Dienstag, 22. Oktober 2013

Transsexualität: Der dritte Weg


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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2013


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Transsexualität
Der dritte Weg

Mehr als 40 Jahre lebt Silke im Körper eines Mannes. Dann wird ihr klar: Sie ist schon immer eine Frau. Was folgt, ist ein zähes Ringen um die eigene Identität, das noch lange nicht abgeschlossen ist.
Klar hat sie ein Foto. Silke zückt ihr Handy und tippt darauf herum, bis sie das Bild von Sven findet. Es ist ein Bewerbungsfoto. Sven im blauen Jackett, mit weißem Hemd und Krawatte. Ein Mann Mitte vierzig, graues Haar, grauer Bart. Der Blick ernst, man könnte auch sagen: elend. Der ganze Ausdruck wirkt gequält. »Na freilich«, sagt Silke. »Das war ja auch ne arme Sau.« Sie muss es wissen. Denn Sven, das war sie.
Was immer einem beim Begriff »transsexuell« für Bilder durch den Kopf schießen mögen, Silke entspricht ihnen herzlich wenig. Sie ist eine kleine Frau, schlicht gekleidet in Jeans und violetter Bluse. Das braune Haar trägt sie im Nacken gebunden. Stimme und Gesichtszüge lassen noch Reste von Sven erahnen. Aber das wird schon. Die Hormontherapie, begonnnen vor sechs Monaten, schlägt erst langsam an.

Etwa 6000 transsexuelle Menschen gibt es in Deutschland. Vielleicht sind es auch 50 000, so genau weiß das niemand. Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Wie die Diskrepanz zwischen dem äußeren, biologischen und dem empfundenen Geschlecht entsteht, weiß bislang niemand. »Geschlechtsidentitätsstörung« lautet der Fachbegriff. Einige vermuten die Ursachen im Gehirn, andere machen die Hormone verantwortlich. Den Betroffenen selbst bringt die Suche nach den Gründen nur wenig. Sie sprechen auch lieber von »Transidentität«. Weil das Ganze nichts mit Sex zu tun hat, sondern mit dem Selbstbild.

Silke führt den Besuch ins Wohnzimmer. Sie lebt jetzt wieder in ihrem Elternhaus, zusammen mit der Mutter. Es ist ein brauner Klinkerbau aus den siebziger Jahren, helle Möbel, Wintergarten. Hier hat sie, damals noch Sven, ihre Kindheit verbracht. Keine idyllische Kindheit, der Stiefvater ist ein Despot, seine Meinung ist Gesetz. Ein Mensch ist für ihn ein Mann, besser: ein studierter Mann. Der Sohn, obwohl geschickt und der geborene Handwerker, soll Akademiker werden. Folgsam macht Sven sein Diplom als Betriebswirt, arbeitet mehr als zwanzig Jahre in einem ungeliebten Beruf.

Alles fühlt sich falsch an

Und Silke? Eigentlich war sie immer schon da. Ein Mädchen, das gerne mit anderen Mädchen spielt. Aber alle anderen sehen nur Sven. »Da war immer dieses Unbehagen«, sagt Silke heute.

Sie ist eine gute Schauspielerin. Sven trägt einen Schnurrbart, schafft sich einen Panzer aus Bauch. Als junger Mann zieht er mit Kumpels um die Häuser. Aber die Rituale der Partnersuche – das Schauen, das Flirten, das Abschleppen – bleiben ihm fremd. Ein bisschen Knutschen, mehr Nähe lässt er nicht zu. Lange Jahre bleibt er allein. 1991 trifft er schließlich eine alte Schulfreundin wieder, Eva, man war sich immer sympathisch. Wenn nicht die, wer dann? Die beiden heiraten, ziehen zusammen, bekommen zwei Kinder.

Hormontherapie

Die Hormontherapie im Rahmen einer Geschlechtsangleichung funktioniert zweifach: Die Betroffenen nehmen sowohl Sexualhormone des erwünschten Geschlechts ein als auch Mittel, die die körpereigene Produktion der Sexualhormone unterdrücken. Bei einer Mann-zu-Frau-Behandlung sind das Estrogene, Gestagene und Antiandrogene. Nach der geschlechtsangleichenden Operation produziert der Körper keine Androgene mehr. Diese werden dann häufig in niedrigen Dosen wieder zugeführt, um Antriebslosigkeit und psychischen Beschwerden entgegenzuwirken. Bei einer Frau-zu-Mann-Behandlung erhalten Betroffene einerseits das männliche Sexualhormon Testosteron, andererseits Antiestrogene.

Fotos der Kinder hängen heute über dem Wohnzimmertisch, daneben ein Hochzeitsbild. Sven, bullig, verlegen, steht auf einer Sommerwiese. Vor ihm im Gras, ganz in Weiß, Eva. Silke hat das Bild nicht abgenommen. Wie ist das, im falschen Körper zu stecken? »Seien Sie froh und danken Sie Ihrem Schöpfer oder wem auch immer, dass Sie es nicht nachempfinden können«, sagt Silke und blickt kurz auf. »Es ist kein Spaß«. Wie soll man so ein Leben beschreiben? Die vorherrschende Empfindung: Alles fühlt sich falsch an. Nur genau lokalisieren lässt sich das nicht.

Frauenkleider sind kein Fetisch

War sie denn glücklich in ihrer Ehe? Silke überlegt. Ja, es war so etwas Ähnliches wie Glück. Zumindest am Anfang. Aber es kommt viel zusammen. Das Leiden an der Arbeit, das Leiden am Selbst. Sven wird erst depressiv, dann cholerisch. Brüllt oft herum. Auf der Arbeit bricht er eines Tages zusammen, muss mehrere Monate pausieren. 2003 kehrt dann das alte »Unbehagen« zurück. Anzug und Krawatte werden Sven widerlich. Werden eigentlich Silke widerlich, denn sie ist wieder da, aufgetaucht aus der Versenkung. Es ist wie im Film: Sven kauft sich tagsüber Frauenkleider, die Silke nachts heimlich trägt. Mit Fetisch hat das nichts zu tun, sondern mit dem Gefühl: Das bin ich.

2009 geht schließlich gar nichts mehr. Silke zieht sich immer mehr zurück, sie hat kaum noch Kraft und sucht endlich einen Psychologen auf. Im Internet hat sie viel über Transsexualität gelesen, trotzdem hofft sie noch, das Ganze könnte ein Irrtum sein und »in ein paar Jahren nur noch eine merkwürdige Erinnerung«. Doch nach einem halben Jahr Therapie steht fest: Es stimmt wohl doch – sie ist transidentisch.

Im Prinzip, sagt sie heute, gab es von da an nur drei Möglichkeiten: Verdrängung, Suizid oder »Offenbarung«. Da die Verdrängung nicht mehr funktionierte und Selbstmord »richtig blöd« gewesen wäre, blieb ihr nur der dritte Weg. Aber es ist eher eine Odyssee. Eine, die gerade erst beginnt. Hormontherapie, alle vier Wochen eine Spritze Testosteronhemmer in den Bauch. Dann die Änderung des Vornamens. Zwei psychiatrische Gutachter müssen darüber entscheiden, ob Sven wirklich Silke ist. Der Antrag läuft. Ganz am Ende steht irgendwann das, woran Außenstehende meist als Erstes denken: Die »geschlechtsangleichende Operation«. Silke hat keine Angst davor, im Gegenteil. Sie kann es kaum erwarten.
Rund 6000 transsexuelle Menschen soll es in Deutsch­land geben. Doch die Dunkelziffer ist sehr hoch.

Bereits die Diagnose lässt 2009 eine Last von ihr abfallen. Im wahrsten Sinne des Wortes, sie verliert mehr als 15 Kilo. Sie weiht Freunde und Familie ein. Die Kinder nehmen die Erklärung »super auf«. Auch Silkes Schwester und Mutter akzeptieren nach dem ersten Schrecken ihre neue Identität. Die Brüder haben da schon eher ein Problem. »Toll finden sie es nicht«, sagt Silke trocken. Und Eva, die Ehefrau? Silke schaut auf ihre Hände. »Sie ist dem traditionellen Rollenbild sehr verhaftet.« Als die Wahrheit endlich heraus ist, wird schnell klar: Eva ist nicht bereit, Sven gegen Silke zu tauschen. Inzwischen läuft die Scheidung und beide versuchen, den Weg der anderen zu akzeptieren.

Probleme mit der Außenwelt

Ist sie denn glücklich, als Silke, hier im Einfamilienhaus, mit den Kindern am Wochenende? »Mit dem Glück ist es so eine Sache«, sagt Silke. Wenn du weißt, dass du mit der Lüge niemals glücklich werden kannst, ist die Offenbarung letztlich die einzige Möglichkeit. »Sie ist keine Garantie für Glückseligkeit. Aber die gibt es nirgendwo.«

Probleme mit der Außenwelt, ja, die gibt es schon. Letztes Jahr erst hat es eine Bekannte aus der Selbsthilfe erwischt. Sie wurde »verdroschen«, von einer Gruppe junger Männer. Silke selbst hat wenig Angst. Eher ärgert sie sich, über verständnislose Krankenkassenmitarbeiter zum Beispiel. Mühsam muss Silke ihnen immer wieder erläutern, warum bestimmte Behandlungen notwendig sind. Eine dauerhafte Entfernung der Gesichtshaare zum Beispiel. Dann heißt es: Rasieren Sie sich doch. Kompetente Ansprechpartner bei Ämtern und Kassen, das würde schon helfen.

Momentan freut Silke sich über kleine Dinge: Ihr Haar, das durch die Östrogene wieder üppig wächst und schon bis zu den Schultern reicht. Den Ansatz von Dekolleté. Neulich wollte die Kassiererin ihre EC-Karte nicht annehmen. »Die gehört wohl ihrem Mann.« Silke grinst. »Das geht runter wie Öl.« Aber sie ist realistisch. In der Stadt sieht sie junge Frauen in schönen Kleidern und weiß: »So werde ich nie aussehen.« Zu breit die Schultern, zu grob die Hände. Sie weiß auch: »Die Zeit gibt mir niemand zurück.« Vierzig Jahre lang war sie im Grunde nicht sie selbst. Nun kann sie es ausprobieren. Silke hat gekündigt, macht jetzt das, was ihr Freude macht. Mit einem Bekannten betreibt sie eine Werkstatt, baut Möbel, Uhren und Kunsthandwerk. Sie hat Talent, es hat sich bereits herumgesprochen. Die Schultern werden von der harten Arbeit nicht schmaler, aber das ist egal, die Freude an der Arbeit zählt.

Überhaupt: Der Mensch ist nicht nur Geschlecht. Der Wechsel ihrer Identität hat Silke viel Kraft gekostet, daneben soll der Alltag nicht verloren gehen. Ihre Freunde sind ihr wichtig, die gemeinsamen Hobbys und Feste. Und die Liebe? Silke lächelt verhalten. Irgendwann eine neue Beziehung, schön wäre das schon. Wie die denn aussehen könnte, das weiß sie noch nicht. Erst mal muss sie ganz Silke werden. Bis dahin ist ja auch noch Mutter Gitti da. Die beiden Frauen wohnen zusammen. Nein, es ist keine Flucht zurück in Mamas Nest, eher eine WG. »Zu zweit ist es einfach lustiger«, sagt Silke, und Gitti nickt bestätigend.

Gleich geht es los zur Geburtstagsfeier von Silkes Ältestem. Ab und zu rutscht Gitti noch ein »er« heraus, wenn es um die Tochter geht. Silke nimmt es ihr nicht übel. Momentan ist sie sowieso mit der Suche nach ihrer Tasche beschäftigt. »Kommst du?«, ruft Gitti und schüttelt den Kopf. »Dass Mädels immer so lange brauchen.

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