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Rothenbächer 2012
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Vom Mann zur Frau: Maria Sabine Augstein
Die Tochter des "Spiegel"-Gründers Rudolf Augstein
wurde als Junge geboren. Mit 28 wechselte sie ihr Geschlecht. Als Anwältin
setzt sie sich für sexuelle Minderheiten ein. Erstmals spricht sie über ihre
Beweggründe und ihr eigenes Leben.
Der Weg zum ältesten Augstein-Kind ist ein verschlungener.
Irgendwo in der Nähe des Starnberger Sees biegt ein Pfad ab. Nach einigen
Metern durch dichten Tannenwald taucht eine Lichtung auf, dort steht ein
rot-weißes Forsthaus. Innen betritt man eine Welt, in der nichts Überflüssiges
herumsteht: Die Böden sind aus hellem Holz, die Wände weiß gekalkt. Die
Wolldecke auf dem Ledersofa ist ordentlich gefaltet. Neben der Fernbedienung
liegt eine Biografie des größten deutschen Journalisten, des
"Spiegel"-Gründers und -Herausgebers Rudolf Augstein.
Augstein hatte vier Kinder von drei Frauen: Jakob, 39, wie
der Vater selbst Verleger und Publizist, und die Journalistin Franziska, 42,
beide aus der Ehe mit der Übersetzerin Maria Carlsson. Julian, 33, Künstler,
aus der Ehe mit der Schriftstellerin Gisela Stelly. Und Maria Sabine, 57, von
seiner ersten Frau Lore Ostermann, der Journalistin und Regieassistentin.
Maria Sabine sieht ihrem Vater am ähnlichsten, doch weiß man
von ihr am wenigsten. Das hat seine Gründe. Geboren wurde Augsteins erstes Kind
in Hannover, wo der Verleger vor 60 Jahren den "Spiegel" gründete. Es
war kaum ein Jahr alt, da trennten sich die Eltern. Augstein und sein
"Spiegel" zogen nach Hamburg, Mutter und Kind nach München. Nach
einem Autounfall der Mutter kam das Kind in ein Kinderheim, später mit acht
Jahren zu Pflegeeltern: zu Augsteins Schwester und deren Mann, der Richter war.
Spezialisiert auf das Recht für Lesben, Schwule und
Transsexuelle
Auch Maria Sabine studierte Jura. Als Anwältin ist sie
spezialisiert auf das Recht für Lesben, Schwule und Transsexuelle. Ein
ungewöhnliches Rechtsgebiet. Aber Maria Sabine Augstein ist auch eine
ungewöhnliche Frau. Sie wurde als Junge geboren. Ihr Kampf gegen die
Diskriminierung von geschlechtlichen Minderheiten ist also auch ein
persönlicher.
Außerdem ein erfolgreicher. Bis hoch zum
Bundesverfassungsgericht kennt man ihren Namen. Sie war es, die für das erste
prominente Lesbenpaar Hella von Sinnen und Cornelia Scheel 1992 das Aufgebot
bestellte, das damals jedoch abgelehnt wurde. In Karlsruhe setzte sie später
durch, dass die Mindestaltersgrenze von 25 Jahren für Menschen, die ihren
Vornamen und ihre Geschlechtszugehörigkeit ändern wollen, aufgehoben wird.
Durch sie wurde jüngst im Bundestag über den
Geschlechtsvermerk in Pässen diskutiert. Wenn etwa ein verheirateter Mann sich
zur Frau operieren lässt, kann er zwar seinen Vornamen ändern, nicht jedoch
seine weibliche Geschlechtszugehörigkeit rechtlich anerkennen lassen. Dafür
müsste er sich erst scheiden lassen. Sonst wäre es eine vollwertige Ehe
zwischen Gleichgeschlechtlichen. "Daher stand auch weiterhin ein
"m" in seinem Pass, für männlich. Das war nicht nur menschenunwürdig,
sondern verfassungswidrig", regt sich die Anwältin am Esszimmertisch auf.
Zart, trotz der breiten Schultern
Seit 2003 stritt sie für die Passanpassung. "Unter
Schily als Innenminister kamen wir da nicht weiter. Der war gegenüber allen
geschlechtlichen Minderheiten ablehnend eingestellt." Nachfolger Schäuble
gab grünes Licht. Seit Oktober 2006 wird der Vermerk im Pass dem neuen
Geschlecht angepasst - ob verheiratet oder nicht.
Die 57-Jährige schaut ernst durch ihre Hornbrille, das
Gesicht trägt die Züge des berühmten Vaters. Sie ist 1,68 Meter groß, trägt
flache Slipper, ist zart geschminkt. Zart wirkt sie auch, trotz ihrer breiten
Schultern. Ihr Körper ist leicht gebeugt, als wolle er sie vor etwas
beschützen. Ihre Stimme ist dunkel und oft hastig. So als hätte sie nie genug
Luft, all das auszusprechen, was sie zu sagen hat.
Mit jedem ihrer Fälle verteidigt Maria Sabine Augstein auch
ein Stück ihrer eigenen Geschichte: "Ich kann nachvollziehen, was es
heißt, in einem Körper zu leben, der sich fremd anfühlt", sagt die
Anwältin. Sie selbst mag sich nur ungern erinnern an die Zeit, als sie noch ein
Mann war. Nicht einmal ihren damaligen Namen will sie noch gedruckt sehen.
"Diese Zeit ist für mich abgeschlossen. Das war zu schmerzvoll. Das habe
ich abgehakt. Vorbei. Ich bin mit 28 Jahren als Maria Sabine Augstein neu
geboren." Maria - nach ihrer Cousine aus der Pflegefamilie, Sabine - nach
der Frau ihres Vetters. Beide Frauen mochte sie sehr.
Genetische Vererbung und soziale Prägung
6000 Transsexuelle gibt es laut Schätzung in Deutschland.
0,005 Prozent aller Menschen, heißt es, empfinden sich im falschen Körper.
Friedemann Pfäfflin, Psychiater und Psychotherapeut der Universität Ulm:
"Warum und wann genau ihre Umorientierung stattfindet, ist nicht endgültig
erforscht. Die Antwort vermuten Mediziner irgendwo zwischen genetischer
Vererbung und sozialen Prägungen."
Maria Sabine Augstein hatte keine leichte Kindheit. Mit
sieben Monaten hatte sie ihre erste Operation, an der Galle. "Mein Leben
hat mit einer Narbe begonnen, und die wuchs mit mir mit. Heute ist sie 20
Zentimeter lang und eine Art Überlebensmerkmal für mich." Das war nicht
die einzige Verletzung in ihrem Leben. "Viele Kinder meiner Generation
waren ein "Verkehrsunfall" - nicht geplant, einfach passiert."
Ihre Eltern, sagt sie, habe sie kaum erlebt. "Die vielen Scheidungen
meines Vaters und auch meiner Mutter, die dreimal verheiratet war, fand ich
furchtbar." Lore Ostermann nahm sich das Leben, als die Tochter 30 war.
"Wenn, dann waren meine Pflegeeltern mein Vorbild, obwohl mein Pflegevater
sehr streng sein konnte, gefühlsmäßig kaum fassbar."
Das Gefühl, anders zu sein, begann mit fünf Jahren. Das
erste Kleid war weiß, mit Margariten am Kragen. Alle Jungs im Kinderheim
schliefen im Schlafanzug, der Augstein-Sohn "borgte" sich heimlich
Nachthemden von den Mädchen. "Später, in der fünften Klasse, habe ich mir
Tennisbälle unters T-Shirt gesteckt. Einmal hat mich der Kunstlehrer gesehen.
,Na, Fräulein Augstein", hat er mich angesprochen. Das hat mir
gefallen."
"Ich fühlte mich zerrissen und unverstanden"
Sie habe immer gefühlt, dass sie anders war, sagt Maria
Sabine Augstein. "Ich wusste nur nicht, was mit mir los war. Ich fühlte
mich zerrissen und unverstanden. Das hat fast schon körperlich wehgetan. Ich
hätte so niemals weiterleben können. Mein Körper wurde immer männlicher, und
mir das immer unangenehmer. Irgendwann mit 17 war mir plötzlich klar: Ich fühle
als Frau. Und ich will eine Frau sein." Nicht allerdings, um dann einen
Mann zu lieben - sondern eine Frau. "Ich gehörte sozusagen gleich zwei
Minderheiten an: Ich war lesbisch, im Körper eines Mannes."
Mit 26 stand sie auf der Terrasse ihres Vaters an der
Hamburger Elbchaussee. Es war ein Montag im Sommer. "Spiegel"-Tag.
Sie tranken Kaffee. "Das war jedoch alles andere als gemütlich, eher wie
ein unangenehmer Termin." Ein Vorstellungsgespräch. Lange hatte sie mit
sich gerungen. "Mein Vater wusste ja nichts von meiner Neigung." Als
es dann endlich heraus war, schwieg er. "Über Transsexualität hatte er
genug gelesen, das konnte er sogar noch nachvollziehen. Dass ich aber auch noch
lesbisch war, damit kam er nicht klar." Mit 28 ließ sie sich in Singapur
operieren. Ihr Vater übernahm die Kosten dafür.
Jahre später schrieb er ihr, "dass er meinen Weg
schließlich akzeptieren könne, weil er wisse, dass ich nur so glücklich bin. Er
hat mich über meine Arbeit respektiert. Ich glaube, es hat ihn beeindruckt, was
für Prozesse ich führte. Ihm gefiel, dass ich bei den höchsten Gerichten tätig
war. Nur mich als Mensch verstehen konnte er nicht. Aber das hätte ich ja auch
nie von ihm verlangt." Damit konnte sie leben.
Transsexuelle sind keine Transvestiten
Transsexualität ist nicht messbar per Hormonspiegel oder
Computertomografie, sie lässt sich auch nicht wegtherapieren. Sie hat nichts
mit sexueller Orientierung zu tun und nichts mit Kostümierung. Transsexuelle
sind nicht mit Transvestiten zu verwechseln, die in ihrer zeitweiligen
Verkleidung einen Kick erleben. Transsexuellen geht es um die Identität. Sie
wollen das ganz normale Leben des anderen Geschlechts führen.
Doch der Weg dahin ist ein langer und qualvoller. Da ist
nicht nur der chirurgische Eingriff, sondern auch das soziale Umfeld, Angst vor
dem Outing. Viele flüchten sich in die Isolation bis zur Depression, einige in
den Selbstmord. "Transsexuelle haben lange am Rande der psychosozialen Katastrophe
gelebt", sagt die Anwältin. "Arbeit fanden die meisten nur in
bestimmten Milieus, im Nachtleben. Bei der Bundeswehr kann ein Offizier nach
einer Geschlechtsumwandlung seinen Dienst mittlerweile weiter ausführen."
Täglich bekommt sie Anrufe, Briefe, Mails. Ihr gegenüber öffnen sich die
Betroffenen leichter, weil sie den Weg bereits gegangen ist, den sie noch vor
sich haben.
Die Umwandlung vom Mann zur Frau ist leichter als umgekehrt.
Im ersten Fall werden die Hoden entfernt, der Hodensack wird verkleinert und zu
Schamlippen geformt. Die Schwellkörper werden entfernt, die Harnröhre wird
verkürzt, die Eichel zur Klitoris verkleinert. Blutgefäße und Nerven bleiben
erhalten, um die Orgasmusfähigkeit zu sichern. Der ausgehöhlte Penis wird wie
ein Handschuhfinger in eine Höhle in der Beckenbodenmuskulatur nach innen
gestülpt, die Harnröhre eingenäht. Die Operation dauert fünf Stunden.
"Die Stimme bleibt"
Wer bei Michael Krueger in der Potsdamer "Klinik
Sanssouci", die auf transsexuelle Chirurgie spezialisiert ist, die
"All in one"-Behandlung wählt, liegt neun Tage stationär. Dabei kann
auch der Adamsapfel verkleinert, die Brust mit Silikon aufgebaut werden.
Kosten: 28.000 Euro. Bart und Haare an Armen und Beinen werden oft vorher per
Laser entfernt. Der Chirurg: "Durch die zusätzliche Hormonbehandlung
ändert sich die Fettverteilung, die Haut wird weicher, bildet auch Cellulitis.
Die Stimme bleibt."
Die umgekehrte Operation ist bedeutend aufwendiger durch die
komplizierte Bildung des Neophallus, der seine Struktur, Nerven, Blutgefäße und
Haut aus dem Unterarm bezieht. Sie dauert neun Stunden und kostet inklusive
Brustkorrektur, Gebärmutter- und Vaginaentfernung rund 44.000 Euro.
Die Umwandlung des Bruders zur Schwester war für die
Augstein-Geschwister kein Thema. "Die haben irgendwann gehört, ach so, der
ist jetzt eine Frau. Das war alles. Der Kontakt war aber auch nie sehr eng, wir
sind ja nicht zusammen aufgewachsen", sagt Augstein. "Einzig meine
Mutter konnte meine Entscheidung nie akzeptieren."
Die Ehe mit einer Frau
Die Tochter kämpft weiter, auch für Ausländer, die dauerhaft
in Deutschland leben und nach einer Umwandlung hier Namen oder Geschlecht
rechtlich ändern wollen. "Sie sollen die gleichen Rechte haben wie
Deutsche", fordert sie. Bis Sommer 2007 soll es ein neues Gesetz geben,
freut sie sich, die weiß, wie wichtig diese Paragrafen für die Identität sind.
Maria Sabine Augstein hat ihre längst gefunden - in einer
Ehe mit einer Frau. In Tutzing lebt die Anwältin mit der Malerin und Fotografin
Inea Gukema-Augstein, 59, zusammen. Vor 29 Jahren haben sie sich kennengelernt.
Die Augsburgerin war Mitbegründerin des ersten feministischen
Frauenbuchverlages in Deutschland. Maria Sabine fiel ihr auf. "Eine
Persönlichkeit, stark, trotzdem warmherzig, ein bisschen verrückt, aber im
positiven Sinne. Wir kamen aus verschiedenen Ecken, aber haben uns beide aus
unseren früheren Leben befreit", sagt die Künstlerin.
Sie habe ihre Aufgabe immer auch darin gesehen, Maria Sabine
zu beschützen. "Ich habe sie unter meine Fittiche genommen. Ihre tiefere
Stimme irritiert manche Menschen, die wundern sich dann. Ist doch okay. Wir
reden offen über uns." Sie dreht ihren goldenen Ring am kleinen Finger.
Maria Sabine trägt den gleichen. Am 2. November 2001 haben die Frauen geheiratet.
Die Lebenspartnerschaftsurkunde der sogenannten Homo-Ehe war ihnen wichtig.
Jeder Hochzeitstag wird gefeiert. Da gehen die Damen ins Münchner
"Tantris", schön essen. "Ich habe mich immer nach einer festen
Beziehung gesehnt, in der ich mich aufgehoben fühle, geliebt werde, lieben
kann, Verlässlichkeit und Treue finde", sagt Maria Sabine Augstein.
"Ich bin Köchin, Gärtnerin, Chauffeurin"
Draußen am Starnberger See hat das Paar seinen Raum
gefunden, ein ganz normales Familienidyll zu leben - die Rollenverteilung
scheint klar: Im ersten Stock kämpft die Anwältin. Oben unterm Dach malt die
Künstlerin für ihre nächste Ausstellung. "Mich hat die klassische
Frauenrolle eingeholt: Ich bin Köchin, Gärtnerin, Chauffeurin, zuständig für
Haus und Hof. Ich finde das okay." Sie schaut zur Partnerin, die nickt,
greift zur Thermoskanne: "Noch Kaffee, die Herrschaften?"
Zum 40-jährigen "Spiegel"-Jubiläum hat Maria
Sabine Augstein ihrem Vater zum ersten Mal ihre Frau vorgestellt, 1987 in der
Fischauktionshalle in Hamburg. "Er wollte uns immer hier besuchen. Leider
hat das bis zu seinem Tod nicht mehr geklappt", sagt die Tochter.
In ihrem Haus steht eine afrikanische Schnitzarbeit: ein
großer Vogel. Er stand früher in Rudolf Augsteins Büro, das nach seinem Tod an
das Bonner Haus der Geschichte ging. Diesen Holzraben hat er, wie das Haus in
Tutzing, seiner Tochter vererbt. Er symbolisiert Gemeinsinn und Schutz. Und hat
jetzt seinen Platz in ihrer Kanzlei.
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