Mittwoch, 22. April 2015

Europa-Gericht stärkt Grundrecht auf Geschlechtsanpassung

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2015

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Europa-Gericht stärkt Grundrecht auf Geschlechtsanpassung
In einem Grundsatzurteil haben die Straßburger Richter entschieden, dass Sterilität keine Voraussetzung für eine Geschlechtsanpassung sein darf.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem am Dienstag verkündeten Urteil festgestellt, dass Transsexuelle ein Grundrecht auf Geschlechtsanpassung haben. Der Staat dürfe ihnen dabei keine Steine in den Weg legen – konkret ging es um die Voraussetzung, dass ein Transsexueller vor einer operativen Geschlechtsanpassung zeugungsunfähig sein muss. Das Urteil der sieben Richter fiel einstimmig.

Geklagt hatte ein transsexueller Mann aus der Türkei, der vom Gericht nur als Y.Y. Identifiziert wurde. Das Verfahren zeigt, mit welchen entwürdigenden Hürden Transsexuelle in Europa zu kämpfen haben: Im vorliegenden Fall hatte Y.Y. bereits im September 2005 im südtürkischen Mersin eine Geschlechtsanpassung beantragt. Allerdings genehmigten die Richter die Operation mehrere Jahre nicht. Begründung: Der Patient habe weibliche Geschlechtsorgane und sei nicht wie im Gesetz vorgeschrieben zeugungsunfähig – eine Geschlechtsanpassung sei aber nach türkischen Gesetz nur zulässig, wenn Y.Y. keine Kinder kriegen könne.

Zwar erlaubte ein türkisches Gericht schließlich 2013 – also acht Jahre nach dem ersten Antrag – erstmals die Geschlechtsanpassung. Die Europarichter beschäftigten sich aber mit der ursprünglichen Ablehnung und führten damit ein Grundsatzurteil herbei.

Die Straßburger Richter kritisierten, dass Sterilität eine Bedingung für die Anerkennung von Transsexuellen sei. Dies sei ein Verstoß gegen Artikel 8 der Menschenrechtskonvention zur Achtung des Privat- und Familienlebens. Dieser Artikel beinhalte auch ein Selbstbestimmungsrecht für Transsexuelle.

Dem Kläger sprachen die Richter Schadensersatz in Höhe von 7.500 Euro zu.

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Viele europäische Länder müssen Gesetze ändern

Nach Angaben von Transgender Europe verlangen heute noch 20 der 47 Staaten, die als Mitglied im Europarat formal an die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs gebunden sind, dass Transsexuelle sterilisiert werden müssen. Trans-Aktivisten begrüßten daher das Urteil als wegweisend. Sie verwiesen aber auch darauf, dass in vielen Ländern Transsexuellen noch zu hohe bürokratische Hürden in den Weg gestellt werden würden, etwa mit einem Zwang, sich die Transsexualität von mehreren Gutachtern bestätigen zu lassen.

Viele Länder in Europa überarbeiten derzeit ihre Transsexuellengesetze. So verabschiedete Dänemark im letzten Jahr ein fortschrittliches Gesetz, das Transsexuellen eine unbürokratische Anerkennung des erwünschten Geschlechts erlaubt (queer.de berichtete). Der Gutachter-Zwang, der auch in Deutschland von Trans-Aktivisten kritisiert wird, wurde abgeschafft.

In Deutschland gilt das Transsexuellengesetz aus dem Jahr 1981. Es wurde bereits in mehreren Bereichen vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. So müssen Transsexuelle seit 2011 nicht mehr zeugungsunfähig sein, um in ihrem neuen Geschlecht anerkannt zu werden Die Karlsruher Richter schafften auch die teure und teilweise mit Gefahren verbundene operative Geschlechtsanpassung als Voraussetzung für die Anerkennung des neuen Geschlechts ab. Diese Vorschrift sei unvereinbar mit der im Grundgesetz garantierten Menschenwürde und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit


Ruhestandsrente für eine Transsexuelle
Die Rente ist der Betreffenden im gleichen Alter wie einer Frau zu gewähren
Der Fall:

Frau Sarah Margaret Richards wurde am 28. Februar 1942 im Vereinigten Königreich geboren, und in ihrer Geburtsurkunde war ihr Geschlecht als männlich registriert. Nachdem bei ihr eine Geschlechtsdysphorie diagnostiziert worden war, unterzog sie sich im Jahr 2001 einer operativen Geschlechtsumwandlung.
Am 14. Februar 2002 beantragte sie die Gewährung einer Ruhestandsrente mit Wirkung vom 28. Februar 2002, dem Tag, an dem sie 60 Jahre alt wurde und damit das Alter erreicht hatte, in dem nach britischem Recht eine vor dem 6. April 1950 geborene Frau eine Ruhestandsrente erhalten kann.
Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass er mehr als vier Monate vor Vollendung des 65. Lebensjahres des Antragstellers gestellt wurde, dem im Vereinigten Königreich für Männer geltenden Rentenalter.

Der Europäische Gerichtshof sah darin eine unzulässige Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.

Das Urteil:

1. Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er Rechtsvorschriften entgegensteht, die einer Person, die sich gemäß den Voraussetzungen des nationalen Rechts einer Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau unterzogen hat, die Gewährung einer Ruhestandsrente versagen, weil sie noch nicht das 65. Lebensjahr erreicht hat, während diese Person mit 60 Jahren Anspruch auf eine solche Rente gehabt hätte, wenn sie nach dem nationalen Recht als Frau anzusehen gewesen wäre.

2. Es besteht kein Anlass, die zeitlichen Wirkungen des vorliegenden Urteils zu begrenzen.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-423/04: Sarah Margaret Richards / Secretary of State for Work and Pensions

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 35/05 vom 27. April 2006

Die Weigerung, einer Transsexuellen, die sich einer Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau unterzogen hat, im gleichen Alter wie einer Frau eine Rente zu gewähren, verstößt gegen das Gemeinschaftsrecht.

Eine solche Weigerung stellt eine Diskriminierung dar, die gegen eine Gemeinschaftsrichtlinie über die Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit verstößt.

Nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs, die vor April 2005 in Kraft waren, ist das Geschlecht einer Person hinsichtlich der Sozialversicherungsregelungen das in ihrer Geburtsurkunde angegebene. Eine Geburtsurkunde kann nur zur Berichtigung von Schreibfehlern oder faktischen Irrtümern geändert werden. Transsexuelle, die sich einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzogen haben, können daher das in ihrer Geburtsurkunde vermerkte Geschlecht nicht ändern lassen.

Nach dem 4. April 2005 in Kraft getretene Gesetz von 2004 über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit (Gender Recognition Act 2004) kann Transsexuellen unter bestimmten Voraussetzungen eine Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit (Gender Recognition Certificat) erteilt werden. Die Erteilung einer solchen Bescheinigung ändert die geschlechtliche Identität der betreffenden Person für fast alle amtlichen Belange, hat aber keine Rückwirkung.

Im Vereinigten Königreich können Männer mit dem 65. Lebensjahr und Frauen mit dem 60. Lebensjahr eine Ruhestandsrente erhalten.

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens wurde bei ihrer Geburt im Jahr 1942 als männlich registriert. Nachdem bei ihr eine Geschlechtsdysphorie diagnostiziert worden war, unterzog sie sich im Mai 2001 einer operativen Geschlechtsumwandlung. Im Februar 2002 beantragte sie die Gewährung einer Ruhestandsrente ab ihrem 60. Geburtstag.

Dieser Antrag wurde vom Secretary of State and Pensions mit der Begründung abgelehnt, dass er mehr als vier Monate vor Vollendung des 65. Lebensjahres der Betroffenen gestellt worden sei. Die Klägerin focht diese Entscheidung an, und der Social Security Commissioner, der mit der Sache aufgrund eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung des Social Security Appeal Tribunal befasst wurde, hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob eine solche Weigerung gegen die Gemeinschaftsrichtlinie über die Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit1 verstößt.

Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass das Recht, nicht aufgrund des Geschlechts diskriminiert zu werden, nach seiner ständigen Rechtsprechung eines der Grundrechte des Menschen darstellt, deren Einhaltung er zu sichern hat. Der Anwendungsbereich der Richtlinie kann daher nicht auf Diskriminierungen beschränkt werden, die sich aus der Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Geschlecht ergeben. Denn die Richtlinie hat auch für Diskriminierungen zu gelten, die ihre Ursache in einer Geschlechtsumwandlung des Betroffenen haben.

Die Ungleichbehandlung in der vorliegenden Rechtssache beruht darauf, dass es der Klägerin nicht möglich ist, die Anerkennung der durch eine Operation erworbenen neuen Geschlechtszugehörigkeit zu erlangen. Anders als die Frauen, deren Geschlechtszugehörigkeit nicht das Ergebnis einer solchen Operation ist und die mit 60 Jahren eine Ruhestandsrente erhalten können, kann die Klägerin eine der Voraussetzungen für den Anspruch auf diese Rente, nämlich die in Bezug auf das Rentenalter, nicht erfüllen. Da diese Ungleichbehandlung ihren Ursprung in der Geschlechtsumwandlung hat, ist sie als eine durch die Richtlinie verbotene Diskriminierung anzusehen.

Der Gerichtshof weist das Argument des Vereinigten Königreichs zurück, dass diese Situation unter eine in der Richtlinie vorgesehenen Ausnahme falle, nach der es einem Mitgliedstaat erlaubt sei, unterschiedliche Rentenalter für Männer und Frauen festzulegen. Er stellt fest, dass diese Ausnahme, die eng auszulegen ist, nicht die in der vorliegenden Rechtssache streitige Frage betrifft.

Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass die Richtlinie Rechtsvorschriften entgegensteht, die einer Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau unterzogen hat, die Gewährung einer Ruhestandsrente versagen, weil sie noch nicht das 65. Lebensjahr erreicht hat, während diese Person mit 60 Jahren Anspruch auf eine solche Rente gehabt hätte, wenn sie nach dem nationalen Recht als Frau anzusehen gewesen wäre.
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1 Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (Abl. 1979, L 6, S. 24).

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