Samstag, 18. Mai 2013

Störungen der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter


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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2013

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Vor einigen Tagen stellte ich eine Anfrage wegen :

Anfrage Begutachtungsanleitung Transsexualität
Meine sehr geehrten Damen und Herren liebe Betroffene von Transidentität unter diesem Link könnt Ihr einen Einblick erhalten was die Begutachtungsanleitungen besagen!


Von Dr. med. Bernd Meyenburg gab es diese Antwort:


Störungen der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter
Von Dr. med. Bernd Meyenburg

Leiter der Institutsambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie

Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Deutschordenstr. 50
60528 Frankfurt am Main
Störungen der Geschlechtsidentität sind durch ein anhaltendes und starkes Unbehagen und Leiden am eigenen biologischen Geschlecht charakterisiert. Sie gehen einher mit dem Wunsch oder der Beteuerung, dem anderen Geschlecht anzugehören und entsprechend leben zu wollen. Sie können bis zum Wunsch zur gegengeschlechtlichen hormonellen Behandlung und nach einer operativen Geschlechtsumwandlung führen.



1.    Klinisches Bild und Klassifikation


Zwei Hauptsymptome müssen vorliegen, um die Diagnose einer Geschlechtsidentitätsstörung zu stellen:

Der Wunsch dem anderen Geschlecht anzugehören

Das Unbehagen über das eigene Geschlecht.

Es muss eine deutliche und persistierende Identifikation mit dem anderen Geschlecht vorliegen, d.h. der Patient/die Patientin wünscht oder insistiert das er/sie dem anderen Geschlecht angehört (diagnostisches Hauptkriterium A nach DSM-IV). Weiter muss ein anhaltendes Leiden am eigenen biologischen Geschlecht vorliegen oder ein Gefühl, dass das dem biologischen Geschlecht entsprechende Verhalten nicht angemessen ist (diagnostisches Hautkriterium B nach DSM-IV).

Bei Jungen zeigt sich die gegengeschlechtliche Identifikation in einer ausgeprägten Beschäftigung mit traditionell weiblichen Interessen. In der Regel wünschen diese Jungen, Mädchen– oder Frauenkleider zu tragen. Wenn solche Kleidungsstücke nicht zur Verfügung stehen, werden oftmals Tücher, Schürzen, Schals oder andere Kleidungsstücke benutzt, um damit Frauenkleider zu improvisieren. Diese Jungen bevorzugen Mädchenspiele, insbesondere Puppenspiel, Lieblingszeichnungen sind die von schönen Mädchen oder Prinzessinnen. In Spielsituationen bevorzugen diese Jungen, weibliche Rollen, insbesondere die der Mutter. Typische Jungenspiele werden vermieden, insbesondere Spiele, bei denen der Einsatz körperlicher Kraft verlangt wird, vor allem am Fußballspiel zeigen diese Jungen kein Interesse. Sie bevorzugen Mädchen als Spielkameraden. Oftmals drücken sie den Wunsch aus, ein Mädchen sein zu wollen, sie erklären, dass sie eine Frau werden, wenn sie groß werden. Typischerweise insistieren sie darauf, beim Urinieren zu sitzen, sie geben oftmals vor, keinen Penis zu haben, indem sie ihn zwischen den Beinen verbergen. Seltener äußern Jungen mit Geschlechtsidentitätsstörungen, dass sie ihren Penis oder ihre Genitalien abstoßend finden, dass sie sich ihrer Entledigen wollen oder dass sie sich wünschen, eine Vagina zu haben.

Mädchen mit Geschlechtsidentitätsstörungen lehnen es typischerweise ab, Mädchenkleider zu tragen oder sich weiblich zurecht zu machen. In manchen Fällen weigern sie sich, an sozialen Aktivitäten teilzunehmen, bei denen erwartet wird, dass sie solche Kleidungsstücke tragen. Sie bevorzugen Jungenkleidung, tragen ihr Haar kurz geschnitten, werden für Jungen gehalten, verlangen oftmals auch, einen Jungennamen zu tragen. In ihrer Phantasie beschäftigen sie sich mit machtvollen männlichen Figuren. Sie bevorzugen Jungen als Spielkameraden, bevorzugen Mannschaftssport wie Fußball und andere traditionelle Jungenspiele, in denen der Einsatz von körperlicher Kraft gefragt ist. An Mädchenspielen zeigen sie wenig Interesse, insbesondere nicht am Puppenspiel. Oftmals weigern sich diese Mädchen auch, im Sitzen zu urinieren. Sie können darauf insistieren, dass sie einen Penis besitzen oder dass einer wachsen wird, besonders belastend sind die pubertären Veränderungen wie Brustwachstum und Menstruation (vgl. DSM-IV).

Bei Jugendlichen nähert sich das klinische Bild den erwachsener transsexueller Patienten. Sie äußern den unbedingten Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören, als Person des anderen Geschlechts zu leben und behandelt zu werden, sie äußern die Überzeugung, dass sie die typischen Gefühle des anderen Geschlechts besitzen. Es wird oftmals sehr dringlich der Wunsch nach geschlechtsumwandelnden medizinischen Maßnahmen wie gegengeschlechtlicher Hormonbehandlung und Geschlecht korrigierenden operativen Eingriffen geäußert. Nicht selten treten Jugendliche bereits real in der gegengeschlechtlichen Rolle auf und werden oftmals in dieser auch akzeptiert. Häufiger und überzeugender gelingt dieses biologisch weiblichen Patienten.



Leitymptome für Störungen der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter (vgl. Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings- Kindes- und Jugendalter der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2000):


Erstes diagnostisches Hauptkriterium:

Es besteht der dringliche und anhaltende Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören.

Bei Kindern sollten vier der folgenden fünf Kriterien erfüllt sein:

Wiederholt geäußerter Wunsch oder beharren darauf, dem anderen Geschlecht anzugehören
Bevorzugtes Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts oder Nachahmung des Erscheinungsbildes des anderen Geschlechts
Dringliche und andauernde Bevorzugung der gegengeschlechtlichen Rolle im Spiel oder anhaltende Phantasien, dem anderen Geschlecht anzugehören
Intensiver Wunsch, an den für das andere Geschlecht typischen Spielen und Aktivitäten teilzunehmen
Starke Präferenz von gegengeschlechtlichen Spielkameraden

Jugendliche äußern den Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören, als Person des anderen Geschlechts zu leben und behandelt zu werden oder die Überzeugung, dass sie die typischen Gefühle des anderen Geschlechts besitzen. Nicht selten treten Jugendliche auch real in der gegengeschlechtlichen Rolle auf und werden in dieser akzeptiert.


Zweites diagnostisches Hauptkriterium:

Andauerndes Unbehagen über das eigene Geschlecht.

Bei Kindern werden die folgenden Symptome beobachtet:

Bei Jungen:
Ablehnung der männlichen Genitalien
Wunsch nach Verschwinden der männlichen Genitalien
Äußerungen, dass es schöner wäre, keinen Penis zu haben
Abneigung gegen Jungenspiele und –Spielsachen, insbesondere gegen körperliche Wettkampfspiele

Bei Mädchen:
Abneigung, im Sitzen zu urinieren
Versicherung, dass sie einen Penis hat oder einer bei ihr wachsen wird
Wunsch, dass Brustbildung und Menstruation nicht eintreten
Ausgeprägte Ablehnung typisch weiblicher Kleidung, Schmuck und Kosmetik

Jugendliche sind vordringlich damit befasst, sich ihrer primären und sekundären Geschlechtsmerkmale zu entledigen und Merkmale des anderen Geschlechts zu entwickeln (z.B. Wunsch nach hormoneller und chirurgischer Behandlung, um möglichst weitgehend das Aussehen einer Person des anderen Geschlechts zu erreichen), oder sie glauben, im Körper des falschen Geschlechts geboren worden zu sein. Jugendliche zeigen oft Gefühle von Verzweiflung und Hass gegen den eigenen Körper und leiden an Depressionen, die bis hin zu Suizidversuchen führen können.

Sind die diagnostischen Hauptkriterien erfüllt, so ist nach DSM-IV bei Kindern die Diagnose „Geschlechtsidentitätsstörung im Kindesalter“ (302.6) bzw. „Geschlechtsidentitätsstörung in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter“ (302.85) zu stellen. Nach ICD-10 ist bis zur Pubertät die Diagnose „Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters“ (F64.2) zu stellen. Nach der Pubertät ist nach ICD-10 die Diagnose „Transsexualismus“ (F64.0) zu stellen, wenn der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechts zu leben, und der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung mindestens zwei Jahre durchgehend bestehen. Sind die diagnostischen Kriterien nur teilweise erfüllt oder liegen gleichzeitig intersexuelle Fehlbildungen vor, so können die Diagnosen „sonstige Störung der Geschlechtsidentität“ (F64.8) oder „nicht näher bezeichnete Störung der Geschlechtsidentität“ (F64.9) gestellt werden. Nach DSM-IV ist die Diagnose „nicht näher bezeichnete Geschlechtsidentitätsstörung“ zu stellen.






2.  Differentialdiagnose:


Auszuschließen sind differentialdiagnostisch folgende Störungen:

Schizophrene oder wahnhafte Störungen. In seltenen Fällen liegt bei einer schizophrenen oder Schizophrenie formen Störung die wahnhafte Überzeugung vor, dem anderen Geschlecht anzugehören oder sich in eine Person des anderen Geschlechts zu verwandeln. Das klassische Beispiel ist der von S. Freud (1911) dargestellte „Fall Schreber“. In der Regel treten solche Vorstellungen zusammen mit anderen psychotischen Symptomen auf und sind darum unschwer zu diagnostizieren. Sie werden regelhaft als fremd oder bedrohlich erlebt. Das klinische Bild ist meist wirr und uneinheitlich, die Identität solcher Patienten ist, anders als bei Störungen der Geschlechtsidentität, nicht eingleisig sondern vielfältig gestört. Autokastrationen und derartige Versuche kommen eher bei psychotischen als bei geschlechtsidentitätsgestörten Patienten vor (Sigusch et al., 1979). Im Kindes- und Jugendalter sind solche Störungen naturgemäß noch seltener anzutreffen als im Erwachsenenalter. In der Sprechstunde für Geschlechtsidentitätsstörungen der Frankfurter Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sind sie noch nie beobachtet worden.

Intersexuelle Störungen wie Hermaphroditismus versus, Pseudohermaphroditismus, Anomalien der Gonosomen, adrenogenitale Störungen oder Androgeninsensitivitätssyndrom sind ebenfalls seltene Erkrankungen, wobei es sich hier grundsätzlich nicht um Ausschlussdiagnosen handelt. Auch Patienten mit intersexuellen Störungen können und sollten bei Vorliegen einer eindeutigen Störung der Geschlechtsidentität entsprechend behandelt werden.

Bedeutsamer sind sexuelle Reifungskrisen und insbesondere eine ichdystone Sexualorientierung. Diese stellen die häufigste Ausschlussdiagnose dar. Zahlenmäßig überwiegen Patienten, die ihre homosexuelle Orientierung ablehnen bzw. diese nur akzeptieren können, wenn sie „ganz“ dem anderen Geschlecht angehören.



3.   Assoziierte Psychopathologie

Zucker und Bradley (1995) verglichen Kinder mit Geschlechtsidentitätsstörungen mit gesunden Kindern und Kindern, die aufgrund anderer Problemen in der psychiatrischen Universitätsklinik Toronto  vorgestellt wurden. Sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen fand sich im Vergleich zur klinischen Kontrollgruppe ein vergleichbares Maß an allgemeiner Psychopathologie, wobei internalisierende Auffälligkeiten bei geschlechtsidentitätsgestörten Jungen überrepräsentiert waren. Multiple Faktoren wurden zur Erklärung herangezogen, insbesondere soziale Isolierung und die Außenseiterposition, in der sich diese Kinder befinden, und gestörte familiäre Beziehungen. Eine besondere Rolle spielen hierbei Trennungsängste, die erstmals in der New Yorker Forschungsgruppe von S. Coates bei geschlechtsidentitätsgestörten Jungen eingehender untersucht wurden (Coates und Person, 1985). 15 der damals untersuchten 25 Jungen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung zeigten deutliche Trennungsängste.

Auch die in der Frankfurter Arbeitsgruppe bislang 57 untersuchten Kinder und Jugendlichen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung zeigten erhebliche Verhaltensauffälligkeiten. Typische Probleme waren soziale Isolierung, Außenseiterstellung, häufiges Verspottet- oder Gehänselt werden, persistierendes Einnässen oder Einkoten, Trennungsängste bei übermäßig enger Bindung an die Mutter, bei Jugendlichen schwere depressive Verstimmungen bis hin zu Suizidversuchen und schwere Bindungsstörungen im Sinne einer Borderline–Psychopathologie. Bei den von Coates in New York untersuchten geschlechtsidentitätsgestörten Jungen fanden sich deutlich gestörte Objektbeziehungen, in denen die Jungen die Mütter als überwältigend, intrusiv und destruktiv erlebten (Coates und Tuber, 1988; Tuber und Coates, 1985, 1989). Auch die von Bates et all. (1979) und von Bradley (1990) untersuchten geschlechtsidentitätsgestörten Kinder und Jugendlichen waren in hohem Maße psychopathologisch auffällig.



4.   Diagnostik


Teil einer umfassenden Diagnostik ist eine eingehende gezielte Exploration der Eltern und der Kinder:

Bei Kindern sollen Eltern gezielt befragt werden nach:

Besonderem Interesse an Kleidung, Schmuck, Kosmetik des anderen Geschlechts
Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts, im besonderem Maße bevorzugten bzw. abgelehnten Spiele und Spielzeuge
Interesse an Sport und körperlichen Kampfspielen
Interesse an Tanz und Ballett
Körpererleben
Freunden und Spielkameraden

Bei Jugendlichen sollten von den Eltern exploriert werden:
Körpererleben
Wunsch des/der Jugendlichen, dem anderen Geschlecht anzugehören
Führen eines Vornamen des anderen Geschlechts
Öffentliches Auftreten als Person des anderen Geschlechts
Wunsch nach medizinischer und chirurgischer geschlechtsumwandelnder Behandlung
Freunde

Die Kinder und Jugendlichen sollten entsprechend der Elternbefragung ebenfalls exploriert werden. Wünsche und Phantasiewelt des Kindes/Jugendlichen sollten exploriert werden mit Verfahren wie „Drei magische Wünsche“, „Magische Verwandlung“, Fragen nach Träumen, Idealen, Vorbildern, Lieblingsschauspielern usw. Eine einseitige Exploration geschlechtstypischer bzw. -atypischer Verhaltensweisen sollte allerdings vermieden werden, es sollte vielmehr das gesamte psychosoziale Umfeld Beachtung finden. Schwerpunkt der ersten Untersuchungsgespräche sollte auf therapierelevanten Themen liegen wie Leidensdruck, Veränderungswunsch, Beziehungsfähigkeit, Einsichtsfähigkeit, Fähigkeit zu verbaler psychotherapeutischer Arbeit. Ein weiterer Schwerpunkt der ersten Gespräche mit dem Kind/Jugendlichen sind Körpererleben, Beziehungen zu anderen Kindern bzw. Jugendlichen und die soziale Akzeptanz. Das Kind/der Jugendliche sollte im Hinblick auf geschlechtstypische bzw.  -atypische Kleidung, Schmuck und Kosmetik, Gestik und Mimik beobachtet werden.

Hinsichtlich der störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte sollten Eltern und Patienten vor allem nach dem ersten Auftreten geschlechtsatypischen Verhaltens und gegengeschlechtlicher Wünsche befragt werden. Treten diese erst später auf und liegt eine längere Phase geschlechtstypischen Verhaltens und geschlechtstypischer Wünsche vor, liegt meist keine Geschlechtsidentitätsstörung im engeren Sinne vor. Von Bedeutung ist auch die Exploration von Ereignissen, die das Kind als emotional traumatisierend erlebt haben kann, z.B. Geburt eines Geschwisters, Tod eines nahen Angehörigen oder einer der Eltern nahestehenden Person, sexuelle Missbrauchserlebnisse. Auch die Wünsche und Erwartungen der Eltern hinsichtlich eines Kindes sollten exploriert werden, ebenso die Reaktion der Eltern auf das Auftreten von geschlechtsatypischen Verhaltensweisen und Interessen, ob gegengeschlechtliche Verhaltensweisen und Interessen eher gefördert oder eher eingeschränkt werden. Nicht selten wird bei den Eltern gefunden, dass diese geschlechtsatypisches Verhalten fördern, große Unsicherheit zeigen, bei geschlechtsatypischem Verhalten diesem Grenzen zu setzen.

Als Screening-Verfahren eignen sich die Child-Behavior-Checklist nach Achenbach bzw. bei Jugendlichen auch der Youth-Self-Report. Ein spezifischeres Screening-Instrument ist die Menschzeichnung. Kinder und Jugendliche mit Störungen der Geschlechtsidentität zeichnen signifikant häufiger spontan als erste eine Person des anderen Geschlechts (vgl. Zucker und Bradley, 1995).



5.   Prävalenz

Über das Auftreten von Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindesalter haben schon die frühen Sexualforscher berichtet. So sprach beispielsweise Hirschfeld (1904) vor 100 Jahren über das „urnische Kind“. Wie auch in der Homosexualitätsforschung jüngeren Datums (Saghir und Robins, 1973; Whitam, 1977, 1980; Harry, 1982) handelt es sich hier um retrospektive Aussagen Erwachsener homosexueller Männer über ihr Verhalten und ihre Interessen in der Kindheit.

In der klinischen Praxis werden Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindesalter sehr selten, im Jugendalter etwas häufiger beobachtet. In der Frankfurter Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie haben wir im Verlauf von 16 Jahren (1987 – 2003) 57 Kinder und Jugendliche mit geschlechtsatypischem  Verhalten oder mit Störungen der Geschlechtsidentität gesehen. Bei der Hälfte dieser Patienten lagen vorübergehende Phasen von geschlechtsatypischem Verhalten und entsprechenden Wünschen, krisenhafte Pubertätsentwicklungen mit passageren fetischistischen Interessen oder konflikthafte homosexuelle Entwicklungen vor, nur in der Hälfte der Patienten konnte die formaler Diagnose „Geschlechtsidentitätsstörung“ nach den Kriterien von DSM-IV oder ICD-10 gestellt werden. Bei einer Gesamtzahl von 5100 Patienten, die in den 16 Jahren vorgestellt wurden, machen diese insgesamt 31 Patienten nur einen kleinen Bruchteil aus, obwohl es sich in Frankfurt um die einzige Spezialsprechstunde in Deutschland für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsidentitätsstörungen handelt. Eine größere Anzahl dieser Patienten wurde nur in den wenigen Kliniken gesehen wie in New York (Coates und Person, 1985), Toronto (Bradley et al., 1978), Utrecht (Cohen-Kettenis, 1994) und London (DiCeglie, 1995), die Forschungsstellen für Störungen der Geschlechtsidentität des Kindes- und Jugendalters eingerichtet haben.

Dem steht die große Zahl erwachsener homosexueller Männer und Frauen gegenüber, die geschlechtsatypisches Verhalten und entsprechende Wünsche in der Kindheit angeben. 67 % der von Saghir und Robins (1973) untersuchten homosexuellen Männer berichteten beispielsweise über geschlechtsatypisches Verhalten und 35 % über geschlechtsatypische Wünsche. In der Kontrollgruppe erwachsener heterosexueller Männer machten nur jeweils 3% solche retrospektiven Angaben. Warum werden Kinder mit geschlechtsatypischem Verhalten dann aber so selten in der klinischen Praxis angetroffen? Auch die heute erwachsenen transsexuellen Männer und Frauen, die typischerweise berichten, dass sie sich schon in der Kindheit als dem anderen Geschlecht zugehörig empfanden, und deren Zahl in Deutschland zwischen 3000 bis 6000 (Sigusch, 2001) geschätzt wird, hätten doch in größerer Zahl schon in der Kindheit klinisch auffällig sein müssen.

Epidemiologische Untersuchungen geben meist nur die Häufigkeit bestimmter geschlechtsatypischer Verhaltensweisen oder Wünsche an, die mit Elternfragebogen erfasst wurden. Die Childhood Behavior Checklist von Achenbach und Edelbrock (1981) enthält zwei Fragen zu geschlechtsatypischem Verhalten und Wünschen: „verhält sich wie zum anderen Geschlecht gehörig“ und „wünscht, dem anderen Geschlecht anzugehören“. In der befragten klinischen Gruppe von 1300 4– bis 16-jährigen Kinder- und Jugendlichen machten Eltern der 8– bis 9-jährigen Jungen zu 9,5 % (vs. 2,7 % in der Kontrollgruppe) und der gleichaltrigen Mädchen zu 14,5 % (vs. 11 %) die Angabe, dass sich ihr Kind wie dem anderen Geschlecht zugehörig verhalte. In derselben Altersgruppe machten bei den Jungen 5,1 % (vs. 0 %) und bei den Mädchen 8,3 % (vs. 2,7 %) der Eltern die Angaben, dass ihr Kind wünschte, dem anderen Geschlecht anzugehören (Überblick bei Zucker und Bradley, 1995).

Um die Frage zu beantworten, warum Kinder mit Geschlechtsidentitätsstörungen nicht häufiger klinisch auffällig werden, muss vor allem die Reaktion der Eltern auf geschlechtsatypisches Verhalten und Wünsche ihres Kindes untersucht werden. Es ist auffällig, dass viele Eltern solche Wünsche und Verhaltensweisen nicht als Problem ansehen. In praktisch allen größeren Studien wird als ursächlich bedeutsam bei der Entwicklung von Geschlechtsidentitätsstörungen angesehen, dass die Eltern mehr oder weniger offen gegengeschlechtliche Verhaltensweisen ihrer Kinder tolerieren oder sogar fördern (Stoller, 1975; Green, 1987; Coates und Wolfe, 1995). Die Tatsache, dass in Nordamerika Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsidentitätsstörungen häufiger klinisch auffällig werden, mag darin begründet sein, dass dort die Toleranz für geschlechtsatypisches Verhalten geringer und eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung eher möglich ist als in Europa. Scham und Schuldgefühle sind zudem wesentliche Kräfte, die Eltern davon abhalten, einen Arzt, eine Klinik oder eine Beratungsstelle aufzusuchen.





6.        Ätiologie
6.1      Biologische Forschung

Die biologische Ursachenforschung an Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsidentitätsstörungen ist sehr klein. Aus diesem Grunde werden Forschungsergebnisse aus verwandten Bereichen herangezogen, insbesondere die erwachsener Transsexueller, bei Homosexualität und bestimmten intersexuellen Störungen. Die beiden erstgenannten Störungsbilder entwickeln sich oftmals aus Geschlechtsidentitätsstörungen des Kindes- und Jugendalters, insofern besteht ein enger Zusammenhang. Wenn auch dieser Zusammenhang nicht perfekt ist, so ist er doch deutlich genug, um zumindest Hinweise auf mögliche biologische Ursachen zu erlauben.


6.1.1  Genetische Forschung

Bei Kindern und Jugendlichen hatte sich bis 1995 eine familiäre Häufung von Geschlechtsidentitätsstörungen nicht zeigen lassen, auch die wenigen vorliegenden Fallberichte über Zwillingspaare zeigten, dass alle hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität diskordant sind (Zucker und Bradley, 1995). Im Jahr 2000 berichtete Green über zehn Geschwister- oder Eltern-Kind-Paare, bei denen eine Konkordanz von Geschlechtsidentitätsstörungen, Transsexualität oder Transvestitismus vorlag, darunter befand sich ein monozygotes männliches Zwillingspaar, beide zeigten eine Geschlechtsidentitätsstörung. Sadeghi und Fakhrai (2000) berichten über zwei monozygote Zwillingsschwestern, die eine Geschlechtsumwandlung wünschten. Bei unseren Frankfurter Patienten fand sich zwei Schwestern, die beide eine Geschlechtsumwandlung wünschten. Es fand sich keine erhöhte Prävalenz von Homosexualität bei erst- und zweitgradigen Verwandten von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsidentitätsstörungen zeigen lassen (Zuger, 1989).

Umfangreicher sind Familien- und Zwillingsstudien bei Homosexualität. Ausgangspunkt war die Aufsehen erregende Studie von Kallmann (1952), der über eine 100 %ige Konkordanz rate für Homosexualität bei monozygoten Zwillingspaaren vs. 15,4 % bei dizygoten männlichen Zwillingspaaren berichtete. Wenn auch diese extreme Differenz in späteren Studien nie bestätigt werden konnte, so fand sich doch in neueren Studien durchgehend eine höhere Konkordanz rate für monozygote Zwillinge im Vergleich zu dizygoten Zwillingen (20 – 60 % vs. 10 – 20 %: Bailey und Pillard, 1991; Whitam et al., 1993; King und McDonald, 1992).

Ein Hauptkritikpunkt an diesen Zwillingspunkten waren Bias, die sich aus der Rekrutierungsmethode heraus ergaben, insbesondere der Tatsache, dass die Probanden primär durch Anzeigen in homosexuellen Zeitschriften und Journalen gewonnen wurden. Wissenschaftlich aussagekräftiger sind sicherlich Studien an Zwillingspaaren, die über nationale Zwillingsregister gewonnen wurden. Buhrich, Bailey und Martin (1991) führten erstmals eine solche Studie an 161 männlichen Zwillingspaaren in Australien durch. Es fand sich bei männlichen Zwillingspaaren eine signifikant höhere Konkordanz rate für Homosexualität bei monozygoten Zwillingspaaren im Vergleich zu dizygoten Zwillingspaaren. Bei weiblichen Zwillingspaaren konnte allerdings dieses Ergebnis nicht gefunden werden (Bailey et al., 1993).

Auf der Ebene chromosomaler Untersuchungen konnten in zwei Studien an Jungen mit Geschlechtsidentitätsstörungen keine Auffälligkeiten gefunden werden (Green, 1976; Rekers et al., 1979). Wie auch bei Erwachsenen transsexuellen Patienten fand sich bei allen Patienten ein normales Chromosomenbild.

Hamer et al. (1993) untersuchten 114 Familien homosexueller Männer. Sie fanden in diesen Familien ein gehäuftes Auftreten von Homosexualität bei männlichen Verwandten auf der mütterlichen Seite. Sie führten daraufhin eine Typisierung des X-Chromosoms durch und fanden eine spezifische Veränderung in der distalen Region des Markers Xq28. Auch dieses Untersuchungsergebnis konnte nicht repliziert werden (Rice et al., 1999).


6.1.2   Endokrinologische Forschung

Eine Übersicht über 29 Studien zum basalen Testosteronspiegel bei homosexuellen Männern und Mann-zu-Frau-Transsexuellen legte Gladue (1990) vor.  Es fanden sich hier keine hormonellen Auffälligkeiten. Ohne Unterschiede zwischen homosexuellen und heterosexuellen Männern blieben auch die Untersuchungen der basalen Östrogen-, Androstrendion- und Gonadotropinspiegel (Goh et al., 1984; Goodman et al., 1985).

Dörner et al.(1975) berichten über einen positiven Östrogen-Feedback nach einmaliger Injektion von Östrogen bei homosexuellen Männern, den sie auch bei biologisch männlichen Transsexuellen fanden, nicht aber bei biologisch weiblichen Transsexuellen (Dörner et al., 1976). Nach einem anfänglichen Abfall des LH-Spiegels, der auch bei den 25 heterosexuellen Männern in der Vergleichsgruppe beobachtbar war, kam es zu einem deutlichen Anstieg des LH über den basalen Ausgangswert. Dieser Anstieg fehlte bei den Vergleichsprobanden, fand sich aber bei heterosexuellen Frauen. Dörner postulierte, dass das positive Östrogen-Feedback normalerweise nur bei Frauen auslösbar ist und Ausdruck eines zyklisch wirkenden, also weiblich strukturierten hypothalamischen Sexualzentrums sei. Gooren (1984. 1986) fand in seinen Untersuchungen die LH-Reaktion als von der jeweiligen gonadalen und der daraus resultierenden hormonalen Gesamtsituation abhängig und schloss daraus auf deren Unabhängigkeit vom Geschlecht von der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität bzw. von einer pränatalen Prägung hypothalamischer Strukturen. Auch konnte Gooren (1986) nachweisen, dass der positive Östrogen-Feedback nur bei den transsexuellen Männern nachweisbar war, die zuvor Östrogene erhalten hatten.

Bei biologischen Frauen ergab eine Metaanalyse von Meyer-Bahlburg (1979, 1984),  dass sich in einer der zwei bis 1984 vorliegenden Studien zu den basalen Testosteronspiegeln bei homosexuellen Frauen und in drei der sieben ebensolchen Untersuchungen bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen eine Erhöhung des Testosteronspiegels bei etwa einem Drittel der Probanden fand. Auch von anderen Autoren würde über erhöhte Testosteronwerte bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen berichtet (Sipova und Starka, 1977; Futterweit et al., 1986). Dem gegenüber fand die Arbeitsgruppe um Gooren (1990) wiederholt normale Testosteronwerte bei Frau-zu-Mann Transsexuellen (Überblick bei Bosinski, 2000).


6.1.3   Pränatale Hormone

Der Einfluss pränataler Hormone auf die Gehirndifferenzierung und die psychosexuelle Entwicklung bei Menschen steht seit längerer Zeit im Zentrum der Forschung. Ausgangspunkt waren die Untersuchungen von Phoenix et al. (1959) an Meerschweinchen. Trächtigen Meerschweinchen wurde Testosteron verabreicht. Bei weiblichen Abkömmlingen führte dies zu einer Maskulinisierung der externen Genitalien, so dass diese nahezu ununterscheidbar von männlichen Abkömmlingen waren. Nach Geburt wurden die Gonaden der Tiere entfernt. Als Kontrollgruppen dienten unbehandelte Tiere, denen ebenfalls die Gonaden entfernt worden waren. Den erwachsenen Meerschweinchen wurden dann verschiedene Dosen von Östradiol injiziert, um so weibliches Sexualverhalten mit typischer Lendenlordose auszulösen. Im Vergleich zu den weiblichen Kontrolltieren zeigten die pseudohermaphroditischen weiblichen Tiere ein eher männliches Sexualverhalten, d.h. Bespringen weiblicher Tiere. Dieses Verhalten blieb mit zunehmendem Alter der Tiere konstant erhalten. Phoenix schloss daraus, dass die Gabe von pränatalen Hormone zu permanenten Veränderungen zentralnervöser Strukturen führt, die das Sexualverhalten steuern.

Beim Menschen liegt ein „Experiment der Natur“ bei frühen endokrinen Störungen vor, die schon pränatal zu Veränderungen führen. Eingehender untersucht wurde das adrenogenitale Syndrom (kongenitale adrenale Hyperplasie, CAH). Mädchen mit frühbehandeltem CAH zeigen in der Kindheit signifikant häufiger als gesunde gleichaltrige Mädchen sogenanntes Tomboy-Verhalten, d.h. Bevorzugung jungentypischer Rauf- und Tobespiele, sie bevorzugen als Spielkameraden Jungen, zeigen gleichzeitig weniger Interesse an typisch mädchenhaften Spielen. (vgl. insbes. Dittmann et al., 1990 a, b). Bei erwachsenen Frauen mit bereits in der Kindheit diagnostiziertem und behandeltem CAH zeigte sich eine deutlich erhöhte Rate bi- und homosexueller Phantasien und Verhaltensweisen (Überblick bei Zucker und Bradley, 1995).

Ähnlich fand sich auch bei Mädchen, deren Mütter in der Schwangerschaft mit Diäthylstilböstrol (DES) behandelt wurden (prä- oder perinatale Gabe von DES führt zu einer Maskulinisierung des Verhaltens bei Tieren (vgl. z.B. Meyer-Bahlburg und Ehrhardt, 1986)), ein eher maskuliner Typ bestimmter kognitiver Leistungen im Kindesalter. Bei erwachsenen Frauen wurde eine höhere Rate bi- und homosexueller Phantasien und Aktivitäten beschrieben (Meyer-Bahlburg et al., 1995).

Ein Mangel an pränatalen Androgenen scheint hingegen zu einer Feminisierung bzw. Demaskulinisierung bestimmter Verhaltensmuster zu führen: Untersuchungen bei Patienten mit komplettem Androgen-Resistenzsyndrom (AIS) zeigten, dass deren sexuelle Orientierung wie auch deren Geschlechtsidentität der heterosexueller Frauen entspricht (Money, 1991).

Untersuchungen an Kindern und Jugendlichen mit Störung der Geschlechtsidentität liegen nicht vor.


6.1.4  Hirnorganische Forschungen

Hirnorganische Forschungen konzentrierten sich auf die Suche nach einem Analogon für die im Tierversuch gefundenen hypothalamischen Geschlechtsunterschiede. Untersucht wurden Mann-zu-Frau-Transsexuelle oder homosexuelle Männer. Diese Untersuchungen konzentrierten sich auf den Bereich des Nucleus suprachiasmaticus (Swaab und Hofman, 1990, Swaab et al., 1987, 1993), des Bed nucleus of the Stria terminalis, central subdivision (BSTc) (Zhou et al., 1995) bzw. der posteromedialen Region dieses Kerngebietes (Allen und Gorski, 1990) und des dritten interstitiellen Nucleus des vorderen Hypothalamus (Le Vay, 1991). Von unabhängigen Untersuchern konnten die hier beschriebenen Veränderungen nicht bestätigt werden (Überblick bei Bosinski, 2000). Von der Arbeitsgruppe Zhou et al. wurden erneut im Jahre 2000 beschrieben, dass die Zahl der Neuronen im BSTc bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen ähnlich hoch war wie bei biologischen Frauen (Kruijver, 2000). In der Mehrzahl wurden diese Untersuchungen aber an einer sehr kleinen Zahl von Patienten durchgeführt, die zum Teil andere erhebliche medizinische Probleme hatten wie AIDS-Erkrankungen.

Eine weitere Forschungsrichtung ergab sich aus den Studien von John Money und Mitarbeitern an der Johns-Hopkins-Universität Baltimore an Kindern mit intersexuellen Fehlbildungen. Ein wesentliches Ergebnis dieser Arbeiten schien zu sein, dass zwischen dem 12. und dem 18. Lebensmonat eine „kritische“ Phase der Ausbildung der Geschlechtsidentität besteht. Eine Geschlechtszuordnung nach dieser Phase sollte zu erheblichen psychischen Problemen führen, eine Neuzuordnung vor dem 18. Lebensmonat hingegen keine Probleme bereiten (Money und Ehrhardt, 1975).

1975 beschrieb Money den Fall eines sieben Monate alten Jungen, dessen Penis bei der Vorhautbeschneidung infolge eines medizinische Unfalls zerstört worden war. Der Familie wurde geraten, das Kind als Mädchen zu erziehen, was nach Money problemlos gelang. Neun Jahre nach dem Unfall soll das Kind (im Kontrast zu seinem gesunden Zwillingsbruder) ohne größere Probleme eine weibliche Geschlechtsidentität entwickelt haben. Dieser Fall ist von besonderer Bedeutung, weil er bis heute immer wieder als ein Beweis für die Lehrmeinung gilt, dass die Geschlechtsidentität im ersten Lebensjahr problemlos verändert oder neu bestimmt werden könnte. Nachuntersuchungen (Diamond, 1982) zeigten jedoch, dass dieses Kind mit 13 Jahren wünschte, dem männlichen Geschlecht anzugehören. Heute lebt der Patient, der eine chirurgische Penisrekonstruktion durchführen hat lassen, als Mann (Colapinto, 2000).

Gearhart und Rock berichteten 1989 über vergleichbare feminisierende Umwandlungsoperationen bei vier Jungen im Alter von sechs Monaten bis drei Jahren, die nach traumatischem Penisverlust durchgeführt wurden. In zwei Fällen lebten die Patienten mittlerweile als gut angepasste sexuell aktive Frauen, in zwei Fällen fehlen Nachfolgeberichte. Ochoa berichtete 1989 über insgesamt sieben Jungen mit traumatischem Penisverlust, in fünf Fällen innerhalb des ersten Lebensjahres. Vier wurden erfolgreich als Jungen aufgezogen, nur einer als Mädchen, hier wurde eine feminisierende Umwandlungsoperation durchgeführt. Dieser Patient verlangte im Alter von 14 Jahren die Rückumwandlung zum Jungen, die dann auch vorgenommen wurde. Bradley et al. berichteten 1998 über einen Jungen, bei dem es im Alter von zwei Monaten zum traumatischen Penisverlust nach Zirkumzision gekommen war, ab dem Alter von sieben Monaten wurde dieses Kind als Mädchen aufgezogen und entsprechend behandelt. Dieser Patient entwickelte eine klare weibliche Geschlechtsidentität.



6.2   Psychologische Forschung

Es sind vier Forschungsrichtungen hervorzuheben:

(1)          Stoller (1968, 1975, 1985), obwohl selbst Psychoanalytiker, entwickelte ein konfliktfreies Prägungsmodell. „Extreme Feminität“ wurde nach Stoller bei den von ihm beschriebenen Jungen (die er nicht selbst untersuchte) durch nichttraumatische Kräfte geprägt. Nur ein seltenes Zusammentreffen verschiedener Faktoren habe eine solche Entwicklung möglich gemacht: Eine bisexuelle Mutter, ein Vater, der körperlich oder emotional abwesend war, eine besondere Schönheit des Kindes sowie eine exzessive („blissfull“) Symbiose zwischen Mutter und Kind. Die Identifizierung dieser Jungen mit ihren Müttern wird als Prägungsprozess verstanden. Greenson (1966), der einen dieser von Stoller beschriebenen Jungen behandelte, sah die Desidentifizierung des Jungen von der Mutter als den entscheidenden Schritt in der Therapie an.

Neuere Forschungsergebnisse stehen in deutlichem Wiederspruch zu dieser konfliktfreien Prägungshypothese. Bei Kindern mit Geschlechtsidentitätsstörungen finden sich nahezu immer traumatische Früherfahrungen und in hohem Maße psychopathologische Auffälligkeiten.

(2)          Green (1987) vertritt eine reine Lerntheorie. Er schreibt den Müttern eine aktive Rolle bei der Ausbildung femininer Interessen ihrer Söhne zu. Nach ihm wünschen sich die Mütter dieser Söhne intensiv eine Tochter und verstärken selektiv alle femininen Verhaltensweisen und Interessen ihrer Kinder. Greens Daten sind jedoch bereits in sich widersprüchlich. So fand er bei den von ihm untersuchten Kindern, dass deren Mütter weniger Zeit mit ihren Kindern verbrachten als die Mütter „maskuliner“ Jungen, ein Befund, der auch Stollers „blissfull symbiosis“- Theorie bezweifeln lässt.

(3)          Bei vielen eingehend untersuchten Kindern mit Geschlechtsidentitätsstörungen sind schwere frühere Traumata gefunden worden. Bloch (1975/1976) beschrieb vier- bis sechsjährige Jungen und Mädchen, die unablässig Phantasien einer Geschlechtsumwandlungen ausagierten. In allen vier Fällen waren die Kinder Zeugen massiver Gewalt, die von einem Elternteil oder einem älteren Bruder ausgegangen war. Bei drei Kindern setzten die Symptome der Geschlechtsidentitätsstörung mit der Geburt eines Geschwisters ein. Bloch kommt zu dem Schluss, dass die Übernahme einer neuen (Geschlechts-)Identität bei diesen Kinder Ängste vor Vernichtung und Tötung abwehrte. In größeren Studien konnten auch Meyer und Dupkin (1985) sowie Coates (1990) die wichtige Rolle von Traumata bei der Entstehungen von Geschlechtsidentitätsstörungen bestätigen. Massive Trennungs- und Vernichtungsängste werden bei Jungen durch eine Identifizierung mit der Mutter abgewehrt.

(4)          Nach ausführlicheren Berichten über die psychoanalytische bzw. psychotherapeutische Behandlung geschlechtsidentitätsgestörter Jungen (Sperling, 1964; Francis, 1965; Loeb und Shane, 1982; Pruett und Dahl, 1982; Herman, 1983; Bleiberg et al., 1986; Silverman, 1990; Haber, 1991; Loeb, 1992; McDevitt, 1995; Meyenburg, 1999, 2001) steht im Gegensatz zu den Hypothesen von Bloch und Coates ätiopathogenetisch nicht ein reales Trauma im Vordergrund. Als zentrales Problem erscheint bei vielen dieser Jungen ein als unerträglich empfundenes Gefühl des Verlustes der Liebe und der Zuwendung der Mutter, daraus entsteht ein Drang, die Liebe der Mutter wieder zu gewinnen, indem sie (symbolisch) mit ihr verschmelzen. Auf dem Boden dieser frühen Störung entsteht als neurotische Abwehrbildung der Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören. In allen zitierten Arbeiten führte die Psychotherapie zu einem Verschwinden des Wunsches nach Geschlechtswechsel.

Nur zwei der von Bloch (1975/1976) beschriebenen Patienten sind Mädchen. Bislang wurden sonst überwiegend Mädchen untersucht. Lediglich Bradley (1985, 1990) hat eingehender die Entstehung von Geschlechtsidentitätsstörungen bei Mädchen studiert. Sie untersuchte neun 5- bis 24-jährige Mädchen und Frauen, die einen Geschlechtswechsel wünschten. Die Entstehung des Wunsches führte sie darauf zurück, dass diese Mädchen sich selbst und ihre Mütter vor gewalttätigen Vätern schützen und dazu männliche Stärke gewinnen mussten.

Eine in Frankfurt behandelte Patientin, ein 14jähriges Mädchen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung, war von ihrem siebten Lebensjahr an von ihrem Vater mehrere Jahre lang sexuell missbraucht worden, nachdem die Mutter die Familie verlassen hatte. Ihre größte Angst war, dass der Vater auch die jüngere Schwester sexuell missbrauchen würde. Sie wollte unbedingt ein Junge sein und erwägt heute, im Erwachsenenalter, geschlechtsumwandelnde Operationen.

Bei Mädchen mit Geschlechtsidentitätsstörungen spielen frühe (reale) Traumata offenbar eine erhebliche Rolle bei der Ausbildung dieser Störung. Stoller (1972) untersuchte zehn biologisch weibliche Transsexuelle, die bereits als Kinder die typischen Symptome einer Geschlechtsidentitätsstörung gezeigt hatten. Er fand bei allen seinen Patientinnen eine tiefgreifende Störung der Beziehung zu ihren Müttern und stellte die Hypothese auf, dass das kleine Mädchen die Störung der Mutter-Kind-Beziehung durch eine männliche Identifizierung zu beheben versucht. Im Einklang mit dieser Hypothese steht auch der detaillierte Bericht Gilmores (1995) über die siebenjährige Behandlung eines geschlechtsidentitätsgestörten Mädchens.



7.   Katamnestische Untersuchungen

Die umfangreichste Nachuntersuchung geschlechtsidentitätsgestörter Jungen führte Green (1987) durch. Er untersuchte „feminine“ Jungen erstmals im Alter von vier bis zwölf Jahren und führte im Mittel etwa acht Jahre später eine letzte Nachuntersuchung durch. Von den 44 Nachuntersuchten waren 32 (73%) homo- oder bisexuell, ein junger Mann war transsexuell, 12 Nachuntersuchte waren heterosexuell. In der Kontrollgruppe war nur ein Junge bisexuell geworden.

Neben dieser liegen sechs weitere Berichte über etwas größere Zahlen nachuntersuchter Kinder vor (Bakwin, 1968; Lebovitz, 1972; Zuger, 1978, 1984; Money und Russo, 1979; Davenport, 1986; Kosky, 1987). Fasst man die Ergebnisse dieser Berichte zusammen (Überblick bei Zucker und Green, 1992) und schließt die erstmals in der Adoleszenz untersuchten Patienten aus, so verbleiben 55 Jungen, die im Alter von 13-36 Jahren nachuntersucht worden sind. Fünf wurden als transsexuell, 71 als homosexuell, einer als heterosexueller Transvestit und 14 als heterosexuell eingestuft; bei 14 Jungen war eine Einschätzung nicht möglich. 66% dieser Jungen waren demnach transsexuell, homosexuell oder transvestitisch, ein Prozentsatz, der mit den Ergebnissen der Green-Studie im Einklang steht. Auffällig ist jedoch die größere Zahl transsexueller Entwicklungen, die dadurch eine Erklärung finden könnte, dass Green „feminine“ Jungen untersuchte, die nicht alle die diagnostischen Kriterien einer Geschlechtsidentitätsstörung erfüllten, während von den anderen Untersuchern offenbar schwerer gestörte Jungen (nach-)untersucht worden sind.



7.   Therapie

Die Behandlung von Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter ist in der Regel ambulant durchzuführen, eine stationäre oder teilstationäre Therapie ist nur bei schwerwiegender psychiatrischer Komorbidität indiziert, z.B. Suizidversuchen, Psychosen oder schweren depressiven Erkrankungen. Die generell indizierte Behandlung ist die individuelle tiefenpsychologische oder kognitiv orientierte Psychotherapie. Es liegt hier eine große Zahl von Fallberichten vor (Überblicke bei Zucker und Bradley, 1995; Meyenburg, 1994, 1999). Auch die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2000) und die Leitlinien des Royal College of Psychiatrists (1998) empfehlen ein solches Vorgehen.

Es stellt sich die Frage, ob Kinder oder Jugendliche mit Geschlechtsidentitätsstörungen wirklich krank oder gestört sind und somit einer Behandlung bedürfen. Wie die wenigen prospektiven Untersuchungen zeigen, verhalten sich die meisten Kinder mit Geschlechtsidentitätsstörungen als Jugendliche oder junge Erwachsene homosexuell. Hiernach wäre eine psychotherapeutische Behandlung mit dem Ziel der Beseitigung der Geschlechtsidentitätsstörung als eine „Homosexualitätsprophylaxe“ anzusehen, und es wären zu Recht ernsthafte ethische Bedenken zu erheben, eine Behandlung mit diesem Ziel durchzuführen.

Ein zweites wesentliches Argument ist das seelische Befinden der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass alle im Frankfurter Untersuchungsprogramm untersuchten Kinder und Jugendlichen erhebliche Verhaltensauffälligkeiten und seelische Störungen zeigten. Nach unserer Auffassung hat die Ausbildung einer Geschlechtsidentitätsstörung seelisch die Funktion einer Abwehr und wird nur von wenigen Kindern ohne bewusste Konflikte erlebt. Die Kinder wehren mit dieser Symptomatik massive Trennungs- und Vernichtungsängste ab, die sich im Gefolge einer Störung der Mutter-Kind-Beziehung entwickeln. Mit Hilfe des Wunsches, dem anderen Geschlecht anzugehören, stellen die Kinder die durch physische oder emotionale Abwesenheit der Mutter gestörte Beziehung zur Mutter in ihrer Phantasie wieder her. Sie imitieren die Mutter und verwechseln „Mutter sein“ mit „die Mutter haben“. Gerade die getriebenen, repetitiven, zwanghaften und starren gegengeschlechtlichen Verhaltensweisen, die oft bei diesen Kindern anzutreffen sind, sprechen dafür, dass es sich um eine Abwehrbildung handelt. Wir beobachteten immer wieder, dass Kinder in den Therapiestunden dann besonders intensiv, starr und repetetiv gegengeschlechtliche Verhaltensweisen zeigten (bei Jungen z.B. Puppenspielen, Kämmen und Bürsten von Haaren), wenn spezifische Themen oder Fragen Ängste hervorriefen.

Nur Stoller (1975) meint, dass die von ihm untersuchten extrem femininen Jungen keinerlei seelische Auffälligkeiten außer ihrer Geschlechtsidentitätsstörung zeigten. Für Stoller ist die Störung der „core gender identity“ eine „variant“ und nicht Folge eines intrapsychischen Konflikts, sie steht nicht im Dienste der Abwehr (Stoller, 1985: 1035). Stoller (1968: 89ff) hebt andererseits aber hervor, dass er eine „Extremvariante“ femininer Jungen beschreibt, die er als den Vorläufer einer transsexuellen Entwicklung ansieht.

Geschlechtsatypisches Verhalten ist nicht als ein einheitliches klinisches Syndrom anzusehen. Feminine Verhaltensweisen oder Wünsche, die erwachsene homosexuelle Männer aus ihrer Kindheit erinnern, haben sicher nur bei einem kleinen Teil dieser Jungen ein Ausmaß erreicht, das die Diagnose „Geschlechtsidentitätsstörung“ gerechtfertigt hätte. Wenn auch eine große Zahl von Jungen mit geschlechtatypischem Verhalten eine homosexuelle Entwicklung durchläuft, so ist doch das geschlechtsatypische Verhalten später sich homosexuell verhaltender Männer nicht notwendigerweise mit dem klinischen Bild einer Geschlechtsidentitätsstörung identisch. So fanden Saghir und Robins (1973) in ihrer retrospektiven Analyse der Kindheit homosexueller Männer deutlich seltener gegengeschlechtliche Wünsche als gegengeschlechtliche Verhaltensweisen. Störungen der Geschlechtsidentität in der Kindheit sind aber gerade dadurch charakterisiert, dass ein starker Wunsch besteht, dem anderen Geschlecht anzugehören, und dass ein anhaltendes und starkes Unbehagen über das angeborene Geschlecht vorliegt.

Allein die so genannte Begleitpathologie rechtfertigt eine psychotherapeutische Intervention, denn es handelt sich um eine Psychopathologie, die nicht nur „begleitend“ ist, sondern in der Regel in einem direkten Zusammenhang mit der Identitätsstörung steht.

Die große Zahl von vorliegenden Psychotherapieberichten zeigt, dass eine therapeutische Intervention umso erfolgreicher ist, je frühzeitiger sie erfolgt, auch mit dem Ergebnis, dass es zu einem völligen Verschwinden der Geschlechtsidentitätsstörung kommt. Selbst im Jugendalter kommt es nach teilweise relativ kurzen Therapiedauern zu einem Verschwinden des Wunsches, dem anderen Geschlecht anzugehören (Meyenburg, 1999).

Eine tiefenpsychologisch oder kognitiv orientierte Psychotherapie folgt dabei den Regeln allgemeiner psychotherapeutischer Behandlung, die Symptome der vorliegenden Geschlechtsidentitätsstörung sind wie jedes andere Symptom im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung zu verstehen.

Wenn auch Berichte vorliegen, die über ein Verschwinden der Geschlechtsidentitätsstörung berichten, so muss doch hervorgehoben werden, dass es insbesondere bei älteren jugendlichen Patienten nur eine kleine Zahl ist, bei denen dieses Ergebnis zu beobachten ist. Ziel der psychotherapeutischen Behandlung sollte so nicht primär die Beseitigung der Geschlechtsidentitätsstörung sein, es ist das primäre Ziel der Psychotherapie insbesondere bei Kindern, die sich aus dem „Anderssein“, der psychischen und sozialen Außenseiterstellung entwickelnden Konflikte zu vermindern. Dieses kann auch durch eine konkrete Beratung der Eltern erreicht werden, denn diese zeigen häufig Unsicherheiten, ob und in welchem Umfang sie geschlechtsatypische Kleidung und Aktivitäten erlauben sollen. Die Eltern sollten über den wahrscheinlichen Verlauf von Störungen der Geschlechtsidentität im Kindesalter aufgeklärt werden, nämlich dass es bei Jungen meist zu einer homosexuellen Partnerwahl oder bisexuellem Verhalten kommt, Mädchen hingegen können auch nach länger dauernder und intensiver Symptomatik meist im Laufe der pubertären Entwicklung den Wunsch aufgeben, dem anderen Geschlecht anzugehören und über ihr biologisches Geschlecht nicht länger Unbehagen empfinden. Kindergartenerzieher und Lehrer sollten in Grundzügen über das Vorliegen der Geschlechtsidentitätsstörung aufgeklärt werden, um zu vermeiden, dass auf das Kind Druck ausgeübt wird, sich geschlechtstypisch zu verhalten. Bei jüngeren Kindern sollten die Eltern beraten werden, das geschlechtsatypische Verhalten auf den häuslichen Rahmen zu beschränken, es als „Spiel“ zu behandeln, um so zu verhindern, dass das Kind in eine soziale Außenseiterposition kommt, denn dieses geschieht schnell, vor allem wenn Jungen in der Öffentlichkeit als Mädchen auftreten.

Die eigentliche individuelle psychotherapeutische Arbeit mit dem Kind sollte langfristig sein, d.h. über einen Mindestzeitraum von zwei Jahren ein- bis zweimal wöchentlich stattfinden. Bei jüngeren Kindern ist dies nach den Regeln der Spieltherapie durchzuführen, gestaltendes und expressives Spiel hat Vorrang vor Regelspielen. Bei älteren Kindern sollte der Versuch verbaler psychotherapeutischer Behandlung gemacht werden.


Fallbeispiel:

Die Eltern des 6jährigen Andreas wünschten dringend eine Therapie für ihren Sohn, weil er immer wieder den Wunsch äußerte, ein Mädchen zu sein. Er habe auch schon gesagt, er sei ein Mädchen. Besonders entsetzt waren die Eltern, als Andreas sagte: „Ich geh zum Arzt und lass‘ mir den Penis abschneiden!“ Früher habe er die Mutter wiederholt gefragt: “Gell, Mama, man kommt als Mann zu Welt und wird dann eine Frau?“

Zum ersten Mal hatte Andreas im Alter von 4 Jahren begonnen, sich im Kindergarten als Mädchen zu kleiden. Anfangs hatte die Eltern damit kein Problem. Sie hatten das Verkleiden für eine „Phase“ gehalten und es zuhause sogar gefördert, indem sie eine „Verkleidungsecke“ einrichteten. Andreas begann auch, sich im Haus zu schminken und Schmuckstücke der Mutter anzulegen. Bei Spielen wollte er immer nur die Braut, die Fee oder die Prinzessin sein. Besonders liebte er Barbie-Puppen. An Jungenspielsachen hatte er kein Interesse. Er hatte nur Mädchen als Spielkameraden.

Nach einigen Monaten hatten die Eltern schließlich einen Psychologen konsultiert, weil sie dachten, dass die „Phase“ zu lang dauere. Der Psychologe hatte erklärt, dass Andreas den Wunsch der Eltern auslebe, als zweites Kind ein Mädchen zu haben. Andreas hat einen zwei Jahre jüngeren Bruder, den die Eltern als das genaue Gegenteil von Andreas beschrieben: er sei sehr jungenhaft und spiele am liebsten mit Gewehren, Dinosauriern und Autos.

Die Mutter schilderte noch weitere Verhaltensprobleme: Zwischen ihr und Andreas gebe es sehr oft Machtkämpfe. An manchen Tagen weigere er sich intensiv, in den Kindergarten zu gehen, er lasse sich dann durch kein Argument überzeugen. Diese Probleme hätten mit zwei Jahren begonnen, nach der Geburt des Bruders. Andreas sei trotzig und stur geworden, er habe nicht hören wollen. Die Eltern seien aber hart geblieben, hätten dadurch jedoch den Trotz noch verstärkt. Durch seine aggressive Verweigerungshaltung reize er die Eltern oft „bis zur Weißglut“. Am Ende des Machtkampfes stampfe er mit dem Fuß auf, „er gibt klein bei und weint“.

Ich entschied mich bei Andreas, ihn zweimal wöchentlich psychoanalytisch zu behandeln. Einmal im Monat fand ein Gespräch mit den Eltern statt. Aus diesen Gesprächen entstand folgendes Bild: Die Eltern berichteten, dass Andreas in seinen ersten zwei Lebensjahren der „Prinz“ im Hause gewesen sei. Er habe immer engen körperlichen Kontakt zur Mutter gesucht. Nach der Geburt seines zwei Jahre jüngeren Bruders habe sich alles schlagartig geändert, weil der Bruder ein sehr schwieriges Kind gewesen sei, das alle Kräfte der Mutter absorbiert habe. Damals habe Andreas begonnen, extrem intensiv und häufig am Daumen zu lutschen, und sei sehr trotzig und aggressiv geworden. Mit den Eltern wurde besprochen, dass sie die Zeit für das „Verkleidungsspiel“ einschränken und Andreas erklären sollten, dass das etwas sei, was man nur zuhause mache.

Im ersten halben Jahr der Therapie kam Andreas mit großer, freudiger Erwartung und strahlendem Gesicht in das Behandlungszimmer. Er erklärte ohne Umschweife, dass er sich wünsche, ein Mädchen zu sein. Außerdem wünschte er sich ein Puppenhaus und Barbie-Puppen. Das Spiel mit Puppen wurde im ersten Therapiejahr auch das dominierende Thema. Im Spiel mit dem Puppenhaus spielte Andreas die Kinder, dem Therapeuten wurde die Rolle der Eltern zugewiesen. Wichtig war, dass die Kinder oft frech und böse waren und nicht auf die Eltern hörten. Während Andreas sonst lieb und brav war, verhielt er sich bei diesem Spiel immer wieder auffällig aggressiv. Auch beim späteren Spiel mit Barbie-Puppen war Andreas sehr aggressiv. Die Barbie-Puppe des Therapeuten wurde regelmäßig mit einem vergifteten Kamm getötet. Sie wurde besonders heftig attackiert, als sie sich weigerte, ihr Baby (das wie alle Baby-Puppen geschlechtslos war, aber zum Jungen erklärt wurde) in ein Mädchen um operieren zu lassen. Die zwei Babys seiner Barbie-Puppe waren selbstverständlich Mädchen. Die unsichere Geschlechtsidentität von Andreas zeigte sich auch daran, welche Barbie-Puppe er bevorzugte: Sein größter Wunsch war die „Meerjungfrau“-Barbie, eine Puppe mit geschlechtslosem Unterleib.

Mit zunehmendem Alter, mittlerweile im Schulalter, wollte Andreas „richtige“ Spiele spielen. Sein Lieblingsspiel wurde ein Würfelspiel, in dem männliche und weibliche Partygäste von einem Gespenst verfolgt und gefangen werden, wenn sie sich nicht rechtzeitig versteckten. Ein viertel Jahr lang spielte Andreas ausschließlich die weiblichen Gäste. Eine Veränderung trat ein, als er sich nach einem vorausgegangenen Streit mit der Mutter erstmals standhaft geweigert hatte, ins Therapiezimmer zu kommen. Die Mutter sollte mitkommen und mitspielen, ich sollte machen, dass alles wieder gut war. Immer wieder traten im weiteren Verlauf solche Stunden auf. Erstmals konnte ich mit Andreas darüber sprechen, dass ich mir Sorgen um ihn machte, weil er so unglücklich war, ein Junge zu sein. Allmählich verhielt sich Andreas nach diesen Stunden weniger auffällig feminin: Im Würfelspiel wählte er erstmals männliche Figuren, mit den Barbie-Puppen wollte er nicht mehr spielen. Gleichzeitig begann er, am Ende jeder Stunde das Ergebnis unserer Spiele auf einen kleinen Zettel zu schreiben, den er sich von meinem Schreibtisch nahm und sorgfältig mit meinem Namensstempel versah. Zuletzt berichteten die Eltern, dass sich Andreas kaum noch als Mädchen verkleidete und mehr mit dem Vater zu spielen verlangte. Heute spielt er am liebsten Fußball.

Der von Andreas traumatisch erlebte Verlust der ungeteilten Zuwendung der Mutter hatte zu einer aggressiven Verweigerung geführt. Symbolisch musste er sich mit der Mutter wieder vereinen, indem er wie sie wurde. Die Therapie hat seine Angst, von der Mutter verlassen zu werden, deutlich vermindert. Die Mutter brachte ihn regelmäßig zur Behandlung. Gab es Streit, musste die Mutter mit ins Therapiezimmer kommen, damit alles wieder gut wurde. In der Therapie hatte Andreas eine enge Bindung an den Therapeuten entwickelt, die er auch über die Stunden hinweg magisch aufrechtzuerhalten suchte. Die Notwendigkeit, seine Ängste vor dem Verlassen werden durch weibliche Identifikation zu vermindern, war nicht mehr so zwingend. Heute kann er ohne innere Gefahr männlich-aggressiv auftreten und mit dem Vater konkurrieren.

In publizierten Therapieberichten wird oft darauf hingewiesen, dass solche Jungen Aggressivität und Männlichkeit gleichsetzen und daher ein passives, unaggressives Verhalten zeigen. Die Tatsache, dass sich Andreas seit seinem 3. Lebensjahr gegenüber der Mutter deutlich aggressiv verhielt und dass aggressionsbesetzte Themen auch bald in der Therapie ein vorherrschende Rolle spielten (sowohl in dem Sinn, das er hier aggressiv auftreten konnte, als auch in dem Sinn, dass eine Gefahr, gleichbedeutend mit Aggression, gebannt werden musste), ließ die Chancen einer psychotherapeutischen Behandlung günstig erscheinen. Frühe präödipale Trennungsängste waren bei Andreas weniger stark als ödipale Konflikte, die er vermehrt auszutragen begann, wobei er mit dem Vater offen rivalisierte.


Wie erwähnt kann auch beim Jugendlichen eine psychotherapeutische Arbeit zu dem Ergebnis führen, dass der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung aufgegeben wird.

Fallbeispiel:

Sandra war 17 Jahre alt, als sie mit dem Wunsch nach Geschlechtsumwandlung erstmals zur Vorstellung kam. Sie trug männliche Kleidung, verhielt sich betont männlich und verlangte, mit ihrem selbstgewählten männlichen Vornamen angesprochen zu werden. Sie berichtete, dass sie sich nie als Mädchen gefühlt habe, während der ganzen Kindheit habe sie schon gefühlt, dass etwas mit ihr nicht stimme. Im Alter von 13 Jahren sah sie ein Fernsehprogramm über Transsexualität und war seit dieser Zeit davon überzeugt, dass dieses ihr Problem war. Sie berichtete, dass sie sich schon immer sexuell für Mädchen interessiert hatte, eine Zeitlang habe sie auch versucht, als Lesbierin zu leben, hatte bald aber gefühlt, dass dieses nicht die Lösung ihres Problems war.

Ihr biologischer Vater war ein Alkoholiker, der die Mutter körperlich misshandelte, die Eltern trennten sich schon in der frühen Kindheit. Sandra wurde bereits als Baby zu ihren Großeltern nach Griechenland geschickt, hier lebte sie bis zu ihrem 13. Lebensjahr.

Nach dem Tod der Großeltern holte die Mutter Sandra wieder zu sich. Die Mutter und der neue Stiefvater lehnten Sandras Wünsche, als Junge zu leben, ab, es kam häufig zu Streit und Auseinandersetzungen. Sandra berichtete, dass die Mutter sogar gedroht habe, sie werde sie töten, falls sie sich nicht änderte. In der Folge wandte sich Sandra an das Jugendamt, sie bekam eine eigene Wohnung.

Wenige Tage vor ihrem ersten Termin beging Sandra ein Suizidversuch durch Pulsaderschnitt. Sie berichtete, sie habe das Gefühl gehabt, niemand könne ihr helfen. Es wurde eine analytische Psychotherapie für die Mindestdauer eines Jahres mit wöchentlichen Sitzungen vereinbart. Zunächst erschien sie regelmäßig zu ihren Sitzungen.

In der Therapie verbrachte sie viel Zeit damit, über ihre vielen Freundinnen zu berichten, die sich in sie verliebt hätten. Sie betonte immer wieder, wie wichtig die jeweilige Beziehung war, jedoch jede Woche hatte sie eine neue Freundin. Beziehungen, die sie als „tief und vertrauensvoll“ beschrieb, zerfielen sehr rasch. Obwohl sie sexuell aktiv war, vermied sie es, von ihren Freundinnen direkt genital stimuliert zu werden.

In der Beziehung zu ihren Eltern gab es ein deutliches Element der Spaltung: Sie wertete ihre Mutter ab und überidealisierte ihren Stiefvater, so wie sie auch in der Anfangsphase der Therapie ihren Therapeuten überidealisierte. Sandra hatte das Gefühl, dass ihre Mutter sie als kleines hilfloses Baby ausgesetzt hatte. Ihre Mutter verstehe ihre Probleme überhaupt nicht, ihr Stiefvater jedoch verstehe sie ganz und gar. Mit ihm könne sie alles besprechen. Sandra beschrieb wiederkehrende Alpträume, in denen sie versuchte, eine Person davon abzuhalten, in ihren Körper einzudringen. Auf die Deutung hin, dass diese Alpträume etwas Schreckliches repräsentierten, das ihr in der Vergangenheit passiert war, erinnerte Sandra eine schreckliche und erniedrigende Vergewaltigung durch eine Gruppe männlicher Jugendlicher in ihrem griechischen Heimatdorf.

Nach drei Monaten Therapiedauer wurde Sandra sehr ungeduldig, sie verlangte, dass sofort die geschlechtsumwandelnde Operation durchgeführt werde. Vor allem wünschte sie, dass ihre Brüste entfernt würden. Gleichzeitig wurde Sandra zunehmend depressiv. Sie sah nun, dass sie immer versucht hatte, sich selbst als einen fröhlichen und lebenslustigen Menschen zu  präsentieren, dem alles gelang, in ihrem Inneren fühlte sie aber eine schreckliche Trauer. Sie berichtete, sie müsse immer an all die schrecklichen Dinge denken, die ihr zugestoßen waren. In ihren Therapiestunden verlangte sie aber weiter unablässig eine Geschlechtsumwandlung.

Sie konnte nicht mehr alleine schlafen. Sie berichtete, dass sie die Liebe ihrer Mutter vermisste, sie hoffte, mütterliche Liebe von älteren Freundinnen zu bekommen, die sie suchte und fand und mit denen sie schlief. Sie versuchte auch, in einem Kindergarten zu arbeiten, damit sie den Kindern dort die Liebe geben könnte, die sie als Kind so sehr vermisst hatte. Plötzlich und unerwartet kam es zu Therapieabbruch. Erst einige Monate später erfuhren wir, dass sie zusammen mit einer älteren Freundin aufs Land gezogen war, hier lebten die beiden zusammen als lesbisches Paar. In den jetzt zehn darauf folgenden Jahren wurde sie nie wieder mit dem Wunsch nach Geschlechtsumwandlung vorstellig.


Bleibt allerdings der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung bestehen, erfolgt die weitere Behandlung nach den Grundregeln der Behandlung erwachsener transsexueller Patienten (Becker et al., 1997; Sigusch, 2001):
Eine mindestens einjährige psychotherapeutische Arbeit dient der Abklärung, ob eine Unterstützung geschlechtsumwandelnder Maßnahmen wie gegengeschlechtliche Hormonbehandlung, chirurgische Eingriffe, Namen- und Personenstandsänderung indiziert ist.
Falls der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung bestehen bleibt. muss ein sogenannter Alltagstest von mindestens einjähriger Dauer durchlaufen werden. Der Patient muss während dieses Alltagstests möglichst voll in der angestrebten Geschlechtsrolle leben, die psychotherapeutische Behandlung sollte hierzu begleitend durchgeführt werden.
Geschlechtsumwandelnde Maßnahmen sollten frühestens nach dem Erreichen des 18. Lebensjahres eingeleitet werden, in klaren Einzelfällen kann eine gegengeschlechtliche Hormonbehandlung auch schon vor dem Erreichen der Volljährigkeit begonnen werden. Insbesondere von der niederländischen Arbeitsgruppe (Cohen-Kettenis und van Goozen, 1997) werden reversible hormonelle Behandlungen (mit Hypothalamus Blockern, die zu einer Suppression der Östrogen- bzw. Testosteronproduktion führen) befürwortet, um die pubertären biologischen Veränderungen aufzuhalten. Dieses führte dazu, dass in Einzelfällen solche Behandlungen schon zu Beginn der Pubertät gewünscht und auch befürwortet werden, in einem Fall bereits bei einem elfjährigen Jungen (Preuss, pers. Komm. 2002). Eine solch frühe hormonelle Intervention steht im Widerspruch zu den Zielen psychotherapeutischer Arbeit, durch die ja zumindest ein Weg geöffnet werden sollte, mit dem biologischen Geschlecht zu leben. Wird gleichzeitig auch „nur“ eine hormonelle, den Eintritt der Pubertät hinauszögernden Behandlung befürwortet, so wird dem Patienten in der Konsequenz eine widersprüchliche doppelte Botschaft gegeben und eine erfolgreiche psychotherapeutische Arbeit damit unmöglich gemacht. Wir befürworten daher den Beginn einer hormonellen Behandlung nicht vor dem 16. Lebensjahr, chirurgische geschlechtsumwandelnde Eingriffe in aller Regel nicht vor Erreichen des 18. Lebensjahres.

Es liegt eine nicht unerhebliche Zahl von Rückumwandlungswünschen vor, international wurden nach Pfäfflin und Junge (1992) zwischen 1961 und 1991 bis 23 „Geschlechtsrollen-Rückfälle“ dokumentiert, wobei die wahre Zahl von „Rückfällen“ wesentlich höher liegen dürfte (Sigusch, 2001). In der Mehrzahl hatten diese Patienten keine längere psychotherapeutische Behandlung erhalten, sich nicht an das schrittweise Vorgehen gehalten, sondern sich sehr schnell auf dem schwarzen medizinischen Markt Hormonpräparate besorgt und sich teilweise im Ausland um operieren lassen





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