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vor, einer Minderheit anzugehören!
Vor einigen Tagen stellte ich eine Anfrage wegen :
Anfrage Begutachtungsanleitung Transsexualität
Meine sehr geehrten Damen und Herren liebe Betroffene von Transidentität unter diesem Link könnt Ihr einen Einblick erhalten was die Begutachtungsanleitungen besagen!
Störungen der
Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter
Von
Dr. med. Bernd Meyenburg
Leiter der Institutsambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des
Kindes- und Jugendalters
Deutschordenstr. 50
60528 Frankfurt am Main
Störungen der Geschlechtsidentität sind durch ein
anhaltendes und starkes Unbehagen und Leiden am eigenen biologischen Geschlecht
charakterisiert. Sie gehen einher mit dem Wunsch oder der Beteuerung, dem
anderen Geschlecht anzugehören und entsprechend leben zu wollen. Sie können bis
zum Wunsch zur gegengeschlechtlichen hormonellen Behandlung und nach einer
operativen Geschlechtsumwandlung führen.
1. Klinisches Bild und Klassifikation
Zwei Hauptsymptome
müssen vorliegen, um die Diagnose einer Geschlechtsidentitätsstörung zu
stellen:
Der Wunsch dem
anderen Geschlecht anzugehören
Das Unbehagen über
das eigene Geschlecht.
Es muss eine deutliche und persistierende Identifikation mit
dem anderen Geschlecht vorliegen, d.h. der Patient/die Patientin wünscht oder
insistiert das er/sie dem anderen Geschlecht angehört (diagnostisches
Hauptkriterium A nach DSM-IV). Weiter muss ein anhaltendes Leiden am eigenen
biologischen Geschlecht vorliegen oder ein Gefühl, dass das dem biologischen
Geschlecht entsprechende Verhalten nicht angemessen ist (diagnostisches
Hautkriterium B nach DSM-IV).
Bei Jungen zeigt sich die gegengeschlechtliche
Identifikation in einer ausgeprägten Beschäftigung mit traditionell weiblichen
Interessen. In der Regel wünschen diese Jungen, Mädchen– oder Frauenkleider zu
tragen. Wenn solche Kleidungsstücke nicht zur Verfügung stehen, werden oftmals
Tücher, Schürzen, Schals oder andere Kleidungsstücke benutzt, um damit
Frauenkleider zu improvisieren. Diese Jungen bevorzugen Mädchenspiele, insbesondere
Puppenspiel, Lieblingszeichnungen sind die von schönen Mädchen oder
Prinzessinnen. In Spielsituationen bevorzugen diese Jungen, weibliche Rollen,
insbesondere die der Mutter. Typische Jungenspiele werden vermieden,
insbesondere Spiele, bei denen der Einsatz körperlicher Kraft verlangt wird,
vor allem am Fußballspiel zeigen diese Jungen kein Interesse. Sie bevorzugen
Mädchen als Spielkameraden. Oftmals drücken sie den Wunsch aus, ein Mädchen
sein zu wollen, sie erklären, dass sie eine Frau werden, wenn sie groß werden.
Typischerweise insistieren sie darauf, beim Urinieren zu sitzen, sie geben
oftmals vor, keinen Penis zu haben, indem sie ihn zwischen den Beinen
verbergen. Seltener äußern Jungen mit Geschlechtsidentitätsstörungen, dass sie
ihren Penis oder ihre Genitalien abstoßend finden, dass sie sich ihrer Entledigen
wollen oder dass sie sich wünschen, eine Vagina zu haben.
Mädchen mit Geschlechtsidentitätsstörungen lehnen es
typischerweise ab, Mädchenkleider zu tragen oder sich weiblich zurecht zu
machen. In manchen Fällen weigern sie sich, an sozialen Aktivitäten
teilzunehmen, bei denen erwartet wird, dass sie solche Kleidungsstücke tragen.
Sie bevorzugen Jungenkleidung, tragen ihr Haar kurz geschnitten, werden für
Jungen gehalten, verlangen oftmals auch, einen Jungennamen zu tragen. In ihrer
Phantasie beschäftigen sie sich mit machtvollen männlichen Figuren. Sie
bevorzugen Jungen als Spielkameraden, bevorzugen Mannschaftssport wie Fußball
und andere traditionelle Jungenspiele, in denen der Einsatz von körperlicher
Kraft gefragt ist. An Mädchenspielen zeigen sie wenig Interesse, insbesondere
nicht am Puppenspiel. Oftmals weigern sich diese Mädchen auch, im Sitzen zu
urinieren. Sie können darauf insistieren, dass sie einen Penis besitzen oder
dass einer wachsen wird, besonders belastend sind die pubertären Veränderungen
wie Brustwachstum und Menstruation (vgl. DSM-IV).
Bei Jugendlichen nähert sich das klinische Bild den
erwachsener transsexueller Patienten. Sie äußern den unbedingten Wunsch, dem
anderen Geschlecht anzugehören, als Person des anderen Geschlechts zu leben und
behandelt zu werden, sie äußern die Überzeugung, dass sie die typischen Gefühle
des anderen Geschlechts besitzen. Es wird oftmals sehr dringlich der Wunsch
nach geschlechtsumwandelnden medizinischen Maßnahmen wie gegengeschlechtlicher
Hormonbehandlung und Geschlecht korrigierenden operativen Eingriffen geäußert.
Nicht selten treten Jugendliche bereits real in der gegengeschlechtlichen Rolle
auf und werden oftmals in dieser auch akzeptiert. Häufiger und überzeugender
gelingt dieses biologisch weiblichen Patienten.
Leitymptome für Störungen der Geschlechtsidentität im
Kindes- und Jugendalter (vgl. Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von
psychischen Störungen im Säuglings- Kindes- und Jugendalter der Deutschen
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2000):
Erstes diagnostisches Hauptkriterium:
Es besteht der dringliche und anhaltende Wunsch, dem anderen
Geschlecht anzugehören.
Bei Kindern sollten vier der folgenden fünf Kriterien
erfüllt sein:
Wiederholt geäußerter Wunsch oder beharren darauf, dem
anderen Geschlecht anzugehören
Bevorzugtes Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts oder
Nachahmung des Erscheinungsbildes des anderen Geschlechts
Dringliche und andauernde Bevorzugung der
gegengeschlechtlichen Rolle im Spiel oder anhaltende Phantasien, dem anderen
Geschlecht anzugehören
Intensiver Wunsch, an den für das andere Geschlecht
typischen Spielen und Aktivitäten teilzunehmen
Starke Präferenz von gegengeschlechtlichen Spielkameraden
Jugendliche äußern den Wunsch, dem anderen Geschlecht
anzugehören, als Person des anderen Geschlechts zu leben und behandelt zu
werden oder die Überzeugung, dass sie die typischen Gefühle des anderen
Geschlechts besitzen. Nicht selten treten Jugendliche auch real in der
gegengeschlechtlichen Rolle auf und werden in dieser akzeptiert.
Zweites
diagnostisches Hauptkriterium:
Andauerndes
Unbehagen über das eigene Geschlecht.
Bei Kindern werden
die folgenden Symptome beobachtet:
Bei Jungen:
Ablehnung der
männlichen Genitalien
Wunsch nach
Verschwinden der männlichen Genitalien
Äußerungen, dass es
schöner wäre, keinen Penis zu haben
Abneigung gegen
Jungenspiele und –Spielsachen, insbesondere gegen körperliche Wettkampfspiele
Bei Mädchen:
Abneigung, im Sitzen zu urinieren
Versicherung, dass sie einen Penis hat oder einer bei ihr wachsen wird
Wunsch, dass Brustbildung und Menstruation nicht eintreten
Ausgeprägte Ablehnung typisch weiblicher Kleidung, Schmuck und Kosmetik
Jugendliche sind vordringlich damit befasst, sich ihrer
primären und sekundären Geschlechtsmerkmale zu entledigen und Merkmale des
anderen Geschlechts zu entwickeln (z.B. Wunsch nach hormoneller und
chirurgischer Behandlung, um möglichst weitgehend das Aussehen einer Person des
anderen Geschlechts zu erreichen), oder sie glauben, im Körper des falschen
Geschlechts geboren worden zu sein. Jugendliche zeigen oft Gefühle von
Verzweiflung und Hass gegen den eigenen Körper und leiden an Depressionen, die
bis hin zu Suizidversuchen führen können.
Sind die diagnostischen Hauptkriterien erfüllt, so ist nach
DSM-IV bei Kindern die Diagnose „Geschlechtsidentitätsstörung im Kindesalter“
(302.6) bzw. „Geschlechtsidentitätsstörung in der Adoleszenz oder im
Erwachsenenalter“ (302.85) zu stellen. Nach ICD-10 ist bis zur Pubertät die
Diagnose „Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters“ (F64.2) zu
stellen. Nach der Pubertät ist nach ICD-10 die Diagnose „Transsexualismus“
(F64.0) zu stellen, wenn der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechts zu
leben, und der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung mindestens zwei Jahre
durchgehend bestehen. Sind die diagnostischen Kriterien nur teilweise erfüllt
oder liegen gleichzeitig intersexuelle Fehlbildungen vor, so können die
Diagnosen „sonstige Störung der Geschlechtsidentität“ (F64.8) oder „nicht näher
bezeichnete Störung der Geschlechtsidentität“ (F64.9) gestellt werden. Nach
DSM-IV ist die Diagnose „nicht näher bezeichnete Geschlechtsidentitätsstörung“
zu stellen.
2. Differentialdiagnose:
Auszuschließen sind
differentialdiagnostisch folgende Störungen:
Schizophrene oder wahnhafte Störungen. In seltenen Fällen
liegt bei einer schizophrenen oder Schizophrenie formen Störung die wahnhafte
Überzeugung vor, dem anderen Geschlecht anzugehören oder sich in eine Person
des anderen Geschlechts zu verwandeln. Das klassische Beispiel ist der von S.
Freud (1911) dargestellte „Fall Schreber“. In der Regel treten solche
Vorstellungen zusammen mit anderen psychotischen Symptomen auf und sind darum
unschwer zu diagnostizieren. Sie werden regelhaft als fremd oder bedrohlich
erlebt. Das klinische Bild ist meist wirr und uneinheitlich, die Identität
solcher Patienten ist, anders als bei Störungen der Geschlechtsidentität, nicht
eingleisig sondern vielfältig gestört. Autokastrationen und derartige Versuche
kommen eher bei psychotischen als bei geschlechtsidentitätsgestörten Patienten
vor (Sigusch et al., 1979). Im Kindes- und Jugendalter sind solche Störungen
naturgemäß noch seltener anzutreffen als im Erwachsenenalter. In der
Sprechstunde für Geschlechtsidentitätsstörungen der Frankfurter Klinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie sind sie noch nie beobachtet worden.
Intersexuelle Störungen wie Hermaphroditismus versus,
Pseudohermaphroditismus, Anomalien der Gonosomen, adrenogenitale Störungen oder
Androgeninsensitivitätssyndrom sind ebenfalls seltene Erkrankungen, wobei es
sich hier grundsätzlich nicht um Ausschlussdiagnosen handelt. Auch Patienten
mit intersexuellen Störungen können und sollten bei Vorliegen einer eindeutigen
Störung der Geschlechtsidentität entsprechend behandelt werden.
Bedeutsamer sind sexuelle Reifungskrisen und insbesondere
eine ichdystone Sexualorientierung. Diese stellen die häufigste
Ausschlussdiagnose dar. Zahlenmäßig überwiegen Patienten, die ihre homosexuelle
Orientierung ablehnen bzw. diese nur akzeptieren können, wenn sie „ganz“ dem
anderen Geschlecht angehören.
3. Assoziierte Psychopathologie
Zucker und Bradley (1995) verglichen Kinder mit
Geschlechtsidentitätsstörungen mit gesunden Kindern und Kindern, die aufgrund
anderer Problemen in der psychiatrischen Universitätsklinik Toronto vorgestellt wurden. Sowohl bei Jungen als
auch bei Mädchen fand sich im Vergleich zur klinischen Kontrollgruppe ein
vergleichbares Maß an allgemeiner Psychopathologie, wobei internalisierende
Auffälligkeiten bei geschlechtsidentitätsgestörten Jungen überrepräsentiert
waren. Multiple Faktoren wurden zur Erklärung herangezogen, insbesondere
soziale Isolierung und die Außenseiterposition, in der sich diese Kinder
befinden, und gestörte familiäre Beziehungen. Eine besondere Rolle spielen
hierbei Trennungsängste, die erstmals in der New Yorker Forschungsgruppe von S.
Coates bei geschlechtsidentitätsgestörten Jungen eingehender untersucht wurden
(Coates und Person, 1985). 15 der damals untersuchten 25 Jungen mit einer
Geschlechtsidentitätsstörung zeigten deutliche Trennungsängste.
Auch die in der Frankfurter Arbeitsgruppe bislang 57
untersuchten Kinder und Jugendlichen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung
zeigten erhebliche Verhaltensauffälligkeiten. Typische Probleme waren soziale
Isolierung, Außenseiterstellung, häufiges Verspottet- oder Gehänselt werden,
persistierendes Einnässen oder Einkoten, Trennungsängste bei übermäßig enger
Bindung an die Mutter, bei Jugendlichen schwere depressive Verstimmungen bis
hin zu Suizidversuchen und schwere Bindungsstörungen im Sinne einer
Borderline–Psychopathologie. Bei den von Coates in New York untersuchten
geschlechtsidentitätsgestörten Jungen fanden sich deutlich gestörte
Objektbeziehungen, in denen die Jungen die Mütter als überwältigend, intrusiv
und destruktiv erlebten (Coates und Tuber, 1988; Tuber und Coates, 1985, 1989).
Auch die von Bates et all. (1979) und von Bradley (1990) untersuchten
geschlechtsidentitätsgestörten Kinder und Jugendlichen waren in hohem Maße
psychopathologisch auffällig.
4. Diagnostik
Teil einer
umfassenden Diagnostik ist eine eingehende gezielte Exploration der Eltern und
der Kinder:
Bei Kindern sollen
Eltern gezielt befragt werden nach:
Besonderem Interesse an Kleidung, Schmuck, Kosmetik des
anderen Geschlechts
Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts, im besonderem
Maße bevorzugten bzw. abgelehnten Spiele und Spielzeuge
Interesse an Sport und körperlichen Kampfspielen
Interesse an Tanz und Ballett
Körpererleben
Freunden und Spielkameraden
Bei Jugendlichen
sollten von den Eltern exploriert werden:
Körpererleben
Wunsch des/der Jugendlichen, dem anderen Geschlecht
anzugehören
Führen eines Vornamen des anderen Geschlechts
Öffentliches Auftreten als Person des anderen Geschlechts
Wunsch nach medizinischer und chirurgischer
geschlechtsumwandelnder Behandlung
Freunde
Die Kinder und Jugendlichen sollten entsprechend der
Elternbefragung ebenfalls exploriert werden. Wünsche und Phantasiewelt des
Kindes/Jugendlichen sollten exploriert werden mit Verfahren wie „Drei magische
Wünsche“, „Magische Verwandlung“, Fragen nach Träumen, Idealen, Vorbildern,
Lieblingsschauspielern usw. Eine einseitige Exploration geschlechtstypischer bzw.
-atypischer Verhaltensweisen sollte allerdings vermieden werden, es sollte
vielmehr das gesamte psychosoziale Umfeld Beachtung finden. Schwerpunkt der
ersten Untersuchungsgespräche sollte auf therapierelevanten Themen liegen wie
Leidensdruck, Veränderungswunsch, Beziehungsfähigkeit, Einsichtsfähigkeit,
Fähigkeit zu verbaler psychotherapeutischer Arbeit. Ein weiterer Schwerpunkt
der ersten Gespräche mit dem Kind/Jugendlichen sind Körpererleben, Beziehungen
zu anderen Kindern bzw. Jugendlichen und die soziale Akzeptanz. Das Kind/der
Jugendliche sollte im Hinblick auf geschlechtstypische bzw. -atypische Kleidung, Schmuck und Kosmetik,
Gestik und Mimik beobachtet werden.
Hinsichtlich der störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte
sollten Eltern und Patienten vor allem nach dem ersten Auftreten
geschlechtsatypischen Verhaltens und gegengeschlechtlicher Wünsche befragt
werden. Treten diese erst später auf und liegt eine längere Phase
geschlechtstypischen Verhaltens und geschlechtstypischer Wünsche vor, liegt
meist keine Geschlechtsidentitätsstörung im engeren Sinne vor. Von Bedeutung
ist auch die Exploration von Ereignissen, die das Kind als emotional traumatisierend
erlebt haben kann, z.B. Geburt eines Geschwisters, Tod eines nahen Angehörigen
oder einer der Eltern nahestehenden Person, sexuelle Missbrauchserlebnisse.
Auch die Wünsche und Erwartungen der Eltern hinsichtlich eines Kindes sollten
exploriert werden, ebenso die Reaktion der Eltern auf das Auftreten von
geschlechtsatypischen Verhaltensweisen und Interessen, ob gegengeschlechtliche
Verhaltensweisen und Interessen eher gefördert oder eher eingeschränkt werden.
Nicht selten wird bei den Eltern gefunden, dass diese geschlechtsatypisches
Verhalten fördern, große Unsicherheit zeigen, bei geschlechtsatypischem
Verhalten diesem Grenzen zu setzen.
Als Screening-Verfahren eignen sich die
Child-Behavior-Checklist nach Achenbach bzw. bei Jugendlichen auch der
Youth-Self-Report. Ein spezifischeres Screening-Instrument ist die
Menschzeichnung. Kinder und Jugendliche mit Störungen der Geschlechtsidentität
zeichnen signifikant häufiger spontan als erste eine Person des anderen
Geschlechts (vgl. Zucker und Bradley, 1995).
5. Prävalenz
Über das Auftreten von Geschlechtsidentitätsstörungen im
Kindesalter haben schon die frühen Sexualforscher berichtet. So sprach
beispielsweise Hirschfeld (1904) vor 100 Jahren über das „urnische Kind“. Wie
auch in der Homosexualitätsforschung jüngeren Datums (Saghir und Robins, 1973;
Whitam, 1977, 1980; Harry, 1982) handelt es sich hier um retrospektive Aussagen
Erwachsener homosexueller Männer über ihr Verhalten und ihre Interessen in der
Kindheit.
In der klinischen Praxis werden
Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindesalter sehr selten, im Jugendalter etwas
häufiger beobachtet. In der Frankfurter Universitätsklinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie haben wir im Verlauf von 16 Jahren (1987 – 2003) 57 Kinder
und Jugendliche mit geschlechtsatypischem
Verhalten oder mit Störungen der Geschlechtsidentität gesehen. Bei der
Hälfte dieser Patienten lagen vorübergehende Phasen von geschlechtsatypischem
Verhalten und entsprechenden Wünschen, krisenhafte Pubertätsentwicklungen mit
passageren fetischistischen Interessen oder konflikthafte homosexuelle Entwicklungen
vor, nur in der Hälfte der Patienten konnte die formaler Diagnose
„Geschlechtsidentitätsstörung“ nach den Kriterien von DSM-IV oder ICD-10
gestellt werden. Bei einer Gesamtzahl von 5100 Patienten, die in den 16 Jahren
vorgestellt wurden, machen diese insgesamt 31 Patienten nur einen kleinen
Bruchteil aus, obwohl es sich in Frankfurt um die einzige Spezialsprechstunde
in Deutschland für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsidentitätsstörungen
handelt. Eine größere Anzahl dieser Patienten wurde nur in den wenigen Kliniken
gesehen wie in New York (Coates und Person, 1985), Toronto (Bradley et al.,
1978), Utrecht (Cohen-Kettenis, 1994) und London (DiCeglie, 1995), die
Forschungsstellen für Störungen der Geschlechtsidentität des Kindes- und
Jugendalters eingerichtet haben.
Dem steht die große Zahl erwachsener homosexueller Männer
und Frauen gegenüber, die geschlechtsatypisches Verhalten und entsprechende
Wünsche in der Kindheit angeben. 67 % der von Saghir und Robins (1973)
untersuchten homosexuellen Männer berichteten beispielsweise über
geschlechtsatypisches Verhalten und 35 % über geschlechtsatypische Wünsche. In
der Kontrollgruppe erwachsener heterosexueller Männer machten nur jeweils 3%
solche retrospektiven Angaben. Warum werden Kinder mit geschlechtsatypischem
Verhalten dann aber so selten in der klinischen Praxis angetroffen? Auch die
heute erwachsenen transsexuellen Männer und Frauen, die typischerweise
berichten, dass sie sich schon in der Kindheit als dem anderen Geschlecht
zugehörig empfanden, und deren Zahl in Deutschland zwischen 3000 bis 6000
(Sigusch, 2001) geschätzt wird, hätten doch in größerer Zahl schon in der
Kindheit klinisch auffällig sein müssen.
Epidemiologische Untersuchungen geben meist nur die
Häufigkeit bestimmter geschlechtsatypischer Verhaltensweisen oder Wünsche an,
die mit Elternfragebogen erfasst wurden. Die Childhood Behavior Checklist von
Achenbach und Edelbrock (1981) enthält zwei Fragen zu geschlechtsatypischem
Verhalten und Wünschen: „verhält sich wie zum anderen Geschlecht gehörig“ und
„wünscht, dem anderen Geschlecht anzugehören“. In der befragten klinischen
Gruppe von 1300 4– bis 16-jährigen Kinder- und Jugendlichen machten Eltern der
8– bis 9-jährigen Jungen zu 9,5 % (vs. 2,7 % in der Kontrollgruppe) und der
gleichaltrigen Mädchen zu 14,5 % (vs. 11 %) die Angabe, dass sich ihr Kind wie
dem anderen Geschlecht zugehörig verhalte. In derselben Altersgruppe machten
bei den Jungen 5,1 % (vs. 0 %) und bei den Mädchen 8,3 % (vs. 2,7 %) der Eltern
die Angaben, dass ihr Kind wünschte, dem anderen Geschlecht anzugehören
(Überblick bei Zucker und Bradley, 1995).
Um die Frage zu beantworten, warum Kinder mit
Geschlechtsidentitätsstörungen nicht häufiger klinisch auffällig werden, muss
vor allem die Reaktion der Eltern auf geschlechtsatypisches Verhalten und
Wünsche ihres Kindes untersucht werden. Es ist auffällig, dass viele Eltern
solche Wünsche und Verhaltensweisen nicht als Problem ansehen. In praktisch allen
größeren Studien wird als ursächlich bedeutsam bei der Entwicklung von
Geschlechtsidentitätsstörungen angesehen, dass die Eltern mehr oder weniger
offen gegengeschlechtliche Verhaltensweisen ihrer Kinder tolerieren oder sogar
fördern (Stoller, 1975; Green, 1987; Coates und Wolfe, 1995). Die Tatsache,
dass in Nordamerika Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsidentitätsstörungen
häufiger klinisch auffällig werden, mag darin begründet sein, dass dort die
Toleranz für geschlechtsatypisches Verhalten geringer und eine psychiatrische
oder psychotherapeutische Behandlung eher möglich ist als in Europa. Scham und
Schuldgefühle sind zudem wesentliche Kräfte, die Eltern davon abhalten, einen
Arzt, eine Klinik oder eine Beratungsstelle aufzusuchen.
6. Ätiologie
6.1 Biologische Forschung
Die biologische Ursachenforschung an Kindern und
Jugendlichen mit Geschlechtsidentitätsstörungen ist sehr klein. Aus diesem
Grunde werden Forschungsergebnisse aus verwandten Bereichen herangezogen,
insbesondere die erwachsener Transsexueller, bei Homosexualität und bestimmten
intersexuellen Störungen. Die beiden erstgenannten Störungsbilder entwickeln
sich oftmals aus Geschlechtsidentitätsstörungen des Kindes- und Jugendalters,
insofern besteht ein enger Zusammenhang. Wenn auch dieser Zusammenhang nicht perfekt
ist, so ist er doch deutlich genug, um zumindest Hinweise auf mögliche
biologische Ursachen zu erlauben.
6.1.1 Genetische Forschung
Bei Kindern und Jugendlichen hatte sich bis 1995 eine
familiäre Häufung von Geschlechtsidentitätsstörungen nicht zeigen lassen, auch
die wenigen vorliegenden Fallberichte über Zwillingspaare zeigten, dass alle
hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität diskordant sind (Zucker und Bradley,
1995). Im Jahr 2000 berichtete Green über zehn Geschwister- oder
Eltern-Kind-Paare, bei denen eine Konkordanz von
Geschlechtsidentitätsstörungen, Transsexualität oder Transvestitismus vorlag,
darunter befand sich ein monozygotes männliches Zwillingspaar, beide zeigten
eine Geschlechtsidentitätsstörung. Sadeghi und Fakhrai (2000) berichten über
zwei monozygote Zwillingsschwestern, die eine Geschlechtsumwandlung wünschten.
Bei unseren Frankfurter Patienten fand sich zwei Schwestern, die beide eine
Geschlechtsumwandlung wünschten. Es fand sich keine erhöhte Prävalenz von
Homosexualität bei erst- und zweitgradigen Verwandten von Kindern und
Jugendlichen mit Geschlechtsidentitätsstörungen zeigen lassen (Zuger, 1989).
Umfangreicher sind Familien- und Zwillingsstudien bei
Homosexualität. Ausgangspunkt war die Aufsehen erregende Studie von Kallmann
(1952), der über eine 100 %ige Konkordanz rate für Homosexualität bei
monozygoten Zwillingspaaren vs. 15,4 % bei dizygoten männlichen Zwillingspaaren
berichtete. Wenn auch diese extreme Differenz in späteren Studien nie bestätigt
werden konnte, so fand sich doch in neueren Studien durchgehend eine höhere Konkordanz
rate für monozygote Zwillinge im Vergleich zu dizygoten Zwillingen (20 – 60 %
vs. 10 – 20 %: Bailey und Pillard, 1991; Whitam et al., 1993; King und
McDonald, 1992).
Ein Hauptkritikpunkt an diesen Zwillingspunkten waren Bias,
die sich aus der Rekrutierungsmethode heraus ergaben, insbesondere der
Tatsache, dass die Probanden primär durch Anzeigen in homosexuellen
Zeitschriften und Journalen gewonnen wurden. Wissenschaftlich aussagekräftiger
sind sicherlich Studien an Zwillingspaaren, die über nationale
Zwillingsregister gewonnen wurden. Buhrich, Bailey und Martin (1991) führten
erstmals eine solche Studie an 161 männlichen Zwillingspaaren in Australien
durch. Es fand sich bei männlichen Zwillingspaaren eine signifikant höhere Konkordanz
rate für Homosexualität bei monozygoten Zwillingspaaren im Vergleich zu
dizygoten Zwillingspaaren. Bei weiblichen Zwillingspaaren konnte allerdings
dieses Ergebnis nicht gefunden werden (Bailey et al., 1993).
Auf der Ebene chromosomaler Untersuchungen konnten in zwei
Studien an Jungen mit Geschlechtsidentitätsstörungen keine Auffälligkeiten
gefunden werden (Green, 1976; Rekers et al., 1979). Wie auch bei Erwachsenen
transsexuellen Patienten fand sich bei allen Patienten ein normales
Chromosomenbild.
Hamer et al. (1993) untersuchten 114 Familien homosexueller
Männer. Sie fanden in diesen Familien ein gehäuftes Auftreten von
Homosexualität bei männlichen Verwandten auf der mütterlichen Seite. Sie
führten daraufhin eine Typisierung des X-Chromosoms durch und fanden eine
spezifische Veränderung in der distalen Region des Markers Xq28. Auch dieses
Untersuchungsergebnis konnte nicht repliziert werden (Rice et al., 1999).
6.1.2 Endokrinologische Forschung
Eine Übersicht über 29 Studien zum basalen
Testosteronspiegel bei homosexuellen Männern und Mann-zu-Frau-Transsexuellen
legte Gladue (1990) vor. Es fanden sich
hier keine hormonellen Auffälligkeiten. Ohne Unterschiede zwischen homosexuellen
und heterosexuellen Männern blieben auch die Untersuchungen der basalen
Östrogen-, Androstrendion- und Gonadotropinspiegel (Goh et al., 1984; Goodman
et al., 1985).
Dörner et al.(1975) berichten über einen positiven
Östrogen-Feedback nach einmaliger Injektion von Östrogen bei homosexuellen
Männern, den sie auch bei biologisch männlichen Transsexuellen fanden, nicht
aber bei biologisch weiblichen Transsexuellen (Dörner et al., 1976). Nach einem
anfänglichen Abfall des LH-Spiegels, der auch bei den 25 heterosexuellen
Männern in der Vergleichsgruppe beobachtbar war, kam es zu einem deutlichen
Anstieg des LH über den basalen Ausgangswert. Dieser Anstieg fehlte bei den
Vergleichsprobanden, fand sich aber bei heterosexuellen Frauen. Dörner
postulierte, dass das positive Östrogen-Feedback normalerweise nur bei Frauen
auslösbar ist und Ausdruck eines zyklisch wirkenden, also weiblich
strukturierten hypothalamischen Sexualzentrums sei. Gooren (1984. 1986) fand in
seinen Untersuchungen die LH-Reaktion als von der jeweiligen gonadalen und der
daraus resultierenden hormonalen Gesamtsituation abhängig und schloss daraus
auf deren Unabhängigkeit vom Geschlecht von der sexuellen Orientierung, der
Geschlechtsidentität bzw. von einer pränatalen Prägung hypothalamischer
Strukturen. Auch konnte Gooren (1986) nachweisen, dass der positive
Östrogen-Feedback nur bei den transsexuellen Männern nachweisbar war, die zuvor
Östrogene erhalten hatten.
Bei biologischen Frauen ergab eine Metaanalyse von
Meyer-Bahlburg (1979, 1984), dass sich
in einer der zwei bis 1984 vorliegenden Studien zu den basalen
Testosteronspiegeln bei homosexuellen Frauen und in drei der sieben ebensolchen
Untersuchungen bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen eine Erhöhung des
Testosteronspiegels bei etwa einem Drittel der Probanden fand. Auch von anderen
Autoren würde über erhöhte Testosteronwerte bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen
berichtet (Sipova und Starka, 1977; Futterweit et al., 1986). Dem gegenüber
fand die Arbeitsgruppe um Gooren (1990) wiederholt normale Testosteronwerte bei
Frau-zu-Mann Transsexuellen (Überblick bei Bosinski, 2000).
6.1.3 Pränatale Hormone
Der Einfluss pränataler Hormone auf die
Gehirndifferenzierung und die psychosexuelle Entwicklung bei Menschen steht
seit längerer Zeit im Zentrum der Forschung. Ausgangspunkt waren die
Untersuchungen von Phoenix et al. (1959) an Meerschweinchen. Trächtigen
Meerschweinchen wurde Testosteron verabreicht. Bei weiblichen Abkömmlingen
führte dies zu einer Maskulinisierung der externen Genitalien, so dass diese
nahezu ununterscheidbar von männlichen Abkömmlingen waren. Nach Geburt wurden
die Gonaden der Tiere entfernt. Als Kontrollgruppen dienten unbehandelte Tiere,
denen ebenfalls die Gonaden entfernt worden waren. Den erwachsenen
Meerschweinchen wurden dann verschiedene Dosen von Östradiol injiziert, um so
weibliches Sexualverhalten mit typischer Lendenlordose auszulösen. Im Vergleich
zu den weiblichen Kontrolltieren zeigten die pseudohermaphroditischen
weiblichen Tiere ein eher männliches Sexualverhalten, d.h. Bespringen
weiblicher Tiere. Dieses Verhalten blieb mit zunehmendem Alter der Tiere
konstant erhalten. Phoenix schloss daraus, dass die Gabe von pränatalen Hormone
zu permanenten Veränderungen zentralnervöser Strukturen führt, die das
Sexualverhalten steuern.
Beim Menschen liegt ein „Experiment der Natur“ bei frühen
endokrinen Störungen vor, die schon pränatal zu Veränderungen führen.
Eingehender untersucht wurde das adrenogenitale Syndrom (kongenitale adrenale
Hyperplasie, CAH). Mädchen mit frühbehandeltem CAH zeigen in der Kindheit
signifikant häufiger als gesunde gleichaltrige Mädchen sogenanntes Tomboy-Verhalten,
d.h. Bevorzugung jungentypischer Rauf- und Tobespiele, sie bevorzugen als
Spielkameraden Jungen, zeigen gleichzeitig weniger Interesse an typisch
mädchenhaften Spielen. (vgl. insbes. Dittmann et al., 1990 a, b). Bei
erwachsenen Frauen mit bereits in der Kindheit diagnostiziertem und behandeltem
CAH zeigte sich eine deutlich erhöhte Rate bi- und homosexueller Phantasien und
Verhaltensweisen (Überblick bei Zucker und Bradley, 1995).
Ähnlich fand sich auch bei Mädchen, deren Mütter in der
Schwangerschaft mit Diäthylstilböstrol (DES) behandelt wurden (prä- oder
perinatale Gabe von DES führt zu einer Maskulinisierung des Verhaltens bei
Tieren (vgl. z.B. Meyer-Bahlburg und Ehrhardt, 1986)), ein eher maskuliner Typ
bestimmter kognitiver Leistungen im Kindesalter. Bei erwachsenen Frauen wurde
eine höhere Rate bi- und homosexueller Phantasien und Aktivitäten beschrieben
(Meyer-Bahlburg et al., 1995).
Ein Mangel an pränatalen Androgenen scheint hingegen zu
einer Feminisierung bzw. Demaskulinisierung bestimmter Verhaltensmuster zu
führen: Untersuchungen bei Patienten mit komplettem Androgen-Resistenzsyndrom
(AIS) zeigten, dass deren sexuelle Orientierung wie auch deren
Geschlechtsidentität der heterosexueller Frauen entspricht (Money, 1991).
Untersuchungen an Kindern und Jugendlichen mit Störung der
Geschlechtsidentität liegen nicht vor.
6.1.4 Hirnorganische Forschungen
Hirnorganische Forschungen konzentrierten sich auf die Suche
nach einem Analogon für die im Tierversuch gefundenen hypothalamischen Geschlechtsunterschiede.
Untersucht wurden Mann-zu-Frau-Transsexuelle oder homosexuelle Männer. Diese
Untersuchungen konzentrierten sich auf den Bereich des Nucleus
suprachiasmaticus (Swaab und Hofman, 1990, Swaab et al., 1987, 1993), des Bed
nucleus of the Stria terminalis, central subdivision (BSTc) (Zhou et al., 1995)
bzw. der posteromedialen Region dieses Kerngebietes (Allen und Gorski, 1990)
und des dritten interstitiellen Nucleus des vorderen Hypothalamus (Le Vay,
1991). Von unabhängigen Untersuchern konnten die hier beschriebenen
Veränderungen nicht bestätigt werden (Überblick bei Bosinski, 2000). Von der
Arbeitsgruppe Zhou et al. wurden erneut im Jahre 2000 beschrieben, dass die
Zahl der Neuronen im BSTc bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen ähnlich hoch war wie
bei biologischen Frauen (Kruijver, 2000). In der Mehrzahl wurden diese
Untersuchungen aber an einer sehr kleinen Zahl von Patienten durchgeführt, die
zum Teil andere erhebliche medizinische Probleme hatten wie AIDS-Erkrankungen.
Eine weitere Forschungsrichtung ergab sich aus den Studien
von John Money und Mitarbeitern an der Johns-Hopkins-Universität Baltimore an
Kindern mit intersexuellen Fehlbildungen. Ein wesentliches Ergebnis dieser
Arbeiten schien zu sein, dass zwischen dem 12. und dem 18. Lebensmonat eine
„kritische“ Phase der Ausbildung der Geschlechtsidentität besteht. Eine
Geschlechtszuordnung nach dieser Phase sollte zu erheblichen psychischen
Problemen führen, eine Neuzuordnung vor dem 18. Lebensmonat hingegen keine
Probleme bereiten (Money und Ehrhardt, 1975).
1975 beschrieb Money den Fall eines sieben Monate alten
Jungen, dessen Penis bei der Vorhautbeschneidung infolge eines medizinische
Unfalls zerstört worden war. Der Familie wurde geraten, das Kind als Mädchen zu
erziehen, was nach Money problemlos gelang. Neun Jahre nach dem Unfall soll das
Kind (im Kontrast zu seinem gesunden Zwillingsbruder) ohne größere Probleme
eine weibliche Geschlechtsidentität entwickelt haben. Dieser Fall ist von
besonderer Bedeutung, weil er bis heute immer wieder als ein Beweis für die
Lehrmeinung gilt, dass die Geschlechtsidentität im ersten Lebensjahr problemlos
verändert oder neu bestimmt werden könnte. Nachuntersuchungen (Diamond, 1982)
zeigten jedoch, dass dieses Kind mit 13 Jahren wünschte, dem männlichen Geschlecht
anzugehören. Heute lebt der Patient, der eine chirurgische Penisrekonstruktion
durchführen hat lassen, als Mann (Colapinto, 2000).
Gearhart und Rock berichteten 1989 über vergleichbare
feminisierende Umwandlungsoperationen bei vier Jungen im Alter von sechs
Monaten bis drei Jahren, die nach traumatischem Penisverlust durchgeführt
wurden. In zwei Fällen lebten die Patienten mittlerweile als gut angepasste
sexuell aktive Frauen, in zwei Fällen fehlen Nachfolgeberichte. Ochoa
berichtete 1989 über insgesamt sieben Jungen mit traumatischem Penisverlust, in
fünf Fällen innerhalb des ersten Lebensjahres. Vier wurden erfolgreich als
Jungen aufgezogen, nur einer als Mädchen, hier wurde eine feminisierende
Umwandlungsoperation durchgeführt. Dieser Patient verlangte im Alter von 14
Jahren die Rückumwandlung zum Jungen, die dann auch vorgenommen wurde. Bradley
et al. berichteten 1998 über einen Jungen, bei dem es im Alter von zwei Monaten
zum traumatischen Penisverlust nach Zirkumzision gekommen war, ab dem Alter von
sieben Monaten wurde dieses Kind als Mädchen aufgezogen und entsprechend
behandelt. Dieser Patient entwickelte eine klare weibliche
Geschlechtsidentität.
6.2 Psychologische Forschung
Es sind vier
Forschungsrichtungen hervorzuheben:
(1) Stoller
(1968, 1975, 1985), obwohl selbst Psychoanalytiker, entwickelte ein
konfliktfreies Prägungsmodell. „Extreme Feminität“ wurde nach Stoller bei den
von ihm beschriebenen Jungen (die er nicht selbst untersuchte) durch
nichttraumatische Kräfte geprägt. Nur ein seltenes Zusammentreffen
verschiedener Faktoren habe eine solche Entwicklung möglich gemacht: Eine
bisexuelle Mutter, ein Vater, der körperlich oder emotional abwesend war, eine
besondere Schönheit des Kindes sowie eine exzessive („blissfull“) Symbiose
zwischen Mutter und Kind. Die Identifizierung dieser Jungen mit ihren Müttern
wird als Prägungsprozess verstanden. Greenson (1966), der einen dieser von
Stoller beschriebenen Jungen behandelte, sah die Desidentifizierung des Jungen
von der Mutter als den entscheidenden Schritt in der Therapie an.
Neuere Forschungsergebnisse stehen in deutlichem
Wiederspruch zu dieser konfliktfreien Prägungshypothese. Bei Kindern mit
Geschlechtsidentitätsstörungen finden sich nahezu immer traumatische
Früherfahrungen und in hohem Maße psychopathologische Auffälligkeiten.
(2) Green
(1987) vertritt eine reine Lerntheorie. Er schreibt den Müttern eine aktive
Rolle bei der Ausbildung femininer Interessen ihrer Söhne zu. Nach ihm wünschen
sich die Mütter dieser Söhne intensiv eine Tochter und verstärken selektiv alle
femininen Verhaltensweisen und Interessen ihrer Kinder. Greens Daten sind
jedoch bereits in sich widersprüchlich. So fand er bei den von ihm untersuchten
Kindern, dass deren Mütter weniger Zeit mit ihren Kindern verbrachten als die
Mütter „maskuliner“ Jungen, ein Befund, der auch Stollers „blissfull
symbiosis“- Theorie bezweifeln lässt.
(3) Bei vielen
eingehend untersuchten Kindern mit Geschlechtsidentitätsstörungen sind schwere
frühere Traumata gefunden worden. Bloch (1975/1976) beschrieb vier- bis sechsjährige
Jungen und Mädchen, die unablässig Phantasien einer Geschlechtsumwandlungen
ausagierten. In allen vier Fällen waren die Kinder Zeugen massiver Gewalt, die
von einem Elternteil oder einem älteren Bruder ausgegangen war. Bei drei
Kindern setzten die Symptome der Geschlechtsidentitätsstörung mit der Geburt
eines Geschwisters ein. Bloch kommt zu dem Schluss, dass die Übernahme einer
neuen (Geschlechts-)Identität bei diesen Kinder Ängste vor Vernichtung und
Tötung abwehrte. In größeren Studien konnten auch Meyer und Dupkin (1985) sowie
Coates (1990) die wichtige Rolle von Traumata bei der Entstehungen von
Geschlechtsidentitätsstörungen bestätigen. Massive Trennungs- und
Vernichtungsängste werden bei Jungen durch eine Identifizierung mit der Mutter
abgewehrt.
(4) Nach
ausführlicheren Berichten über die psychoanalytische bzw. psychotherapeutische
Behandlung geschlechtsidentitätsgestörter Jungen (Sperling, 1964; Francis,
1965; Loeb und Shane, 1982; Pruett und Dahl, 1982; Herman, 1983; Bleiberg et
al., 1986; Silverman, 1990; Haber, 1991; Loeb, 1992; McDevitt, 1995; Meyenburg,
1999, 2001) steht im Gegensatz zu den Hypothesen von Bloch und Coates
ätiopathogenetisch nicht ein reales Trauma im Vordergrund. Als zentrales
Problem erscheint bei vielen dieser Jungen ein als unerträglich empfundenes
Gefühl des Verlustes der Liebe und der Zuwendung der Mutter, daraus entsteht
ein Drang, die Liebe der Mutter wieder zu gewinnen, indem sie (symbolisch) mit
ihr verschmelzen. Auf dem Boden dieser frühen Störung entsteht als neurotische
Abwehrbildung der Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören. In allen
zitierten Arbeiten führte die Psychotherapie zu einem Verschwinden des Wunsches
nach Geschlechtswechsel.
Nur zwei der von Bloch (1975/1976) beschriebenen Patienten
sind Mädchen. Bislang wurden sonst überwiegend Mädchen untersucht. Lediglich
Bradley (1985, 1990) hat eingehender die Entstehung von
Geschlechtsidentitätsstörungen bei Mädchen studiert. Sie untersuchte neun 5-
bis 24-jährige Mädchen und Frauen, die einen Geschlechtswechsel wünschten. Die
Entstehung des Wunsches führte sie darauf zurück, dass diese Mädchen sich
selbst und ihre Mütter vor gewalttätigen Vätern schützen und dazu männliche
Stärke gewinnen mussten.
Eine in Frankfurt behandelte Patientin, ein 14jähriges Mädchen
mit einer Geschlechtsidentitätsstörung, war von ihrem siebten Lebensjahr an von
ihrem Vater mehrere Jahre lang sexuell missbraucht worden, nachdem die Mutter
die Familie verlassen hatte. Ihre größte Angst war, dass der Vater auch die
jüngere Schwester sexuell missbrauchen würde. Sie wollte unbedingt ein Junge
sein und erwägt heute, im Erwachsenenalter, geschlechtsumwandelnde Operationen.
Bei Mädchen mit Geschlechtsidentitätsstörungen spielen frühe
(reale) Traumata offenbar eine erhebliche Rolle bei der Ausbildung dieser
Störung. Stoller (1972) untersuchte zehn biologisch weibliche Transsexuelle,
die bereits als Kinder die typischen Symptome einer
Geschlechtsidentitätsstörung gezeigt hatten. Er fand bei allen seinen
Patientinnen eine tiefgreifende Störung der Beziehung zu ihren Müttern und
stellte die Hypothese auf, dass das kleine Mädchen die Störung der
Mutter-Kind-Beziehung durch eine männliche Identifizierung zu beheben versucht.
Im Einklang mit dieser Hypothese steht auch der detaillierte Bericht Gilmores
(1995) über die siebenjährige Behandlung eines geschlechtsidentitätsgestörten
Mädchens.
7. Katamnestische Untersuchungen
Die umfangreichste Nachuntersuchung
geschlechtsidentitätsgestörter Jungen führte Green (1987) durch. Er untersuchte
„feminine“ Jungen erstmals im Alter von vier bis zwölf Jahren und führte im
Mittel etwa acht Jahre später eine letzte Nachuntersuchung durch. Von den 44
Nachuntersuchten waren 32 (73%) homo- oder bisexuell, ein junger Mann war
transsexuell, 12 Nachuntersuchte waren heterosexuell. In der Kontrollgruppe war
nur ein Junge bisexuell geworden.
Neben dieser liegen sechs weitere Berichte über etwas
größere Zahlen nachuntersuchter Kinder vor (Bakwin, 1968; Lebovitz, 1972;
Zuger, 1978, 1984; Money und Russo, 1979; Davenport, 1986; Kosky, 1987). Fasst
man die Ergebnisse dieser Berichte zusammen (Überblick bei Zucker und Green,
1992) und schließt die erstmals in der Adoleszenz untersuchten Patienten aus,
so verbleiben 55 Jungen, die im Alter von 13-36 Jahren nachuntersucht worden
sind. Fünf wurden als transsexuell, 71 als homosexuell, einer als heterosexueller
Transvestit und 14 als heterosexuell eingestuft; bei 14 Jungen war eine
Einschätzung nicht möglich. 66% dieser Jungen waren demnach transsexuell,
homosexuell oder transvestitisch, ein Prozentsatz, der mit den Ergebnissen der
Green-Studie im Einklang steht. Auffällig ist jedoch die größere Zahl
transsexueller Entwicklungen, die dadurch eine Erklärung finden könnte, dass
Green „feminine“ Jungen untersuchte, die nicht alle die diagnostischen
Kriterien einer Geschlechtsidentitätsstörung erfüllten, während von den anderen
Untersuchern offenbar schwerer gestörte Jungen (nach-)untersucht worden sind.
7. Therapie
Die Behandlung von Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes-
und Jugendalter ist in der Regel ambulant durchzuführen, eine stationäre oder
teilstationäre Therapie ist nur bei schwerwiegender psychiatrischer
Komorbidität indiziert, z.B. Suizidversuchen, Psychosen oder schweren
depressiven Erkrankungen. Die generell indizierte Behandlung ist die
individuelle tiefenpsychologische oder kognitiv orientierte Psychotherapie. Es
liegt hier eine große Zahl von Fallberichten vor (Überblicke bei Zucker und
Bradley, 1995; Meyenburg, 1994, 1999). Auch die Leitlinien der Deutschen
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2000) und
die Leitlinien des Royal College of Psychiatrists (1998) empfehlen ein solches
Vorgehen.
Es stellt sich die Frage, ob Kinder oder Jugendliche mit
Geschlechtsidentitätsstörungen wirklich krank oder gestört sind und somit einer
Behandlung bedürfen. Wie die wenigen prospektiven Untersuchungen zeigen,
verhalten sich die meisten Kinder mit Geschlechtsidentitätsstörungen als
Jugendliche oder junge Erwachsene homosexuell. Hiernach wäre eine
psychotherapeutische Behandlung mit dem Ziel der Beseitigung der
Geschlechtsidentitätsstörung als eine „Homosexualitätsprophylaxe“ anzusehen,
und es wären zu Recht ernsthafte ethische Bedenken zu erheben, eine Behandlung
mit diesem Ziel durchzuführen.
Ein zweites wesentliches Argument ist das seelische Befinden
der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Es wurde bereits darauf hingewiesen,
dass alle im Frankfurter Untersuchungsprogramm untersuchten Kinder und
Jugendlichen erhebliche Verhaltensauffälligkeiten und seelische Störungen
zeigten. Nach unserer Auffassung hat die Ausbildung einer
Geschlechtsidentitätsstörung seelisch die Funktion einer Abwehr und wird nur
von wenigen Kindern ohne bewusste Konflikte erlebt. Die Kinder wehren mit
dieser Symptomatik massive Trennungs- und Vernichtungsängste ab, die sich im
Gefolge einer Störung der Mutter-Kind-Beziehung entwickeln. Mit Hilfe des
Wunsches, dem anderen Geschlecht anzugehören, stellen die Kinder die durch
physische oder emotionale Abwesenheit der Mutter gestörte Beziehung zur Mutter
in ihrer Phantasie wieder her. Sie imitieren die Mutter und verwechseln „Mutter
sein“ mit „die Mutter haben“. Gerade die getriebenen, repetitiven, zwanghaften
und starren gegengeschlechtlichen Verhaltensweisen, die oft bei diesen Kindern
anzutreffen sind, sprechen dafür, dass es sich um eine Abwehrbildung handelt.
Wir beobachteten immer wieder, dass Kinder in den Therapiestunden dann
besonders intensiv, starr und repetetiv gegengeschlechtliche Verhaltensweisen
zeigten (bei Jungen z.B. Puppenspielen, Kämmen und Bürsten von Haaren), wenn
spezifische Themen oder Fragen Ängste hervorriefen.
Nur Stoller (1975) meint, dass die von ihm untersuchten
extrem femininen Jungen keinerlei seelische Auffälligkeiten außer ihrer
Geschlechtsidentitätsstörung zeigten. Für Stoller ist die Störung der „core
gender identity“ eine „variant“ und nicht Folge eines intrapsychischen
Konflikts, sie steht nicht im Dienste der Abwehr (Stoller, 1985: 1035). Stoller
(1968: 89ff) hebt andererseits aber hervor, dass er eine „Extremvariante“
femininer Jungen beschreibt, die er als den Vorläufer einer transsexuellen
Entwicklung ansieht.
Geschlechtsatypisches Verhalten ist nicht als ein
einheitliches klinisches Syndrom anzusehen. Feminine Verhaltensweisen oder Wünsche,
die erwachsene homosexuelle Männer aus ihrer Kindheit erinnern, haben sicher
nur bei einem kleinen Teil dieser Jungen ein Ausmaß erreicht, das die Diagnose
„Geschlechtsidentitätsstörung“ gerechtfertigt hätte. Wenn auch eine große Zahl
von Jungen mit geschlechtatypischem Verhalten eine homosexuelle Entwicklung
durchläuft, so ist doch das geschlechtsatypische Verhalten später sich
homosexuell verhaltender Männer nicht notwendigerweise mit dem klinischen Bild
einer Geschlechtsidentitätsstörung identisch. So fanden Saghir und Robins
(1973) in ihrer retrospektiven Analyse der Kindheit homosexueller Männer
deutlich seltener gegengeschlechtliche Wünsche als gegengeschlechtliche
Verhaltensweisen. Störungen der Geschlechtsidentität in der Kindheit sind aber
gerade dadurch charakterisiert, dass ein starker Wunsch besteht, dem anderen
Geschlecht anzugehören, und dass ein anhaltendes und starkes Unbehagen über das
angeborene Geschlecht vorliegt.
Allein die so genannte Begleitpathologie rechtfertigt eine
psychotherapeutische Intervention, denn es handelt sich um eine
Psychopathologie, die nicht nur „begleitend“ ist, sondern in der Regel in einem
direkten Zusammenhang mit der Identitätsstörung steht.
Die große Zahl von vorliegenden Psychotherapieberichten
zeigt, dass eine therapeutische Intervention umso erfolgreicher ist, je
frühzeitiger sie erfolgt, auch mit dem Ergebnis, dass es zu einem völligen
Verschwinden der Geschlechtsidentitätsstörung kommt. Selbst im Jugendalter
kommt es nach teilweise relativ kurzen Therapiedauern zu einem Verschwinden des
Wunsches, dem anderen Geschlecht anzugehören (Meyenburg, 1999).
Eine tiefenpsychologisch oder kognitiv orientierte
Psychotherapie folgt dabei den Regeln allgemeiner psychotherapeutischer
Behandlung, die Symptome der vorliegenden Geschlechtsidentitätsstörung sind wie
jedes andere Symptom im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung zu
verstehen.
Wenn auch Berichte vorliegen, die über ein Verschwinden der
Geschlechtsidentitätsstörung berichten, so muss doch hervorgehoben werden, dass
es insbesondere bei älteren jugendlichen Patienten nur eine kleine Zahl ist,
bei denen dieses Ergebnis zu beobachten ist. Ziel der psychotherapeutischen
Behandlung sollte so nicht primär die Beseitigung der
Geschlechtsidentitätsstörung sein, es ist das primäre Ziel der Psychotherapie
insbesondere bei Kindern, die sich aus dem „Anderssein“, der psychischen und
sozialen Außenseiterstellung entwickelnden Konflikte zu vermindern. Dieses kann
auch durch eine konkrete Beratung der Eltern erreicht werden, denn diese zeigen
häufig Unsicherheiten, ob und in welchem Umfang sie geschlechtsatypische
Kleidung und Aktivitäten erlauben sollen. Die Eltern sollten über den
wahrscheinlichen Verlauf von Störungen der Geschlechtsidentität im Kindesalter
aufgeklärt werden, nämlich dass es bei Jungen meist zu einer homosexuellen
Partnerwahl oder bisexuellem Verhalten kommt, Mädchen hingegen können auch nach
länger dauernder und intensiver Symptomatik meist im Laufe der pubertären
Entwicklung den Wunsch aufgeben, dem anderen Geschlecht anzugehören und über
ihr biologisches Geschlecht nicht länger Unbehagen empfinden.
Kindergartenerzieher und Lehrer sollten in Grundzügen über das Vorliegen der
Geschlechtsidentitätsstörung aufgeklärt werden, um zu vermeiden, dass auf das
Kind Druck ausgeübt wird, sich geschlechtstypisch zu verhalten. Bei jüngeren
Kindern sollten die Eltern beraten werden, das geschlechtsatypische Verhalten
auf den häuslichen Rahmen zu beschränken, es als „Spiel“ zu behandeln, um so zu
verhindern, dass das Kind in eine soziale Außenseiterposition kommt, denn
dieses geschieht schnell, vor allem wenn Jungen in der Öffentlichkeit als
Mädchen auftreten.
Die eigentliche individuelle psychotherapeutische Arbeit mit
dem Kind sollte langfristig sein, d.h. über einen Mindestzeitraum von zwei
Jahren ein- bis zweimal wöchentlich stattfinden. Bei jüngeren Kindern ist dies
nach den Regeln der Spieltherapie durchzuführen, gestaltendes und expressives
Spiel hat Vorrang vor Regelspielen. Bei älteren Kindern sollte der Versuch
verbaler psychotherapeutischer Behandlung gemacht werden.
Fallbeispiel:
Die Eltern des 6jährigen Andreas wünschten dringend eine
Therapie für ihren Sohn, weil er immer wieder den Wunsch äußerte, ein Mädchen
zu sein. Er habe auch schon gesagt, er sei ein Mädchen. Besonders entsetzt
waren die Eltern, als Andreas sagte: „Ich geh zum Arzt und lass‘ mir den Penis
abschneiden!“ Früher habe er die Mutter wiederholt gefragt: “Gell, Mama, man
kommt als Mann zu Welt und wird dann eine Frau?“
Zum ersten Mal hatte Andreas im Alter von 4 Jahren begonnen,
sich im Kindergarten als Mädchen zu kleiden. Anfangs hatte die Eltern damit
kein Problem. Sie hatten das Verkleiden für eine „Phase“ gehalten und es
zuhause sogar gefördert, indem sie eine „Verkleidungsecke“ einrichteten.
Andreas begann auch, sich im Haus zu schminken und Schmuckstücke der Mutter
anzulegen. Bei Spielen wollte er immer nur die Braut, die Fee oder die
Prinzessin sein. Besonders liebte er Barbie-Puppen. An Jungenspielsachen hatte
er kein Interesse. Er hatte nur Mädchen als Spielkameraden.
Nach einigen Monaten hatten die Eltern schließlich einen
Psychologen konsultiert, weil sie dachten, dass die „Phase“ zu lang dauere. Der
Psychologe hatte erklärt, dass Andreas den Wunsch der Eltern auslebe, als zweites
Kind ein Mädchen zu haben. Andreas hat einen zwei Jahre jüngeren Bruder, den
die Eltern als das genaue Gegenteil von Andreas beschrieben: er sei sehr
jungenhaft und spiele am liebsten mit Gewehren, Dinosauriern und Autos.
Die Mutter schilderte noch weitere Verhaltensprobleme:
Zwischen ihr und Andreas gebe es sehr oft Machtkämpfe. An manchen Tagen weigere
er sich intensiv, in den Kindergarten zu gehen, er lasse sich dann durch kein
Argument überzeugen. Diese Probleme hätten mit zwei Jahren begonnen, nach der
Geburt des Bruders. Andreas sei trotzig und stur geworden, er habe nicht hören
wollen. Die Eltern seien aber hart geblieben, hätten dadurch jedoch den Trotz
noch verstärkt. Durch seine aggressive Verweigerungshaltung reize er die Eltern
oft „bis zur Weißglut“. Am Ende des Machtkampfes stampfe er mit dem Fuß auf,
„er gibt klein bei und weint“.
Ich entschied mich bei Andreas, ihn zweimal wöchentlich
psychoanalytisch zu behandeln. Einmal im Monat fand ein Gespräch mit den Eltern
statt. Aus diesen Gesprächen entstand folgendes Bild: Die Eltern berichteten,
dass Andreas in seinen ersten zwei Lebensjahren der „Prinz“ im Hause gewesen
sei. Er habe immer engen körperlichen Kontakt zur Mutter gesucht. Nach der
Geburt seines zwei Jahre jüngeren Bruders habe sich alles schlagartig geändert,
weil der Bruder ein sehr schwieriges Kind gewesen sei, das alle Kräfte der
Mutter absorbiert habe. Damals habe Andreas begonnen, extrem intensiv und
häufig am Daumen zu lutschen, und sei sehr trotzig und aggressiv geworden. Mit
den Eltern wurde besprochen, dass sie die Zeit für das „Verkleidungsspiel“
einschränken und Andreas erklären sollten, dass das etwas sei, was man nur
zuhause mache.
Im ersten halben Jahr der Therapie kam Andreas mit großer,
freudiger Erwartung und strahlendem Gesicht in das Behandlungszimmer. Er
erklärte ohne Umschweife, dass er sich wünsche, ein Mädchen zu sein. Außerdem
wünschte er sich ein Puppenhaus und Barbie-Puppen. Das Spiel mit Puppen wurde
im ersten Therapiejahr auch das dominierende Thema. Im Spiel mit dem Puppenhaus
spielte Andreas die Kinder, dem Therapeuten wurde die Rolle der Eltern
zugewiesen. Wichtig war, dass die Kinder oft frech und böse waren und nicht auf
die Eltern hörten. Während Andreas sonst lieb und brav war, verhielt er sich
bei diesem Spiel immer wieder auffällig aggressiv. Auch beim späteren Spiel mit
Barbie-Puppen war Andreas sehr aggressiv. Die Barbie-Puppe des Therapeuten
wurde regelmäßig mit einem vergifteten Kamm getötet. Sie wurde besonders heftig
attackiert, als sie sich weigerte, ihr Baby (das wie alle Baby-Puppen
geschlechtslos war, aber zum Jungen erklärt wurde) in ein Mädchen um operieren
zu lassen. Die zwei Babys seiner Barbie-Puppe waren selbstverständlich Mädchen.
Die unsichere Geschlechtsidentität von Andreas zeigte sich auch daran, welche
Barbie-Puppe er bevorzugte: Sein größter Wunsch war die „Meerjungfrau“-Barbie,
eine Puppe mit geschlechtslosem Unterleib.
Mit zunehmendem Alter, mittlerweile im Schulalter, wollte
Andreas „richtige“ Spiele spielen. Sein Lieblingsspiel wurde ein Würfelspiel,
in dem männliche und weibliche Partygäste von einem Gespenst verfolgt und
gefangen werden, wenn sie sich nicht rechtzeitig versteckten. Ein viertel Jahr
lang spielte Andreas ausschließlich die weiblichen Gäste. Eine Veränderung trat
ein, als er sich nach einem vorausgegangenen Streit mit der Mutter erstmals
standhaft geweigert hatte, ins Therapiezimmer zu kommen. Die Mutter sollte
mitkommen und mitspielen, ich sollte machen, dass alles wieder gut war. Immer
wieder traten im weiteren Verlauf solche Stunden auf. Erstmals konnte ich mit
Andreas darüber sprechen, dass ich mir Sorgen um ihn machte, weil er so
unglücklich war, ein Junge zu sein. Allmählich verhielt sich Andreas nach
diesen Stunden weniger auffällig feminin: Im Würfelspiel wählte er erstmals
männliche Figuren, mit den Barbie-Puppen wollte er nicht mehr spielen.
Gleichzeitig begann er, am Ende jeder Stunde das Ergebnis unserer Spiele auf
einen kleinen Zettel zu schreiben, den er sich von meinem Schreibtisch nahm und
sorgfältig mit meinem Namensstempel versah. Zuletzt berichteten die Eltern,
dass sich Andreas kaum noch als Mädchen verkleidete und mehr mit dem Vater zu
spielen verlangte. Heute spielt er am liebsten Fußball.
Der von Andreas traumatisch erlebte Verlust der ungeteilten
Zuwendung der Mutter hatte zu einer aggressiven Verweigerung geführt.
Symbolisch musste er sich mit der Mutter wieder vereinen, indem er wie sie
wurde. Die Therapie hat seine Angst, von der Mutter verlassen zu werden,
deutlich vermindert. Die Mutter brachte ihn regelmäßig zur Behandlung. Gab es
Streit, musste die Mutter mit ins Therapiezimmer kommen, damit alles wieder gut
wurde. In der Therapie hatte Andreas eine enge Bindung an den Therapeuten
entwickelt, die er auch über die Stunden hinweg magisch aufrechtzuerhalten
suchte. Die Notwendigkeit, seine Ängste vor dem Verlassen werden durch
weibliche Identifikation zu vermindern, war nicht mehr so zwingend. Heute kann
er ohne innere Gefahr männlich-aggressiv auftreten und mit dem Vater
konkurrieren.
In publizierten Therapieberichten wird oft darauf
hingewiesen, dass solche Jungen Aggressivität und Männlichkeit gleichsetzen und
daher ein passives, unaggressives Verhalten zeigen. Die Tatsache, dass sich
Andreas seit seinem 3. Lebensjahr gegenüber der Mutter deutlich aggressiv
verhielt und dass aggressionsbesetzte Themen auch bald in der Therapie ein
vorherrschende Rolle spielten (sowohl in dem Sinn, das er hier aggressiv
auftreten konnte, als auch in dem Sinn, dass eine Gefahr, gleichbedeutend mit
Aggression, gebannt werden musste), ließ die Chancen einer
psychotherapeutischen Behandlung günstig erscheinen. Frühe präödipale
Trennungsängste waren bei Andreas weniger stark als ödipale Konflikte, die er
vermehrt auszutragen begann, wobei er mit dem Vater offen rivalisierte.
Wie erwähnt kann auch beim Jugendlichen eine
psychotherapeutische Arbeit zu dem Ergebnis führen, dass der Wunsch nach
Geschlechtsumwandlung aufgegeben wird.
Fallbeispiel:
Sandra war 17 Jahre alt, als sie mit dem Wunsch nach
Geschlechtsumwandlung erstmals zur Vorstellung kam. Sie trug männliche
Kleidung, verhielt sich betont männlich und verlangte, mit ihrem
selbstgewählten männlichen Vornamen angesprochen zu werden. Sie berichtete,
dass sie sich nie als Mädchen gefühlt habe, während der ganzen Kindheit habe
sie schon gefühlt, dass etwas mit ihr nicht stimme. Im Alter von 13 Jahren sah
sie ein Fernsehprogramm über Transsexualität und war seit dieser Zeit davon
überzeugt, dass dieses ihr Problem war. Sie berichtete, dass sie sich schon
immer sexuell für Mädchen interessiert hatte, eine Zeitlang habe sie auch
versucht, als Lesbierin zu leben, hatte bald aber gefühlt, dass dieses nicht
die Lösung ihres Problems war.
Ihr biologischer Vater war ein Alkoholiker, der die Mutter
körperlich misshandelte, die Eltern trennten sich schon in der frühen Kindheit.
Sandra wurde bereits als Baby zu ihren Großeltern nach Griechenland geschickt,
hier lebte sie bis zu ihrem 13. Lebensjahr.
Nach dem Tod der Großeltern holte die Mutter Sandra wieder
zu sich. Die Mutter und der neue Stiefvater lehnten Sandras Wünsche, als Junge
zu leben, ab, es kam häufig zu Streit und Auseinandersetzungen. Sandra
berichtete, dass die Mutter sogar gedroht habe, sie werde sie töten, falls sie
sich nicht änderte. In der Folge wandte sich Sandra an das Jugendamt, sie bekam
eine eigene Wohnung.
Wenige Tage vor ihrem ersten Termin beging Sandra ein
Suizidversuch durch Pulsaderschnitt. Sie berichtete, sie habe das Gefühl
gehabt, niemand könne ihr helfen. Es wurde eine analytische Psychotherapie für
die Mindestdauer eines Jahres mit wöchentlichen Sitzungen vereinbart. Zunächst
erschien sie regelmäßig zu ihren Sitzungen.
In der Therapie verbrachte sie viel Zeit damit, über ihre
vielen Freundinnen zu berichten, die sich in sie verliebt hätten. Sie betonte
immer wieder, wie wichtig die jeweilige Beziehung war, jedoch jede Woche hatte
sie eine neue Freundin. Beziehungen, die sie als „tief und vertrauensvoll“
beschrieb, zerfielen sehr rasch. Obwohl sie sexuell aktiv war, vermied sie es,
von ihren Freundinnen direkt genital stimuliert zu werden.
In der Beziehung zu ihren Eltern gab es ein deutliches
Element der Spaltung: Sie wertete ihre Mutter ab und überidealisierte ihren
Stiefvater, so wie sie auch in der Anfangsphase der Therapie ihren Therapeuten
überidealisierte. Sandra hatte das Gefühl, dass ihre Mutter sie als kleines
hilfloses Baby ausgesetzt hatte. Ihre Mutter verstehe ihre Probleme überhaupt nicht,
ihr Stiefvater jedoch verstehe sie ganz und gar. Mit ihm könne sie alles
besprechen. Sandra beschrieb wiederkehrende Alpträume, in denen sie versuchte,
eine Person davon abzuhalten, in ihren Körper einzudringen. Auf die Deutung
hin, dass diese Alpträume etwas Schreckliches repräsentierten, das ihr in der
Vergangenheit passiert war, erinnerte Sandra eine schreckliche und
erniedrigende Vergewaltigung durch eine Gruppe männlicher Jugendlicher in ihrem
griechischen Heimatdorf.
Nach drei Monaten Therapiedauer wurde Sandra sehr
ungeduldig, sie verlangte, dass sofort die geschlechtsumwandelnde Operation
durchgeführt werde. Vor allem wünschte sie, dass ihre Brüste entfernt würden.
Gleichzeitig wurde Sandra zunehmend depressiv. Sie sah nun, dass sie immer versucht
hatte, sich selbst als einen fröhlichen und lebenslustigen Menschen zu präsentieren, dem alles gelang, in ihrem
Inneren fühlte sie aber eine schreckliche Trauer. Sie berichtete, sie müsse
immer an all die schrecklichen Dinge denken, die ihr zugestoßen waren. In ihren
Therapiestunden verlangte sie aber weiter unablässig eine
Geschlechtsumwandlung.
Sie konnte nicht mehr alleine schlafen. Sie berichtete, dass
sie die Liebe ihrer Mutter vermisste, sie hoffte, mütterliche Liebe von älteren
Freundinnen zu bekommen, die sie suchte und fand und mit denen sie schlief. Sie
versuchte auch, in einem Kindergarten zu arbeiten, damit sie den Kindern dort
die Liebe geben könnte, die sie als Kind so sehr vermisst hatte. Plötzlich und
unerwartet kam es zu Therapieabbruch. Erst einige Monate später erfuhren wir,
dass sie zusammen mit einer älteren Freundin aufs Land gezogen war, hier lebten
die beiden zusammen als lesbisches Paar. In den jetzt zehn darauf folgenden
Jahren wurde sie nie wieder mit dem Wunsch nach Geschlechtsumwandlung
vorstellig.
Bleibt allerdings der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung
bestehen, erfolgt die weitere Behandlung nach den Grundregeln der Behandlung
erwachsener transsexueller Patienten (Becker et al., 1997; Sigusch, 2001):
Eine mindestens einjährige psychotherapeutische Arbeit dient
der Abklärung, ob eine Unterstützung geschlechtsumwandelnder Maßnahmen wie
gegengeschlechtliche Hormonbehandlung, chirurgische Eingriffe, Namen- und
Personenstandsänderung indiziert ist.
Falls der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung bestehen bleibt.
muss ein sogenannter Alltagstest von mindestens einjähriger Dauer durchlaufen
werden. Der Patient muss während dieses Alltagstests möglichst voll in der
angestrebten Geschlechtsrolle leben, die psychotherapeutische Behandlung sollte
hierzu begleitend durchgeführt werden.
Geschlechtsumwandelnde Maßnahmen sollten frühestens nach dem
Erreichen des 18. Lebensjahres eingeleitet werden, in klaren Einzelfällen kann
eine gegengeschlechtliche Hormonbehandlung auch schon vor dem Erreichen der
Volljährigkeit begonnen werden. Insbesondere von der niederländischen
Arbeitsgruppe (Cohen-Kettenis und van Goozen, 1997) werden reversible
hormonelle Behandlungen (mit Hypothalamus Blockern, die zu einer Suppression
der Östrogen- bzw. Testosteronproduktion führen) befürwortet, um die pubertären
biologischen Veränderungen aufzuhalten. Dieses führte dazu, dass in
Einzelfällen solche Behandlungen schon zu Beginn der Pubertät gewünscht und
auch befürwortet werden, in einem Fall bereits bei einem elfjährigen Jungen
(Preuss, pers. Komm. 2002). Eine solch frühe hormonelle Intervention steht im
Widerspruch zu den Zielen psychotherapeutischer Arbeit, durch die ja zumindest
ein Weg geöffnet werden sollte, mit dem biologischen Geschlecht zu leben. Wird
gleichzeitig auch „nur“ eine hormonelle, den Eintritt der Pubertät
hinauszögernden Behandlung befürwortet, so wird dem Patienten in der Konsequenz
eine widersprüchliche doppelte Botschaft gegeben und eine erfolgreiche
psychotherapeutische Arbeit damit unmöglich gemacht. Wir befürworten daher den
Beginn einer hormonellen Behandlung nicht vor dem 16. Lebensjahr, chirurgische
geschlechtsumwandelnde Eingriffe in aller Regel nicht vor Erreichen des 18.
Lebensjahres.
Es liegt eine nicht unerhebliche Zahl von
Rückumwandlungswünschen vor, international wurden nach Pfäfflin und Junge
(1992) zwischen 1961 und 1991 bis 23 „Geschlechtsrollen-Rückfälle“
dokumentiert, wobei die wahre Zahl von „Rückfällen“ wesentlich höher liegen
dürfte (Sigusch, 2001). In der Mehrzahl hatten diese Patienten keine längere
psychotherapeutische Behandlung erhalten, sich nicht an das schrittweise
Vorgehen gehalten, sondern sich sehr schnell auf dem schwarzen medizinischen
Markt Hormonpräparate besorgt und sich teilweise im Ausland um operieren lassen
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