlechtswechsel erheblich (Bullough/Bullough 1998).
Transgender
Die deutschen Standards sind insgesamt so gestaltet, daß das Kongruenzgebot und das Unveränderlichkeitsgebot durch den Geschlechtswechsel Transsexueller nicht in Frage gestellt werden. Zwangstherapie und Zwangsoperation schließen ein auf Lebenssituation, Biographie und Phantasie der betroffenen Person aufbauendes Auffinden individueller Lösung aus. Es ist nicht vorgesehen, in unterschiedlichem Ausmaß von Hormonen und operativen Veränderungen Gebrauch zu machen. Dass es aber genau um das Auffinden solcher individueller Lösungen geht, wird durch die Transgenderbewegung deutlich, deren politisches coming out in den USA zu einer Reihe von Veränderungen geführt hat, die von manchen - vielleicht etwas voreilig - bereits als gender revolution bezeichnet werden (Denny 1998). Doch selbst wenn das Ausmaß der Veränderung noch nicht einer Revolution gleichkommt: Das Paradigma der zweigeschlechtliche Ordnung wird durch Lebenspraxen und politische Forderungen von Transgenderisten in Frage gestellt. Andere Möglichkeiten der Geschlechtsidentität werden somit denkbar, zum Beispiel, als Frau mit Penis zu leben, oder das Geschlecht mehrere Male zu wechseln. Oder auch, die Fruchtbarkeit im Ausgangsgeschlecht nicht aufzugeben und so vielleicht als Mann mit Gebärmutter und Eierstöcken gebärfähig zu sein. Im Zentrum der Forderungen und Lebenspraxen steht die Subjektivität der Betroffenen, die ihre Geschlechtsidentität nicht länger dem "normalen" Verständnis von Mann- und/oder Frausein unterordnen. Als ein erster Erfolg der politischen Transgenderbewegung kann die Abschaffung von Zwangstherapie und Zwangsoperation in der überarbeiteten Fassung der klassischen Behandlungsstandards, der "Standards of Care" von 1998 gewertet werden. Mit dem Abrücken vom Kongruenz- und Unveränderlichkeitsgebot werden zwei zentrale Säulen der zweigeschlechtlichen Ordnung untergraben. Die Benjamin-Standards tragen der Tatsache Rechnung, dass es ein Kontinuum von Geschlechtern gibt, in dem es auch zu ungewohnten Kombinationen von Genitalien und Geschlechtsidentität kommt.
Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung der deutschen Standards erschienen, stellt die fünfte überarbeitete Version der Standards of Care for Gender Identity Disorders (kurz: Benjamin-Standards) der Harry Benjamin International Gender Dysphoria Association (HBIGDA) einen entscheidenden Schritt vorwärts auf dem Weg hin zu mehr geschlechtlicher Selbstbestimmung dar. Die bis 1998 gültige vierte Version der Benjamin-Standards von 1990 - inhaltlich den deutschen Standards von 1997 sehr ähnlich - war seit Beginn der 90er Jahre heftig diskutiert und kritisiert worden. Die Kritik der Betroffenen richtete sich zum einen gegen die von den Standards unterstützte Definition von Transsexualität als Geisteskrankheit, zum anderen ging es um das körperliche Selbstbestimmungsrecht von Transsexuellen. Zu Beginn der 90er Jahre argumentieren die Benjamin-Standards lediglich aus der Sicht der Medizin und stellen die Einhaltung von bestimmten professionellen Standards ähnlich wie die deutschen Standards von 1997 in den Mittelpunkt: Auf der Grundlage einer genauen Diagnose erfolgt eine Behandlung und somit ein körperlicher Eingriff, der das Befinden der PatientInnen aller Voraussicht nach verbessern wird. In der Version von 1998 dreht sich diese Perspektive in ersten Ansätzen um. Nun wird von den PatientInnen ausgegangen: Voraussetzung für jede Form von Eingriff ist deren Zustimmung, die auf der Grundlage ausreichender Information erfolgt.
Mit der 98er-Version der Benjamin-Standards kommt es zu einem Abrücken von der medizinzentrierten Begründungsform. Diese Veränderung kann als Ergebnis der von Betroffenen geübten Kritik und als erster Erfolg einer Einmischung der Transgendergemeinschaft in den wissenschaftlichen Diskurs gewertet werden.
Zu den Veränderungen in der überarbeiteten Version gehört weiter, dass die Unterscheidung zwischen "echten" und "falschen" Transsexuellen aufgegeben wird. Das Kriterium der Unterscheidung zwischen echten und nicht-echten Transsexuelle war der Operationswunsch, der in den deutschen Standards immer noch festgeschrieben ist. Durch den Verzicht auf eine Definition von Transsexualität umgehen die Benjamin-Standards das Problem der Vereinheitlichung und Homogenisierung von Transsexuellen.
Weiterhin sind Medizin und Psychiatrie nicht automatisch für die Behandlung von Unsicherheiten und Problemen in bezug auf Geschlechtsidentität zuständig, sondern nur dann, wenn das Befinden einer Person dauerhaft beeinträchtigt ist. Die Benjamin-Standards verweisen auf die vielen unterschiedliche Formen, in denen es zu solchen Beeinträchtigungen kommen kann. Unter denjenigen, die mit ihrer zugewiesenen Geschlechtsidentität unzufrieden sind, gibt es lediglich einige, die den dauerhaften Wunsch nach einer operativen Veränderung des Körpers besitzen. Damit wird der in der Transgendergemeinschaft gelebten Vielfalt von Körpern und Geschlechtern Rechnung getragen. Die Operation ist nicht länger das ultimative Ziel jeder Geschlechtsumwandlung.
Und die therapeutische Begleitung ist nicht absolut notwendiger Bestandteil des Geschlechtswechsels. Sie ist keine notwendige Voraussetzung für die Hormonvergabe und auch nicht für eine eventuelle Operation. Therapeutische Betreuung wird lediglich empfohlen. Die Festschreibung einer bestimmten Dauer der Therapie, wie sie die deutschen Standards vornimmt (mindestens 1 Jahr vor der Vergabe von Hormonen, mindestens 11/2 Jahre vor einer Operation), wird abgelehnt, da eine solche Restriktion den individuellen Unterschieden keinen Raum läßt. Das Ziel der Therapie ist nicht die Bestätigung der Diagnose wie in den deutschen Standards, sondern die Aufklärung der Betroffenen über verschiedene Möglichkeiten, das Leben im Wunschgeschlecht zu realisieren. Auch damit, daß die Benjamin-Standards explizit nicht vom Alltagstest, sondern von der Alltagserfahrung sprechen, legen sie den Schwerpunkt auf die Perspektive der Betroffenen. Es geht nicht darum, die eigene Diagnose zu testen, sondern darum, dass Betroffene Erfahrungen mit dem Leben im neuen Geschlecht machen. Ein Alltagstest wird abgelehnt, da er die Fähigkeit zur erfolgreichen Anpassung an das neue Geschlecht mit dem Vorhandensein einer Geschlechtsidentitätsstörung gleich setzt. Über den Zeitpunkt, an dem das Leben in der gewünschten Geschlechtsrolle auch im Alltag umgesetzt werden soll, entscheiden die Betroffenen selbst. Als Ziel der Behandlung insgesamt wird nicht die Übereinstimmung von Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität definiert, sondern die persönliche Zufriedenheit der behandelten Person. Insgesamt orientieren sich die Benjamin-Standards stärker an den Lebensproblemen der Betroffenen als die deutschen Standards. Sie schreiben weder Therapie noch Operation vor. Damit wird zugelassen, dass es Abweichungen von den vorherrschenden Regeln über Geschlechtlichkeit gibt. Transsexuelle, die ihr Geschlecht auch ohne Therapie und/oder Operation leben können, werden nicht dazu gezwungen, den Geschlechtswechsel durch den Bezug auf ein "eigentlich immer schon" ungeschehen zu machen und den Körper und das Wunschgeschlecht den gängigen Regeln nach miteinander zu kombinieren.
Seit 1997 ist die Transgendergemeinschaft durch die Wahl zweier ihrer Vertreterinnen in den Vorstand der Harry Benjamin International Gender Dysphoria Association (HBIGDA) auch institutionell verankert und offiziell dazu eingeladen, sich an der Diskussion über die endgültige Version der Benjamin-Standards zu beteiligen (Stryker 1998: 146). Damit findet die jahrelange Ignoranz und Abwertung der Meinungen Betroffener zumindest in ersten Ansätzen ein Ende. Wie ist es zu dieser Anerkennung und dem Einfluß auf den medizinischen Diskurs gekommen? Ein neues Verständnis von Geschlecht, besonders im Umgang mit Transsexualität, wurde im Verlauf der neunziger Jahre an verschiedenen Orten sichtbar. So entstand Mitte der Neunziger die International Bill of Gender Rights, die sich als Ergänzung zu den gängigen Menschen- und Bürgerrechten versteht und die allen Menschen das Recht zuspricht, ihre Geschlechtsidentität unabhängig von Chromosomen, Genitalien, Geschlechtszuweisung bei der Geburt oder ursprünglicher Geschlechtsrolle frei zu wählen. Auch das Recht auf die Selbstbestimmung körperlicher Veränderungen wird hier eingeklagt. Ebenfalls Mitte der Neunziger wurden die sogenannten "Health Law Standards of Care for Transsexualism" entworfen, die sich als Alternative zu den Benjamin-Standards verstehen und von einem Selbstbestimmungsrecht der geschlechtlichen Identität und der körperlichen Veränderungen ausgehen.
Weiterhin sorgen eine ganze Reihe von Organisationen für die Verbreitung der Transgender-Idee, so zum Beispiel der American Educational Gender Information Service AEGIS, die International Foundation of Gender Education, die Intersex Society of North America oder Press for Change aus England, um nur einige zu nennen. Neu ist, daß seit Beginn der 90er Jahre in der Wissenschaft viele Beiträge von Leuten verfaßt werden, die sich selbst zur Transgender-Gemeinschaft zählen (Denny 1998, Stone 1991, Stryker 1998).
Als akademisches Unterfangen haben die Transgender Studies sich zum Ziel gesetzt, anders als die gängigen medizinisch-juristischen oder moralisch-wertenden Diskurse mit dem Thema Geschlechtsidentität umzugehen.
Unter dem Label Transgender findet eine positive Identifikation mit der eigenen Geschichte statt. Ziel ist nicht länger, den Geschlechtswechsel unsichtbar zu machen, um damit umso natürlicher als Mann bzw. Frau zu erscheinen. Damit findet die jahrelang Praxis Transsexueller ein Ende, nach dem Geschlechtswechsel möglichst völlig in der neuen Geschlechtsrolle aufzugehen und die eigene Geschichte zu leugnen. Der alte, zumindest die öffentliche Wahrnehmung bis vor kurzem dominierende Umgang mit Transsexualität ließ (und läßt) sich ohne Probleme in die zweigeschlechtliche Ordnung integrieren. Selbst wenn es Leute gab, die anders mit ihrem Wunschgeschlecht umgegangen sind, so traten sie nicht an die Öffentlichkeit. Die offene Identifikation als Transgenderist ermöglicht es, auch nach dem erfolgreichen Geschlechtswechsel für die Überwindung der binären Geschlechterordnung einzutreten. Neben die bislang erzählte Geschichte von Männern, die schon als kleine Jungs am liebsten mit Puppen spielten, sich heimlich die Kleider ihrer Mütter anzogen und für die eine Operation das Erreichen all ihrer sehnlichsten Wünsche darstellte (z.B. Morris 1974), treten nicht nur Darstellungen des Übergangs in die andere Richtung, also von Mann zu Frau (z.B. Feinberg 1993), sondern auch solche, die Ambiguität gegenüber Kontinuität betonen (Bornstein 1994). Damit wird auch außerhalb der Wissenschaft und Selbsthilfeorganisationen in den Medien eine andere Geschichte vom Übergang erzählt und somit sichtbar. Das trans bleibt nicht länger auf die Phase des Übergangs von einem zum anderen Geschlecht beschränkt, es wird zu einer Identitätskategorie, in die Differenz und Diskontinuität von Anfang an eingeschrieben sind. Es gibt keine naturalistische Fundierung mehr von Geschlecht, und es gibt keine eindeutige und dauerhafte Zuordnung nach dem Raster der Hetero- bzw. Homosexualität.
… und der Rest?
Transgender ist eine politische Bewegung, deren Zeit gekommen ist. Bislang allerdings noch nicht in Deutschland. Hier gibt es nur wenige Foren, in denen Transgenderisten für das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung eintreten. Besonders die Wahrnehmung von Transsexuellen ist nach wie vor von der Idee des "falschen Körpers" dominiert, den es auf jeden Fall zu korrigieren gilt. Das zeigt sich u.a. auch daran, daß die Reaktion der Betroffenen auf die in den deutschen Standards festgeschriebene Operation und Therapie bestenfalls verhaltene Kritik (Transidentitas 1997), schlechtestenfalls offene Zustimmung war (Schiffels 1997). Die Zwangsoperation wird kaum in Frage gestellt, und auch gegen eine Pathologisierung durch die Zwangstherapie sprechen sich bislang nur wenige Betroffene aus. Die deutschsprachigen Webpages zum Thema Transsexualität sind dominiert von Tipps und Tricks für einen erfolgreichen Geschlechtswechsel - erfolgreich im Sinne von im Nachhinein unsichtbar.
Ein weiteres Problem scheint zu sein, dass im Deutschen der Begriff Transgender synomym mit Transsexualität verwendet wird. Damit geht die Öffnung hin zu anderen Gruppen, die mit der zweigeschlechtlichen Ordnung zu kämpfen haben, und damit auch die grundsätzliche Infragestellung dieser Ordnung tendenziell verloren. Wenn über Möglichkeiten einer Transgenderbewegung in Deutschland nachgedacht wird, dann sollte von Anfang an das gesamte Spektrum der potentiellen Bewegung in all seinen Differenzen und Widersprüchen berücksichtigt werden. So wird z.B. gerade am Umgang mit Intersexuellen oder Zwittern die Brutalität, mit der die Eindeutigkeit der zweigeschlechtlichen Ordnung immer wieder hergestellt wird, besonders deutlich. Für die USA zeichnet Cheryl Chase in "Hermaphrodites With Attitude" (1998) anhand ihrer eigenen Geschichte nach, wie schmerzhaft Hermaphropditen die Anforderungen der zweigeschlechtlichen Ordnung zu spüren bekommen. Bei Kindern, die mit uneindeutigen äußeren Geschlechtsmerkmalen zur Welt kommen, wird durch die Medizin die Zuweisung eines Geschlechts vorgenommen. In 90% der Fälle wird dabei das weibliche Geschlecht gewählt, da dieses medizintechnisch "leichter" herzustellen ist (Chase 1998: 192). Der Körper wird operativ an das gewählte Geschlecht angepasst, und dabei wird in Kauf genommen, daß viele Patientinnen ihre sexuelle Empfindsamkeit einbüßen. Den Eltern wird normalerweise dazu geraten, gegenüber dem Kind Stillschweigen über den wahren Charakter der operativen und sonstigen medizinischen Eingriffe zu bewahren. Ab der Pubertät und im Erwachsenenalter auftretende körperliche oder sexuelle Probleme können so oft nur mit Mühe auf ihre eigentliche Ursache zurückgeführt werden, da die medizinischen Unterlagen meist nur sehr schwer zugänglich sind.
 In der BRD setzt sich die Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie, kurz AGGPG, für die Beendigung geschlechtszuweisender Maßnahmen an Kindern ein. Laut Michel Reiter, Mitbegründer der AGGPG, erfährt in Deutschland etwa jedes 2000ste Neugeborene medikalisierte Zuweisungen (Reiter 2000).
 Die Politik der AGGPG zeigt insofern erste Erfolge, als dass es zur Zeit zu einer vermehrten Thematisierung der Existenz von Zwittern in den Medien und damit im öffentlichen Bewußtsein kommt. Die Forderung nach Selbstbestimmung tritt dabei bedauerlicherweise oft hinter die Beschreibung von spektakulären Einzelfallschicksalen zurück.
Auch im queeren Spektrum wird seit Anfang der 90er Jahre die Forderung nach geschlechtlicher Selbstbestimmung nicht nur in Bezug auf das Begehren, sondern auch auf den Körper, laut. Es geht nicht mehr nur um die Anerkennung von Homosexualität, sondern um das Zulassen von Geschlechtern und Körpern, die innerhalb des homosexuellen Spektrums für Durcheinander sorgen. So thematisiert Halberstam (1998) mit dem Begriff der "Transgender Butch" die Schwierigkeiten, überhaupt zwischen Frau-zu-Mann-Transsexuellen und Frauen, die als Lesben mit einer männlichen Identität leben, zu unterscheiden.
Eine zunehmende Zahl von Lesben, die hart an der Grenze zum passing leben, also auf den ersten Blick eher als Mann denn als Frau gelesen werden, treten mit ihrer Identität an die Öffentlichkeit.
 Am Beispiel des Michigan Womyn's Music Festival, dem größten, vorwiegend lesbischen Frauenfestival der USA, lässt sich ebenfalls zeigen, wie trans und queer gängige Identiätsmuster unterwandern. Seit im Jahr 1991 Transsexuellen der Zugang zu diesem Festival verweigert wurde, gab es beständige Auseinandersetzungen um die Frage, wer wann wie eine richtige Frau sei und damit Zugang zum Festival hat. Aus Protest gegen ihren Ausschluß organisierten Transgenderisten 1995 ein Camp Trans vor den Eingangstoren des Festivals und protestierten damit gegen eine "womyn-born-womyn-only"-Türpolitk. Sehr schnell verliefen die Konfrontationslinien nicht mehr nur zwischen Festivalteilnehmerinnen und Camp-Aktivistinnen, die Spannungen zwischen verschiedenen Varianten des "FrauSeins" kamen ebenfalls zu Tage. So solidarisierten sich beispielsweise stone butches mit den Transgenderisten, da ihre Geschlechtsdarstellungen ebenfalls mit einer auf Weiblichkeit basierenden Ausschlusspolitik kollidieren. Der Begriff queer trägt diesen Veränderungen und Spannungen innerhalb der schwul-lesbischen Szene Rechnung und ist damit nicht als einfaches Substitut für homosexuell zu verstehen. Er steht in beständiger Spannung und in theoretischer wie politischer Verbindung zu Transgender.
Es gibt also mindestens drei Perspektiven, die der Begriff Transgender umfasst: Transsexualität, Intersexualität und Queer. Die Gemeinsamkeit der verschiedenen Strömungen und Bewegungen der US-amerikanischen Transgenderbewegung liegt in der Kritik der hegemonialen zweigeschlechtlichen Ordnung. Trotz dieser Gemeinsamkeit müssen jedoch auch die Differenzen sichtbar bleiben: Transsexualität ist nicht dasselbe wie Intersexualität, und das Verhältnis zwischen Transgender und Queer und der Lesben- und Schwulenbewegung wirft wiederum eigene Fragen auf. Wenn es also um die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer Transgenderbewegung in Deutschland gehen soll, wären diese Verbindungen und Spannungen sowohl theoretisch als auch praktisch von Anfang an zu reflektieren.
Auch hier wäre es an der Zeit, daß es zu einem Brüchigwerden der zweigeschlechtlichen Ordnung kommt. Und dies nicht nur im Interesse von Mann-zz-Frau- und Frau-zu-Mann-Transsexuellen, drag kings und drag queens, Zwittern oder Schwulen und Lesben im queeren Spektrum, sondern auch im "ganz normalen" Alltag. Dies wird spätestens dann klar, wenn jedefrau und jederman sich mit der Frage nach den eigenen geschlechtlichen und körperlichen Unstimmigkeiten im Vergleich zu dominanten Vorstellungen von "Frau" und "Mann" konfrontiert und darüber nachzudenken beginnt, wie es um die eigene geschlechtliche Identität und Praxis wohl bestellt sei, wäre es nie zu Abstrafungen für nonkonformes Verhalten gekommen. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Das Menschliche

Die Kirchen, schweigen nicht aus Scharmützel über Missbrauch, nein haben Angst um die Glaubwürdigkeit!

Von oben gesehen sind wir alle Zwerge und von unten alle Riesen.... Wir müssen die horizontale Vision, die solidarische Vision zurückgewi...