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Rothenbächer 2012
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Das Schweigen der
Transsexuellen
Das Europäische Parlament hat die andauernde
Pathologisierung transsexueller Menschen auch in der EU scharf verurteilt, aber
darüber spricht man nicht
Liebe Leserin, lieber Leser, stellen Sie sich bitte vor,
wildfremde Menschen sprechen Sie auf Beschaffenheit und Zustand Ihrer
Genitalien an. Stellen Sie sich bitte vor, Sie wären der Gegenstand
einer zotigen Geschwätzigkeit, die Sie auf ein sexuelles Begehren reduziert,
das Sie nicht einmal empfinden. Stellen Sie sich bitte vor, dass dieses
Geschwätz an Ihnen haftet wie das Miasma an den von den Göttern Verfluchten in
der griechischen Mythologie. Die Blicke. Das Grinsen. Der Hohn. Wohin
Sie auch gehen, was Sie auch tun und sagen.
Stellen Sie sich bitte vor, dass eine Gruppe von Menschen, der Sie
angehören, ständig von anderen – zum Beispiel den Medien - definiert und
charakterisiert wird, Sie nicht einmal zu Wort kommen, und das ewige Thema des
verbalen Bombardements wäre Sex. Ihr Sex. Der Sex in Ihrem Kopf, der Sex, den
Sie begehren, der Sex, den sie praktizieren.
Dagegen würden Sie sich verwahren.
Darüber spricht man nicht. Es wäre eine unerträgliche
Zumutung, unter diesen Umständen zu leben, zu arbeiten, einkaufen zu gehen,
einen Spaziergang zu machen.
Es gibt eine Gruppe von Menschen, die das täglich ertragen muss. Man
bezeichnet sie als Transsexuelle. Über das, worüber man nicht spricht, spricht
man unaufhörlich, wenn es um sie geht. Wessen Stimmen nicht gehört werden, sind
ihre eigenen.
Auf den ersten Blick wirkt es vielleicht erstaunlich, wenn
das unaufhörliche Geschwätz über Transsexuelle sorgsam einen bestimmten
Sachverhalt zu umgehen scheint. Dies ist selbst dann der Fall, wenn das
Geschwätz über Transsexuelle nicht als Geschwätz bezeichnet werden kann, weil
die entsprechende Äußerung beispielsweise eine Urteilsbegründung ist.
Die Gemeinsamkeit, die solche Äußerungen mit dem Geschwätz haben, besteht
darin, dass andere über Transsexuelle sprechen und diese zu schweigen haben. Was
sparen die Aussagen aus? Was ist es, worüber man nicht spricht?
Es ist die Grundlage und das zentrale Element eines
unaufhörlichen öffentlichen Diskurses über "Geschlechtsumwandlungen",
"Männer, die Frauen sein wollen", eben die
"Transsexuellen", wie die deutsche Öffentlichkeit sie wieder und
wieder gleichförmig konstruiert. Es ist die "wissenschaftliche" Basis
des Transsexuellengesetzes und jeglicher Rechtsprechung hinsichtlich dieser
konstruierten "Transsexuellen". Es ist ihre Pathologisierung.
Die Richter ohne
Roben
Die unrühmliche Geschichte der Psychiatrie von einem Organ
der öffentlichen Hygiene bis zum "medizinischen Richteramt über jegliches
menschliche Verhalten" hat Michel Foucault in seinen Vorlesungen am
Collège de France 1974 – 1975 nachgezeichnet.
1851 entdeckte der Psychiater Cartwright in den Südstaaten
eine Geisteskrankheit, die nur unter Menschen mit schwarzer Hautfarbe auftrat,
die Drapetomanie. Diese Geisteskrankheit – entsprechend zur Epoche eine Manie –
bestand aus dem irrationalen Wunsch, frei zu sein, und der Tendenz, davonlaufen
zu wollen. Cartwright, sich auf das göttlich verkündete natürliche Verhältnis
zwischen Menschen weißer und schwarzer Hautfarbe berufend, empfahl wirksame
Abhilfe. Sie bestand darin, keinesfalls Sklaven wie gleichwertige Menschen zu
behandeln, und sie von Zeit zu Zeit gründlich auszupeitschen.
Seit Cartwrights
Zeiten haben die Psychiatrie und ihre jüngere Schwester, die Psychologie,
zweifelsfrei Fortschritte gemacht:
Dass dann innerhalb des Nationalsozialismus die deutsche
Psychiatrie so gut funktioniert hat ist nichts Erstaunliches. Der neue
Rassismus (...) als Mittel innerer Verteidigung einer Gesellschaft gegen ihre
Anormalen, ist aus der Psychiatrie hervorgegangen, und der Nationalsozialismus
hat nichts weiter getan, als diesen neuen Rassismus in den im 19. Jahrhundert
endemischen ethnischen Rassismus einzuklinken. (...) Aber selbst dort, wo sie
(...) die rassistische Einvernahme abgeschüttelt oder gar nicht wirklich
vorangetrieben hat, selbst dort noch hat die Psychiatrie seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts im wesentlichen immer als Mechanismus und Instanz zur Verteidigung
der Gesellschaft funktioniert (...) oder, um die Ausdrucksweise des 19.
Jahrhunderts aufzugreifen, als "Jagd nach Entarteten".
Michel Foucault
Spuren sowohl personeller als auch inhaltlicher Natur, die
von der Psychiatrie im Dritten Reich zur Pathologisierung von Transsexuellen im
heutigen Deutschland führen, sind auffindbar. Dies dürfte einer der Gründe
für das Schweigen inmitten des Geschwätzes sein.
Ein weiterer Grund besteht aus dem Widerspruch zwischen den
Menschenrechten und dem deutschen Transsexuellengesetz (TSG). Bereits 2007
legten die Yogyakarta-Prinzipien (Prinzip 18) zweifelsfrei fest, dass kein
Mensch wegen seiner Gender-Identität gezwungen werden darf, sich medizinischer
oder psychologischer Behandlung, Untersuchung oder sonstiger Prozeduren zu
unterziehen. Allen gegenteiligen Kategorien zum Trotz, so heißt es dort, stellt
Gender-Identität keine "medical condition" (Erkrankung, Störung) dar.
Staaten werden (Prinzip 18, F) dazu aufgefordert, sicherzustellen, dass keine
medizinische oder psychologische Beratung oder Behandlung von Gender-Identität
als psychischer Störung ausgeht.
Das deutsche Transsexuellengesetz beruht auf der Einordnung
von Transsexualität als psychische Störung. Das Gesetz erzwingt eine
mehrstufige psychologisch-psychiatrische Gutachtensprozedur, während welcher
die Betroffenen den Gutachtern völlig ausgeliefert sind. Von
Betroffenen erstellte Menschenrechtsberichte legen dar, wie man sich den
Verlauf dieser Prozedur vorzustellen hat.
2009 erklärte Prof. Silvia Pimentel, Angehörige des
CEDAW-Komitees der UNO (Convention on the Elimination of all Forms of
Discrimination against Women) anlässlich der Anhörung Deutschlands, es sei ein
Paradoxon, dass transsexuelle Frauen zu geistesgestörten Männern erklärt
werden, um als Frauen akzeptiert zu werden. Sie forderte die Beendigung des
Gutachterverfahrens nach dem deutschen TSG. In einem gemeinsam verfassten Bericht
legten zehn deutsche NGOs gegenüber dem CEDAW-Kommitteee 2011 dar, dass die
angemahnten deutschen Aktivitäten hinsichtlich des TSG sich bislang auf eine
Broschüre erstrecken, die als Feigenblatt gegenüber der UNO angesehen werden
kann. Ebenfalls im Jahre 2009 hatte sich der Kommissar für Menschenrechte des
Europarats veranlasst gesehen, ein Themenpapier zu Menschenrechten und
Gender-Identität herauszugeben.
Das Bundesverfassungsgericht erklärte nun im Januar 2011,
die "Fachwelt (sei) inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, dass
geschlechtsumwandelnde Operationen auch bei einer weitgehend sicheren Diagnose
der Transsexualität nicht stets indiziert sind". "Weitgehend sichere
Diagnose", aber durch wen? Nicht etwa seitens der Betroffenen selbst,
denen man keinesfalls zugestehen kann, sie wüssten selbst am besten über sich
Bescheid. Weiter:
Die Dauerhaftigkeit und Irreversibilität des empfundenen
Geschlechts eines Transsexuellen lässt sich nicht am Grad der Anpassung seiner
äußeren Geschlechtsmerkmale an das empfundene Geschlecht mittels operativer
Eingriffe messen, sondern ist daran festzustellen, wie konsequent der
Transsexuelle in seinem empfundenen Geschlecht lebt und sich in ihm angekommen
fühlt.
Bundesverfassungsgericht
Wiederum: Wer stellt das fest? Ganz sicher nicht die
Betroffenen selbst. Die "Fachwelt", auf die sich das
Bundesverfassungsgericht bezieht, besteht aus denjenigen Psychiatern und
Psychologen, welche die "Wissenschaft" für die Pathologisierung
transsexueller Menschen produziert (s. The World Professional Association for
Transgender Health (WPATH)). Diese "Fachwelt" nimmt aktiv Einfluss
auf die deutsche Gesetzgebung.
Gleichwohl wird in der Urteilsbegründung zweierlei –
schamhaft? – verschwiegen. Erstens, dass das Urteil implizit an der Einstufung
von Transsexualität als Störung festhält; dass die "Fachwelt" zur
Fundierung des Urteils herangezogen wird und deren "wissenschaftliche
Erkenntnisse" seine inhaltliche Grundlage darstellen; dass die
Menschenrechte von Menschen, deren geschlechtliche Identität von dem bei der
Geburt zugewiesenen Geschlecht abweicht, schlicht ignoriert werden. Zweitens,
dass "Nicht-Transsexuelle" (einschließlich der Richter und der
"Fachwelt") "natürlich" kein "empfundenes"
Geschlecht haben – sondern ein "echtes"? Oder vielleicht ein
"normales" im Gegensatz zum "anormalen"?
Jedenfalls spricht das Bundesverfassungsgericht von "
geschlechtsumwandelnde(n) Operationen" – statt von
"geschlechtsangleichender Behandlung". Wenn jemand "in
Wirklichkeit" ein Mann ist, der "eine Frau sein will" und nach
hinreichender jahrelanger Unterwerfung unter Psychologen und Psychiater
"seinen" Willen bekommt, so erfährt "er" eine Umwandlung.
Wenn es aber um eine Frau geht, deren Geschlechtszugehörigkeit in ihrem
Bewusstsein und ihrem Gehirn verortet ist, der aber gleich nach ihrer Geburt
von einem Mediziner nach Betrachtung ihrer Genitalien das Geschlecht
"männlich" zugewiesen wurde – dann geht es hier um eine Angleichung.
Es stellt sich die Frage, wer hier in Wirklichkeit Recht spricht – die
Richter mit den Roben, oder die Richter ohne Roben?
In Verteidigung der Gesellschaft
Warum werden unter Zuhilfenahme von Psychiatrie und
Psychologie Menschenrechte ignoriert?
Es wäre vielleicht angebracht, die Perspektive zu erweitern.
Psychiatrie und Psychologie verteidigen etwas durch die Pathologisierung von
Menschen mit einer Geschlechtsidentität, die von ihrem zugewiesenen Geschlecht
abweicht.
Julia Serano spricht von einer Devaluierung von Transfrauen,
die darauf gründet, dass diese sich an der Schnittstelle dreier Phänomene
befinden: Transphobie, Cisgenderismus und Misogynie. Transphobie ist
Feindseligkeit gegen Trans-Menschen. Cisgenderismus ist das Machtverhältnis von
Menschen, deren Geschlechtsidentität dem zugewiesenen Geschlecht entspricht, gegenüber
Trans-Menschen. Cisgenderismus ist ein Privileg in Aktion: das beurteilende,
verurteilende, sexualisierende Geschwätz derer, für die dabei nichts auf dem
Spiel steht, über diejenigen, für die dabei alles auf dem Spiel steht. Hin und
wieder generiert das Geschwätz Schläge, Vergewaltigungen, Messerstiche,
Schüsse. Immer zementiert es eine fundamentale Ungleichheit.
Diejenigen Menschen, die in den maßgeblichen
Vorgängerkulturen der westlichen Gesellschaften (Griechenland, Rom,
christliches Mittelalter) in einer vergleichbaren Situation waren wie
Transfrauen im heutigen Deutschland, waren – Frauen.
Nach dem Fall des mittelalterlichen Ordo wurde "die
Frau" in die "Natur" eingeschrieben und unter dem Gesichtspunkt
der Bevölkerungspolitik einem Prozess der Wissensakkumulation unterworfen.
Aufgrund ihrer zentralen Rolle für die Reproduktion, aber auch aufgrund ihrer
Funktion als gesellschaftspolitisch ohnmächtige Arbeitskräfte wurden Frauen
einem normativen Sub-System unterworfen, das sie an ihrer Attraktivität als
sexuelle Objekte, ihres Unterwerfungsgrads unter Männer, ihres Gebärvermögens
und ihrer Arbeitsleistung maß.
Medizin, Psychiatrie, Psychologie sowie ein spezielles
schichtenspezifisches Sub-Bildungssystem gewährleisteten eine lückenlose
Überwachung und die jederzeit gegebene Möglichkeit der Verhaltenskorrektur.
Gleichzeitig bewegten sich Frauen von der Kontrolle durch Männer (Väter,
männliche Blutsverwandte) unter die Kontrolle anderer Männer (Ehemänner) oder
mussten Statusverluste hinnehmen. Männer (Ärzte, Psychiater) oder speziell dazu
ausgebildete Frauen (Lehrerinnen, Aufseherinnen) flankierten dies außerhalb der
blutsverwandtschaftlichen oder ehelichen Verhältnisse und stellten gleichzeitig
die Verfügungsgewalt jeweils eines Mannes (Vater, Vormund, Ehemann) über die
jeweilige Frau sicher. Das schichtenspezifisch differenzierte
Sub-Verhaltensregime, dem Frauen unterworfen waren, unterdrückte die Frauen
nicht, es brachte die Frau als Kategorie hervor.
Der Status des Anderen – des Menschen, über den man spricht
und der nichts zu sagen hat - ermöglicht eine bestimmte Form der Abwertung von
Menschen, die Sexualisierung. Sexualisiert können nur Menschen werden, die den
Status des Anderen innehaben. Der Grad dieses Status entspricht dem Grad der
Sexualisierbarbeit. Sexualisierung bedeutet, dass Wert und Status eines
Menschen an seiner sexuellen Attraktivität gemessen wird. Sexualisierung
bedeutet, dass der sexualisierte Mensch zu einem Objekt zum sexuellen Gebrauch
reduziert wird.
Das in die "Natur" eingeschriebene bipolare
Geschlechterschema verdankt seine Existenz der in die "Natur"
eingeschriebenen Kategorie Frau. Die Zuweisung des Status "Mann" oder
"Frau" ist darum an bipolare Kategorisierung der Genitalien durch
Mediziner bei der Geburt eines Menschen festgemacht. Um "natürliche"
Statusunterschiede zwischen Menschen unveränderbar festzuschreiben, muss das
bipolare Geschlechtsschema in dieser Form existieren.
Transfrauen sind Frauen. Die "Fachwelt" (also die
pathologisierende Psychiatrie und Psychologie) erklärt sie zu geistesgestörten
Männern und zwingt sie im Gutachterverfahren zu Hyper-Femininisierung und
Hyper-Sexualisierbarkeit – sie müssen ihre "Weiblichkeit", ihr
"Frau-Sein" ununterbrochen unter Beweis stellen.
Hier geht es um mehr als um die "Jagd nach
Entarteten" in Verteidigung der Gesellschaft. Es geht darum, dass die
"Fachwelt" definiert, was "richtige Frauen" sind und welche
Eigenschaften sie aufzuweisen haben. Das TSG-Regime ist eine der letzten
Bastionen eines dehumanisierenden und sexualisierenden Anti-Feminismus, einer
institutionalisierten und "wissenschaftlich" abgesicherten Misogynie.
Es generiert unter Zwang hypersexualisierte Super-Frauen und dem Spott
preisgegebene Vogelscheuchen, die in Film und Fernsehen immer wieder für einen
Lacher gut sind. Zu wessen Disziplinierung, zu wessen Normalisierung?
Transsexualität als "Störung" ist die Drapetomanie
des 21. Jahrhunderts. Ebenso wie bei der Drapetomanie geht es darum, eine
Menschengruppe durch Pathologisierung dauerhaft zu unterwerfen, ihr den Status
des Anderen dauerhaft zuzuweisen und sie in Verteidigung der Gesellschaft
stumm, ohnmächtig und nützlich zu machen.
Nützlich wozu? Zur Verteidigung eines bipolaren
Geschlechtsschemas, dessen Grad an wissenschaftlicher Verifizierbarkeit Cartwrights
"göttlich gewollter Ordnung" entspricht. Zur Zementierung
gesellschaftlicher Rollenzuweisungen, die durch ein genitalfixiertes
Geschlechtsschema in die "Natur" eingeschrieben sind und die für die
Biomacht von Bedeutung sind. Zur Verteidigung einer durch Drill und Panoptismus
unablässig neu geschnürten Gender-Zwangsjacke für Frauen, ganz gleich ob cis
oder trans, das an einer Norm festgemacht ist, welche die "richtige
Frau" definiert und hervorbringt. Zur Verschleierung der Künstlichkeit angeblich
"natürlicher", durch Machtverhältnisse hervorgebrachter Kategorien,
die zur Aufrechterhaltung dieser Machtverhältnisse dienen.
Die Resolution des Europäischen Parlaments vom 28. September
2011 verurteilt scharf die andauernde Pathologisierung transsexueller Menschen
auch in Mitgliedsstaaten der EU und fordert die Mitgliedsstaaten insbesondere
zur Depsychiatrisierung dieser Menschen auf.
Aber darüber spricht man nicht.
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