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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2013
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Transsexualität
Der dritte
Weg
Mehr als 40
Jahre lebt Silke im Körper eines Mannes. Dann wird ihr klar: Sie ist schon
immer eine Frau. Was folgt, ist ein zähes Ringen um die eigene Identität, das
noch lange nicht abgeschlossen ist.
Klar hat sie
ein Foto. Silke zückt ihr Handy und tippt darauf herum, bis sie das Bild von
Sven findet. Es ist ein Bewerbungsfoto. Sven im blauen Jackett, mit weißem Hemd
und Krawatte. Ein Mann Mitte vierzig, graues Haar, grauer Bart. Der Blick ernst,
man könnte auch sagen: elend. Der ganze Ausdruck wirkt gequält. »Na freilich«,
sagt Silke. »Das war ja auch ne arme Sau.« Sie muss es wissen. Denn Sven, das
war sie.
Was immer
einem beim Begriff »transsexuell« für Bilder durch den Kopf schießen mögen,
Silke entspricht ihnen herzlich wenig. Sie ist eine kleine Frau, schlicht
gekleidet in Jeans und violetter Bluse. Das braune Haar trägt sie im Nacken
gebunden. Stimme und Gesichtszüge lassen noch Reste von Sven erahnen. Aber das
wird schon. Die Hormontherapie, begonnnen vor sechs Monaten, schlägt erst
langsam an.
Etwa 6000
transsexuelle Menschen gibt es in Deutschland. Vielleicht sind es auch 50 000,
so genau weiß das niemand. Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Wie die Diskrepanz
zwischen dem äußeren, biologischen und dem empfundenen Geschlecht entsteht,
weiß bislang niemand. »Geschlechtsidentitätsstörung« lautet der Fachbegriff.
Einige vermuten die Ursachen im Gehirn, andere machen die Hormone
verantwortlich. Den Betroffenen selbst bringt die Suche nach den Gründen nur
wenig. Sie sprechen auch lieber von »Transidentität«. Weil das Ganze nichts mit
Sex zu tun hat, sondern mit dem Selbstbild.
Silke führt
den Besuch ins Wohnzimmer. Sie lebt jetzt wieder in ihrem Elternhaus, zusammen
mit der Mutter. Es ist ein brauner Klinkerbau aus den siebziger Jahren, helle
Möbel, Wintergarten. Hier hat sie, damals noch Sven, ihre Kindheit verbracht.
Keine idyllische Kindheit, der Stiefvater ist ein Despot, seine Meinung ist
Gesetz. Ein Mensch ist für ihn ein Mann, besser: ein studierter Mann. Der Sohn,
obwohl geschickt und der geborene Handwerker, soll Akademiker werden. Folgsam
macht Sven sein Diplom als Betriebswirt, arbeitet mehr als zwanzig Jahre in
einem ungeliebten Beruf.
Alles fühlt
sich falsch an
Und Silke?
Eigentlich war sie immer schon da. Ein Mädchen, das gerne mit anderen Mädchen
spielt. Aber alle anderen sehen nur Sven. »Da war immer dieses Unbehagen«, sagt
Silke heute.
Sie ist eine
gute Schauspielerin. Sven trägt einen Schnurrbart, schafft sich einen Panzer
aus Bauch. Als junger Mann zieht er mit Kumpels um die Häuser. Aber die Rituale
der Partnersuche – das Schauen, das Flirten, das Abschleppen – bleiben ihm
fremd. Ein bisschen Knutschen, mehr Nähe lässt er nicht zu. Lange Jahre bleibt
er allein. 1991 trifft er schließlich eine alte Schulfreundin wieder, Eva, man
war sich immer sympathisch. Wenn nicht die, wer dann? Die beiden heiraten,
ziehen zusammen, bekommen zwei Kinder.
Hormontherapie
Die
Hormontherapie im Rahmen einer Geschlechtsangleichung funktioniert zweifach:
Die Betroffenen nehmen sowohl Sexualhormone des erwünschten Geschlechts ein als
auch Mittel, die die körpereigene Produktion der Sexualhormone unterdrücken.
Bei einer Mann-zu-Frau-Behandlung sind das Estrogene, Gestagene und
Antiandrogene. Nach der geschlechtsangleichenden Operation produziert der
Körper keine Androgene mehr. Diese werden dann häufig in niedrigen Dosen wieder
zugeführt, um Antriebslosigkeit und psychischen Beschwerden entgegenzuwirken.
Bei einer Frau-zu-Mann-Behandlung erhalten Betroffene einerseits das männliche
Sexualhormon Testosteron, andererseits Antiestrogene.
Fotos der
Kinder hängen heute über dem Wohnzimmertisch, daneben ein Hochzeitsbild. Sven,
bullig, verlegen, steht auf einer Sommerwiese. Vor ihm im Gras, ganz in Weiß,
Eva. Silke hat das Bild nicht abgenommen. Wie ist das, im falschen Körper zu
stecken? »Seien Sie froh und danken Sie Ihrem Schöpfer oder wem auch immer,
dass Sie es nicht nachempfinden können«, sagt Silke und blickt kurz auf. »Es ist
kein Spaß«. Wie soll man so ein Leben beschreiben? Die vorherrschende
Empfindung: Alles fühlt sich falsch an. Nur genau lokalisieren lässt sich das
nicht.
Frauenkleider
sind kein Fetisch
War sie denn
glücklich in ihrer Ehe? Silke überlegt. Ja, es war so etwas Ähnliches wie
Glück. Zumindest am Anfang. Aber es kommt viel zusammen. Das Leiden an der
Arbeit, das Leiden am Selbst. Sven wird erst depressiv, dann cholerisch. Brüllt
oft herum. Auf der Arbeit bricht er eines Tages zusammen, muss mehrere Monate
pausieren. 2003 kehrt dann das alte »Unbehagen« zurück. Anzug und Krawatte
werden Sven widerlich. Werden eigentlich Silke widerlich, denn sie ist wieder
da, aufgetaucht aus der Versenkung. Es ist wie im Film: Sven kauft sich
tagsüber Frauenkleider, die Silke nachts heimlich trägt. Mit Fetisch hat das
nichts zu tun, sondern mit dem Gefühl: Das bin ich.
2009 geht
schließlich gar nichts mehr. Silke zieht sich immer mehr zurück, sie hat kaum
noch Kraft und sucht endlich einen Psychologen auf. Im Internet hat sie viel
über Transsexualität gelesen, trotzdem hofft sie noch, das Ganze könnte ein
Irrtum sein und »in ein paar Jahren nur noch eine merkwürdige Erinnerung«. Doch
nach einem halben Jahr Therapie steht fest: Es stimmt wohl doch – sie ist
transidentisch.
Im Prinzip,
sagt sie heute, gab es von da an nur drei Möglichkeiten: Verdrängung, Suizid
oder »Offenbarung«. Da die Verdrängung nicht mehr funktionierte und Selbstmord
»richtig blöd« gewesen wäre, blieb ihr nur der dritte Weg. Aber es ist eher
eine Odyssee. Eine, die gerade erst beginnt. Hormontherapie, alle vier Wochen
eine Spritze Testosteronhemmer in den Bauch. Dann die Änderung des Vornamens.
Zwei psychiatrische Gutachter müssen darüber entscheiden, ob Sven wirklich
Silke ist. Der Antrag läuft. Ganz am Ende steht irgendwann das, woran
Außenstehende meist als Erstes denken: Die »geschlechtsangleichende Operation«.
Silke hat keine Angst davor, im Gegenteil. Sie kann es kaum erwarten.
Rund 6000
transsexuelle Menschen soll es in Deutschland geben. Doch die Dunkelziffer ist
sehr hoch.
Bereits die
Diagnose lässt 2009 eine Last von ihr abfallen. Im wahrsten Sinne des Wortes,
sie verliert mehr als 15 Kilo. Sie weiht Freunde und Familie ein. Die Kinder
nehmen die Erklärung »super auf«. Auch Silkes Schwester und Mutter akzeptieren
nach dem ersten Schrecken ihre neue Identität. Die Brüder haben da schon eher
ein Problem. »Toll finden sie es nicht«, sagt Silke trocken. Und Eva, die
Ehefrau? Silke schaut auf ihre Hände. »Sie ist dem traditionellen Rollenbild
sehr verhaftet.« Als die Wahrheit endlich heraus ist, wird schnell klar: Eva
ist nicht bereit, Sven gegen Silke zu tauschen. Inzwischen läuft die Scheidung
und beide versuchen, den Weg der anderen zu akzeptieren.
Probleme mit
der Außenwelt
Ist sie denn
glücklich, als Silke, hier im Einfamilienhaus, mit den Kindern am Wochenende?
»Mit dem Glück ist es so eine Sache«, sagt Silke. Wenn du weißt, dass du mit
der Lüge niemals glücklich werden kannst, ist die Offenbarung letztlich die
einzige Möglichkeit. »Sie ist keine Garantie für Glückseligkeit. Aber die gibt
es nirgendwo.«
Probleme mit
der Außenwelt, ja, die gibt es schon. Letztes Jahr erst hat es eine Bekannte
aus der Selbsthilfe erwischt. Sie wurde »verdroschen«, von einer Gruppe junger
Männer. Silke selbst hat wenig Angst. Eher ärgert sie sich, über
verständnislose Krankenkassenmitarbeiter zum Beispiel. Mühsam muss Silke ihnen
immer wieder erläutern, warum bestimmte Behandlungen notwendig sind. Eine
dauerhafte Entfernung der Gesichtshaare zum Beispiel. Dann heißt es: Rasieren
Sie sich doch. Kompetente Ansprechpartner bei Ämtern und Kassen, das würde
schon helfen.
Momentan
freut Silke sich über kleine Dinge: Ihr Haar, das durch die Östrogene wieder
üppig wächst und schon bis zu den Schultern reicht. Den Ansatz von Dekolleté.
Neulich wollte die Kassiererin ihre EC-Karte nicht annehmen. »Die gehört wohl
ihrem Mann.« Silke grinst. »Das geht runter wie Öl.« Aber sie ist realistisch.
In der Stadt sieht sie junge Frauen in schönen Kleidern und weiß: »So werde ich
nie aussehen.« Zu breit die Schultern, zu grob die Hände. Sie weiß auch: »Die
Zeit gibt mir niemand zurück.« Vierzig Jahre lang war sie im Grunde nicht sie
selbst. Nun kann sie es ausprobieren. Silke hat gekündigt, macht jetzt das, was
ihr Freude macht. Mit einem Bekannten betreibt sie eine Werkstatt, baut Möbel,
Uhren und Kunsthandwerk. Sie hat Talent, es hat sich bereits herumgesprochen.
Die Schultern werden von der harten Arbeit nicht schmaler, aber das ist egal,
die Freude an der Arbeit zählt.
Überhaupt:
Der Mensch ist nicht nur Geschlecht. Der Wechsel ihrer Identität hat Silke viel
Kraft gekostet, daneben soll der Alltag nicht verloren gehen. Ihre Freunde sind
ihr wichtig, die gemeinsamen Hobbys und Feste. Und die Liebe? Silke lächelt
verhalten. Irgendwann eine neue Beziehung, schön wäre das schon. Wie die denn
aussehen könnte, das weiß sie noch nicht. Erst mal muss sie ganz Silke werden.
Bis dahin ist ja auch noch Mutter Gitti da. Die beiden Frauen wohnen zusammen.
Nein, es ist keine Flucht zurück in Mamas Nest, eher eine WG. »Zu zweit ist es
einfach lustiger«, sagt Silke, und Gitti nickt bestätigend.
Gleich geht
es los zur Geburtstagsfeier von Silkes Ältestem. Ab und zu rutscht Gitti noch
ein »er« heraus, wenn es um die Tochter geht. Silke nimmt es ihr nicht übel.
Momentan ist sie sowieso mit der Suche nach ihrer Tasche beschäftigt. »Kommst
du?«, ruft Gitti und schüttelt den Kopf. »Dass Mädels immer so lange brauchen.
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