Samstag, 5. Januar 2013

Fragen der Geschlechtsidentität , wer macht sich darüber Gedanken?



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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2013

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Fragen der Geschlechtsidentität

Rees gegen Vereinigtes Königreich
17.10.1986


Ein Frau-zu-Mann-Transsexueller rügte, dass seine Geschlechtsumwandlung nicht
vollständig rechtlich anerkannt werde.  
Keine Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens): die
vom Beschwerdeführer verlangten rechtlichen Änderungen hätten grundlegende
Änderungen in der Führung des Geburtenregisters notwendig gemacht – mit
weitreichenden Folgen für die Verwaltung. Der Gerichtshof maß außerdem dem Umstand
Bedeutung zu, dass das Vereinigte Königreich die Kosten für die medizinische
Behandlung des Beschwerdeführers getragen hatte.
 
Gleichwohl war sich der Gerichtshof „des Ernstes der Probleme und der Not von
Transsexuellen“ bewusst und empfahl, „die Notwendigkeit angemessener Maßnahmen
weiter zu beobachten, insbesondere  im Hinblick auf wissenschaftliche und
gesellschaftliche Entwicklungen“. 

Keine Verletzung von Artikel 12 (Recht auf Eheschließung und Familiengründung):
Das traditionelle Verständnis der Ehe beruht auf einer Verbindung von Personen
verschiedenen Geschlechts. Die Staaten  haben die Kompetenz, das Recht zur
Eheschließung zu regeln. 

Cossey gegen Vereinigtes Königreich
27.09.1990

Der Gerichtshof kam zu ähnlichen Schlüssen wie in Rees gegen Vereinigtes Königreich
und fand keine neuen besonderen Umstände, die zu einer Abweichung von seinem
früheren Urteil geführt hätten.  
Keine Verletzung von Artikel 8
Der Gerichtshof unterstrich, dass „eine geschlechtsanpassende Operation nicht den
Erwerb aller biologischen Merkmale des anderen Geschlechts nach sich zieht“ (Abs. 40). 
Keine Verletzung von Artikel 12
Die Bindung an das traditionelle Verständnis von Ehe bietet „ausreichende Gründe für die
weitere Zugrundelegung biologischer Kriterien zur Geschlechtsbestimmung einer Person
im Hinblick auf die Eheschließung“. Es ist Sache der Staaten, die Ausübung des Rechts
auf Eheschließung zu regeln. 
X, Y et Z gegen Vereinigtes Königreich, 22.04.1997 
Der Gerichtshof kam zwar zu dem Schluss, dass keine Verletzung von Artikel 8 (Recht
auf Achtung des Privat- und Familienlebens) vorlag, erkannte aber das Bestehen eines
Familienlebens zwischen einem Transsexuellen und dem Kind seiner Partnerin an (Abs.
37: „X hat sich seit der Geburt in jeder Hinsicht wie der „Vater“ von Z verhalten. Unter
solchen Umständen ist der Gerichtshof  der Auffassung, dass [de facto] eine
Familienbindung zwischen den drei Beschwerdeführern besteht.“)
In B. gegen Frankreich (25.03.1992) kam der Gerichtshof zum ersten Mal in einem Fall
hinsichtlich der Anerkennung von Transsexuellen zu dem Schluss, dass eine Verletzung
von Artikel 8 vorlag. Informationsblatt – Fragen der Geschlechtsidentität
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Eine Mann-zu-Frau Transsexuelle, Frau B., rügte die Weigerung der französischen
Behörden, das Personenstandsregister ihren Wünschen entsprechend zu ändern. 
Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens)
Der Gerichtshof berücksichtigte Umstände, die den Fall von  Rees gegen Vereinigtes
Königreich und  Cossey gegen Vereinigtes Königreich unterschieden, insbesondere die
Unterschiede zwischen dem britischen und französischen  System der Eintragung des
Personenstandes. Während es  im Vereinigten Königreich erhebliche Hürden für die
Änderung von Geburtsurkunden gab, war es in Frankreich vorgesehen, Geburtsurkunden
im Laufe des Lebens zu ändern. Der Gerichtshof stellte fest, dass  in Frankreich viele
offizielle Dokumente „eine Diskrepanz  zwischen rechtlichem und offenkundigem
Geschlecht eines Transsexuellen“ (Abs. 59) offenbaren, was auch die Angaben in
Sozialversicherungsdokumenten und Gehaltsabrechnungen betrifft. 
Der Gerichtshof entschied folglich, dass die Weigerung, den Eintrag der
Beschwerdeführerin im Personenstandsregister in zu ändern, sie „täglich in eine Situation
[brachte], die nicht mit der Achtung ihres Privatlebens vereinbar ist“.
Sheffield und Horsham gegen Vereinigtes Königreich, 30.07.1998
Der Gerichtshof befand, dass es keinen Grund gab, von seinen Urteilen in  Rees gegen
Vereinigtes Königreich und  Cossey gegen Vereinigtes Königreich  abzuweichen:
„Transsexualität wirft weiterhin wissenschaftliche, rechtliche, moralische und soziale
Probleme auf, denen die Vertragsstaaten  nicht mit einer grundlegenden gemeinsamen
Herangehensweise begegnen“ (Abs. 58). 
Keine Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), 12
(Recht auf Eheschließung und Familiengründung) und 14 (Diskriminierungsverbot). 
Gleichwohl „unterstreicht der Gerichtshof erneut, dass Entwicklungen in diesem Bereich
weiterhin von den Vertragsstaaten beobachtet werden müssen“ (Abs. 60), und dies im
Zusammenhang mit „der zunehmenden sozialen Akzeptanz des Phänomens und der
zunehmenden Anerkennung der Probleme, denen postoperative Transsexuelle
ausgesetzt sind“. 


Der Fall Christine Goodwin


Christine Goodwin gegen Vereinigtes Königreich, Urteil der Großen Kammer, 11.07.2002
Die Beschwerdeführerin rügte, dass ihre Geschlechtsumwandlung rechtlich nicht
anerkannt werde, insbesondere hinsichtlich ihrer Beschäftigungsbedingungen,
hinsichtlich ihrer Sozialversicherungs- und Rentenrechte und da ihr das Recht auf
Eheschließung verwehrt werde.  
Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), aufgrund
der deutlichen internationalen Tendenz zu einer zunehmenden gesellschaftlichen
Akzeptanz von Transsexuellen und  zur rechtlichen Anerkennung von
Geschlechtsumwandlungen. 
 “Da es keine wichtigen Gründe des öffentlichen Interesses gibt, die dem Interesse der
Beschwerdeführerin auf rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsumwandlung
entgegenstehen, kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die gerechte Abwägung,
die der Konvention immanent ist, nun eindeutig zu Gunsten der Beschwerdeführerin
vorgenommen werden muss.“
Verletzung von Artikel 12 (Recht auf Eheschließung und Familiengründung)
“Der Gerichtshof ist nicht davon überzeugt, dass auch heute noch angenommen werden
kann, dass [Artikel 12] sich auf eine Geschlechtsbestimmung nach rein biologischen
Kriterien beziehen muss.“ (Abs. 100) Informationsblatt – Fragen der Geschlechtsidentität
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Der Gerichtshof befand, dass es dem Staat zusteht, die Voraussetzungen und
Formalitäten von Eheschließungen Transsexueller zu regeln, dass er aber „keine
Rechtfertigung dafür sieht, Transsexuellen in jedem Fall das Recht auf Eheschließung zu
versagen“.
Nach dem Urteil der Großen Kammer im Fall Christine Goodwin führte das Vereinigte
Königreich 2004 eine Regelung ein, nach der Transsexuelle eine amtliche Bestätigung
über die Anerkennung des Geschlechts beantragen können. Die beiden folgenden Fälle
betrafen Transsexuelle, die vor der Geschlechtsumwandlung geheiratet hatten und nun
das Verfahren zur Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit in Anspruch nehmen
wollten.  
Wena und Anita Parry gegen Vereinigtes Königreich (November 2006)
R. und F. gegen Vereinigtes Königreich (November 2006)
Die Beschwerdeführer waren beide verheiratet und hatten Kinder. Beide hatten eine
Geschlechtsumwandlung vornehmen lassen und blieben mit ihrem Ehepartner
zusammen. Nach dem Gesetz von 2004 über die Anerkennung der
Geschlechtszugehörigkeit beantragten beide die Ausstellung einer amtlichen
Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit, die sie aber nur im
durch Beendigung ihrer Ehe hätten bekommen können. Sie machten eine Verletzung von
Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 12 (Recht auf
Eheschließung), geltend. 

Beschwerden für unzulässig erklärt (abgewiesen als offensichtlich unbegründet):
Von den Beschwerdeführern wurde verlangt, ihre Ehen zu beenden, weil
gleichgeschlechtliche Ehen nach englischem Recht nicht erlaubt waren. Das Vereinigte
Königreich hatte die rechtliche Anerkennung von Geschlechtsumwandlungen zu möglich
gemacht und die Beschwerdeführer hatten die Möglichkeit, ihre Beziehung fortzuführen
und als Lebenspartnerschaft eintragen zu lassen, die fast die gleichen Rechte und
Pflichten umfasste wie die Ehe.

Der Gerichtshof stellte fest, dass der Gesetzgeber von der kleinen Anzahl von
verheirateten Transsexuellen wusste, als er die neue Regelung einführte, aber bewusst
keine Sonderregelung für diese Ehen vorsah. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass
nicht verlangt werden konnte, diese geringe Zahl von Fällen gesondert zu
berücksichtigen.
 

Jüngere Fälle


Schlumpf gegen die Schweiz, 08.01.2009
Weigerung der Krankenversicherung der Beschwerdeführerin, die Kosten für eine
Geschlechtsumwandlung zu übernehmen, weil  sie vor der Operation nicht zwei Jahre
abgewartet hatte, wie von der Rechtsprechung vorgesehen. 
Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens):  Die
Wartezeit wurde automatisch  zugrunde gelegt, ohne das Alter der Beschwerdeführerin
(67 Jahre) zu berücksichtigen.


P.V. gegen Spanien, 30.11.2010 

Eine Mann-zu-Frau Transsexuelle, bekam vor ihrer Geschlechtsumwandlung 1998 einen
Sohn mit ihrer Ehefrau. Im Jahr 2002 trennte sich das Paar und die Beschwerdeführerin
rügte nun die gerichtlichen Einschränkungen ihres Umgangsrechts mit ihrem Sohn mit
der Begründung, dass ihre emotionale Unausgeglichenheit nach der
Geschlechtsumwandlung auf das Kind verstörend wirken könne. 
Keine Verletzung von Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14: Die Einschränkungen des
Umgangsrechts stellten keine Diskriminierung aufgrund der Transsexualität der
Beschwerdeführerin dar. Der entscheidende Grund für die ihr von den spanischen Informationsblatt – Fragen der Geschlechtsidentität
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Gerichten auferlegten Einschränkungen war angesichts der vorübergehenden
emotionalen Unausgeglichenheit der Beschwerdeführerin das Kindeswohlinteresse. Sie
legten daher eine Regelung fest, die es dem Kind ermöglichen würde, sich schrittweise
an die Geschlechtsumwandlung seines Vaters zu gewöhnen. 


P. gegen Portugal  

Aus dem Register gestrichen am 06.09.2011
Bei ihrer Geburt wurde die Beschwerdeführerin als männlich registriert. Mit Erreichen des
Erwachsenenalters unterzog sie sich einer Geschlechtsumwandlung. Sie rügte die
fehlende rechtliche Anerkennung ihrer Situation, da es in Portugal keine entsprechende 
Gesetzgebung gebe. Es handelt sich um  die erste Beschwerde dieser Art vor dem
Gerichtshof gegen Portugal. Die Forderung  der Beschwerdeführerin nach rechtlicher
Anerkennung war vor den nationalen Gerichten erfolgreich, deshalb entschied der
Gerichtshof, die Beschwerde aus seinem Register zu streichen. 
Anhängige Fälle

Y. Y. gegen die Türkei (Nr. 14793/08) 

Zugestellt im März 2010.
Weigerung der nationalen Gerichte, der Beschwerdeführerin eine
Geschlechtsumwandlung zu genehmigen, weil sie die gesetzliche  Voraussetzung nicht
erfülle, nach der bei ihr dauerhafte Unfruchtbarkeit diagnostiziert werden muss. Sie
beruft sich insbesondere auf Artikel 8.

H gegen Finnland (Nr. 37359/09)

Zugestellt im April 2010.
Die Beschwerdeführerin rügt, dass die Anerkennung ihrer Geschlechtsumwandlung es
erforderlich machte, dass ihre Ehe in eine Lebenspartnerschaft umgewandelt wurde. Sie
beruft sich auf Artikel 8, 12 und 14.


1 Kommentar:

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