Montag, 11. Mai 2015

Intersexualität im Spannungsfeld zwischen tatsächlicher Existenz und rechtlicher Unmöglichkeit



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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2015
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Gesetzesänderung bei Intersexualität
Ein X ist möglich
Wenn das Geschlecht des Neugeborenen nicht eindeutig ist, müssen Eltern künftig nicht mehr entscheiden. Das geht Betroffenen nicht weit genug.

Mädchen oder Junge? Die Frage ist spätestens nach der Entbindung meist schnell geklärt. Doch bei jedem fünftausendsten in Deutschland geborenem Kind ist das Geschlecht nicht eindeutig: das Kind ist weder weiblich noch männlich, sondern irgendetwas dazwischen.

Wie geht man mit sogenannten Intersexuellen um, also mit Menschen, die sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale aufweisen? Bislang existierten solche Menschen für die Behörden offiziell nicht. Das ändert sich, wenn am Freitag das sogenannte Personenstandsgesetz erweitert wird: Ins Geburtenregister muss nun nicht mehr eingetragen werden, ob das Baby männlich oder weiblich ist. Wird bei einem Kind Doppelgeschlechtlichkeit festgestellt, können die Eltern zunächst ein X ins Geburtenregister schreiben lassen.

Rund 80.000 Hermaphroditen leben derzeit in Deutschland. Sie sind nicht zu verwechseln mit Transsexuellen, bei denen das Geschlecht zwar eindeutig ist, die sich aber im „falschen Körper“ fühlen.
Die Gesetzeserweiterung ist ein „Schritt in die richtige Richtung“, sagt Andrea Budzinski, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti). Intersexuelle würden nun „endlich sichtbar“, die Zwangszuordnung zu einem bestimmten Geschlecht aufgehoben.
Vielfach als Babys operiert

Die meisten der Intersexuellen, die vor dem heutigen Stichtag geboren wurden, dürften vom geänderten Gesetz jedoch nicht profitieren, denn bei vielen wurde das Geschlecht bereits festgelegt – von Ärzten und von den Eltern. Bislang war es üblich, aus einem intersexuellen Kind wahlweise ein Mädchen oder einen Jungen zu machen – durch Operationen, bei denen die „überflüssigen“ Geschlechtsmerkmale entfernt werden, oder mit Hormonbehandlungen und Medikamenten.

Vielfach wurden die Kinder schon als Babys operiert. „Medizinisch sind solche chirurgischen Eingriffe nicht notwendig“, sagt Budzinski. Da ginge es einzig um „Kosmetik“ und um eine „leichtere Zuordnung“.
Der Verband Intersexueller Menschen begrüßt die Gesetzeserweiterung zwar, sie gehe aber nicht weit genug: OPs dürften „nur mit ausdrücklicher informierter Einwilligung der betroffenen Menschen und unter vollständig zu dokumentierender, schriftlicher Aufklärung erfolgen“, heißt es auf der Verbands-Homepage. Später, wenn die Kinder und Jugendlichen eine sexuelle Identität entwickelten und sich möglicherweise einem Geschlecht zugehörig fühlten, sollen sie selbst entscheiden, ob sie sich operieren lassen oder nicht, fordert die dgti.
Entschädigung gefordert

Der Verband will auch Entschädigungen für Intersex-Menschen, denen als Babys und Kindern ein eindeutiges Geschlecht verpasst worden ist. Die Operationen sind irreversibel, also nicht mehr rückgängig zu machen. Für manche Betroffene sei das eine Katastrophe, sagt Budzinski: „Ein Hormonhaushalt lässt sich nicht operieren.“ Oder, anders formuliert: Wer als Baby oder als Kind beispielsweise zu einem Mädchen gemacht wurde, in der Pubertät aber merkt, dass er ein Junge ist, muss trotzdem als Mädchen leben. „Was weg ist, ist weg“, sagt Budzinski: „Diese OPs sind Verstümmelungen.“
Intersexuelle rückten erst in den vergangenen 20 Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit und der Politik. Eltern mit der Diagnose „zwittriges Kind“ wurden von Ärzten häufig unter Druck gesetzt mit der Argumentation, das Kind hätte es in der Kita und in der Schule schwer, wenn es sich nicht eindeutig zuordnen könnte.


Intersexuelle Menschen Ethikrat fordert Entschädigung
Der Ethikrat empfiehlt, Menschen ohne eindeutiges Geschlecht nicht auf eine Rolle als Mann oder Frau festzulegen. Wer als Kind entsprechend operiert worden sei, solle eine Entschädigung erhalten. Damit folgt der Ethikrat in weiten Teilen der Position des Vereins Intersexuelle Menschen.
Angesichts großen Leids für die Betroffenen hat der Deutsche Ethikrat einen Hilfsfonds für Menschen ohne eindeutiges Geschlecht verlangt. Anerkennung und Hilfe sollten die Opfer ärztlicher Eingriffe erfahren, die auf eine klare Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht abzielten. Das empfahl der Ethikrat in seiner Stellungnahme zur Intersexualität.

Viele Menschen seien aufs Tiefste verletzt worden durch Behandlungen, die nach heutigen Erkenntnissen nicht dem Stand der Medizin entsprechen. "Sie haben Schmerzen, persönliches Leid, Erschwernisse und dauerhafte Einschränkungen ihrer Lebensqualität erlitten."

Die Vorsitzende des Vereins Intersexuelle Menschen, Lucie Veith, forderte, dass auch für Kinder "die körperliche und seelische Unversehrtheit des Menschen" gelten müsse. An Neugeborenen sollten keine Operationen vorgenommen werden, die nicht dringend erforderlich seien, sagte Veith n-tv.de. "Den Eltern sollte jede Menge Zeit gelassen werden, um sich an ihr besonderes Kind zu gewöhnen." Veith selbst versteht sich nicht als Frau oder Mann, sondern als Mensch.

"Das ist eine Farce"

"Die Kinder sollten ab einem bestimmten Alter selbst das Recht haben, sich als Jungen oder Mädchen oder weder noch einzuordnen", so Veith weiter. Sie kritisierte Gesetze und Bürokratie, die intersexuelle Menschen ignorierten. "Auf jeder Krankenkassenkarte ist das Geschlecht des Versicherten gespeichert. Wird ein intersexueller Mensch als Frau krankenversichert, so kann er beispielsweise keine Prostatabehandlung, obwohl im Körper vorhanden, in Anspruch nehmen. Das ist eine Farce."

Der Ethikrat schildet in seiner Stellungnahme unter anderem das Schicksal eines Menschen, bei dem nach der Geburt 1965 ein uneindeutiges Geschlechtsorgan festgestellt wurde. Im Bauchraum befanden sich zudem Hoden, das Baby hatte einen männlichen Chromosomensatz. Die Ärzte entfernten den Hoden, verschwiegen dies den Eltern aber genauso wie die Tatsache, dass ihr Kind chromosomal männlich war. Sie sagten laut dem Bericht zu den Eltern: "Das Kind ist ein Mädchen und wird es bleiben, die ganze Erziehung hat sich danach zu richten."
Selbsthilfegruppen sollen laut Ethikrat öffentlich finanziell gefördert werden. Betroffene und ihre Eltern sollten nur in einem speziellen Kompetenzzentrum über die einzelnen ärztlichen Disziplinen hinweg beraten und behandelt werden. Für die regelmäßige medizinische Betreuung sollte ein Netz an geeigneten Stellen geschaffen werden.
Im Personenstandsregister sollten sich Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig feststellbar ist, nicht nur als "weiblich" oder "männlich", sondern auch als "anderes" eintragen können


Intersexualität im Spannungsfeld zwischen tatsächlicher Existenz und rechtlicher Unmöglichkeit

Es gilt als natürliche und unumstößliche Wahrheit, dass Menschen entweder Männer oder Frauen sind. Welcher dieser beiden Kategorien sie zugeordnet werden, ließe sich an ihren Körpern festmachen.
Tatsache ist jedoch, dass es schon immer Menschen gegeben hat, deren Körper sich nicht ohne weiteres in dieses binäre Schema einordnen lassen.

Sie werden Hermaphroditen, Zwitter oder neuerdings auch Intersexuelle genannt.

Mit dem Begriff „Intersexualität“ hat sich die medizinische Sicht auf dieses historisch schon seit langem bekannte Phänomen durchgesetzt. Intersexualität fasst eine Vielzahl von verschiedenen Diagnosen zusammen und meint im weitesten Sinne das Vorhandensein von körperlichen Merkmalen beider Geschlechter bei einer Person.

Dem medizinischen Diskurs entsprechend wird die geschlechtliche Uneindeutigkeit in ihren zahlreichen Varianten als Krankheit verstanden, die therapiert werden kann – und muss. Die Eindeutigkeit der Bipolarität der Geschlechter wird bei dieser Herangehensweise immer schon vorausgesetzt – obwohl es weder anatomisch, gonadal, hormonell, noch chromosomal möglich ist, die Menschheit in zwei tatsächlich klar voneinander abzugrenzende Kategorien einzuteilen (vgl. z. B. Fausto-Sterling 1995, Kessler 2000).
Wird nach der Geburt bei einem Kind eine der zur Intersexualität zählenden Diagnosen gestellt, beginnt ein leidvoller Weg. Zunächst wird eine geschlechtliche Zuordnung vorgenommen.

Gängige Praxis ist dabei, sich in ca. 90 % der Fälle für das weibliche Geschlecht zu entscheiden, da dieses bislang chirurgisch „leichter“ herzustellen ist (vgl. Chase 1998). Die operative Herstellung eindeutiger Genitalien ist von langjährigen Folgeuntersuchungen und Hormoneinnahmen begleitet und geht oft mit erheblichen sensorischen Einbußen am ehemals intakten Lustorgan einher.

Es wird also in Kauf genommen, dass viele Patientinnen/Patienten ihre sexuelle Empfindsamkeit einbüßen.

Den Eltern wird normalerweise dazu geraten, gegenüber dem Kind Stillschweigen über den wahren Charakter der operativen und sonstigen medizinischen Eingriffe zu bewahren.

Ab der Pubertät und im Erwachsenenalter auftretende körperliche oder sexuelle Probleme können so von den Betroffenen oft nur mit Mühe auf ihre eigentliche Ursache zurückgeführt werden.
Die medizinischen Unterlagen sind meist sehr schwer zugänglich. Da bislang keine Langzeitstudien über die Behandlungserfolge vorliegen und vor allem auch nicht wissenschaftlich untersucht wurde oder wird, wie nicht operierte, nicht zugewiesene Intersexuelle mit ihrem Leben zurechtkommen, basiert die Kategorisierung von Intersexualität als Krankheit zum großen Teil auf einer wissenschaftlich nicht fundierten, stillschweigenden Voraussetzung der Notwendigkeit der Zweigeschlechtlichkeit.

Das Besondere am Umgang mit Intersexuellen ist, dass hier somatisch nur zum Teil und psychisch überhaupt nicht revidierbare medizinische Eingriffe an Säuglingen, Kindern und Jugendlichen und damit an (noch) nicht Einwilligungsfähigen vorgenommen werden.

Das Ziel dieser Eingriffe ist die Herstellung eines geschlechtlich eindeutig einzuordnenden Körpers.
An diesen vereindeutigten Körper wird von psychiatrischer Seite die Erwartung der Herausbildung einer ebenfalls vereindeutigten Geschlechtsidentität geknüpft.

In jüngster Zeit werden immer mehr Fälle öffentlich, bei denen die körperliche Geschlechtszuweisung im Rahmen der bipolaren Ordnung Mann/Frau bei den Betroffenen Widerspruch erregt, sei es in Form der Ablehnung des jeweils zugewiesenen Geschlechts oder auch in der Zurückweisung der geschlechtlichen Zuordnung an sich. Eine Reihe von Intersexuellen bezeichnen die an ihnen vorgenommenen Eingriffe als Folter und kritisieren, dass es nach wie vor keine Langzeituntersuchungen gibt, welche die Notwendigkeit dieser Eingriffe wissenschaftlich fundieren bzw. gegebenenfalls eben auch widerlegen würden.

Auch die Kategorisierung von körperlichen Abweichungen vom Normalgeschlecht Mann oder Frau als Krankheit wird massiv kritisiert.

Weltweit setzen sich Organisationen und Interessensvertretungen von Intersexuellen für das Recht auf Selbstbestimmung, die Vermeidung chirurgischer Eingriffe an Minderjährigen, die Aufklärung der Eltern in alternativen Beratungsstellen und die kompetente psychologische Betreuung der Familienmitglieder ein (so z. B. in den USA die Intersex Society of North America ISNA und in Deutschland die Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie & Gynäkologie AGGPG).

In der Bundesrepublik Deutschland hat die aktuelle Debatte des Themas Intersexualität inzwischen auch die Medien und damit eine breitere Öffentlichkeit erreicht (siehe z. B. taz Nr. 5681, 16. Juni 1999; Magazinbeilage DIE ZEIT Nr. 5, 28. Januar 1999, DER SPIEGEL 18/2000, 1. Mai 2000), der Blog von Nikita Noemi Rothenbächer  http://trans-weib.blogspot.de/

In Kolumbien liegt ein bemerkenswertes Gerichtsurteil vor. Das Verfassungsgericht Kolumbiens hat zwei Entscheidungen erlassen, welche die Verfügungsgewalt von Eltern und Ärztinnen/Ärzten in Bezug auf operative Eingriffe an Kindern mit so genannten genitalen Missbildungen einschränken.
Geschlechtszuweisende Operationen werden als Verletzung der Menschenrechte betrachtet. Zugleich werden Intersexuelle als Minderheit anerkannt, die besonderen staatlichen Schutz gegen Diskriminierung verdient.

Weiterhin wird ein verfassungsmäßig garantiertes Recht des Individuums auf Selbstbestimmung der geschlechtlichen Identität festgelegt (siehe die Urteile SU-337/99, 12. Mai 1999, und T-551/99, 2. August 1999).

Das Gericht weist darauf hin, dass sich die zweigeschlechtliche Ordnung in vielen Gesellschaften in einer Übergangsphase befindet. Intersexuelle stellen nach Ansicht des Gerichts eine Herausforderung an pluralistische Gesellschaften dar, die bestimmte normative Anpassungen notwendig machen.

In der Bundesrepublik Deutschland findet die alltagspraktische Einteilung der Menschheit in zwei Geschlechter, männlich und weiblich, ihren auch heutzutage noch gültigen juristischen Ausdruck im Personenstandsgesetz aus dem Jahre 1875. Die Existenz von Intersexuellen ist im rechtlichen Rahmen der Bundesrepublik Deutschland nicht vorgesehen.

Doch nicht nur das Personenstandsgesetz sichert die geschlechtliche Einteilung der Bevölkerung in männlich und weiblich ab, Geschlecht ist ebenfalls ein identifikationsmerkmal der Person, das in fast allen offiziellen Dokumenten und Papieren auftaucht.
Nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung entspricht die Auffassung, wonach die Bipolarität oder Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als Mann und Frau keine „natürliche und unumstößliche Wahrheit“ sei, nicht der herrschenden Auffassung in der Sexualwissenschaft.

Die hier zitierten Literaturstellen geben eine Minderheitsmeinung wieder. Entgegen der hier vorgetragenen Auffassung ist in der ganz überwiegenden Zahl aller Menschen anatomisch, gonadal, hormonell und chromosomal, darüber hinaus aber auch funktionell eine eindeutige Unterscheidung des männlichen vom weiblichen Geschlecht möglich.

Von diesem Grundsatz aus muss Intersexualität als eine Abweichung von der Norm betrachtet werden, unter der die Betroffenen schon wegen ihres Andersseins leiden, die in der Regel eine normale Funktion in den Bereichen Sexualität und Fortpflanzung ausschließt und somit als krankhafte Störung anzusehen ist. Nach den vorliegenden Informationen tauchen in der psychiatrischen, psychotherapeutischen und sexualmedizinischen Behandlung sowie psychologischen Beratung nur in sehr geringer Zahl erwachsene Intersexuelle auf. Studien über Art, Umfang und Dauer solcher Behandlungen sind der Bundesregierung nicht bekannt.
Aus psychiatrischer und sexualmedizinischer Sicht ist die Vereindeutigung des Geschlechts bei Säuglingen und Kleinkindern jedenfalls empfehlenswert, um eine ungestörte psychische Identitätsentwicklung zu ermöglichen.

Auf Grund der primär abweichenden körperlichen Verhältnisse besteht bei dieser Personengruppe ein fundamentaler Unterschied zu dem angeführten Beispiel der Verstümmelung gesunder Genitalien in einigen Kulturen Afrikas.

Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass die Behandlung von Intersexuellen denselben Voraussetzungen wie alle therapeutischen Maßnahmen unterliegen.

So muss die medizinische Notwendigkeit ebenso vorliegen wie die rechtlich wirksame Einwilligung nach umfassender Aufklärung (informed consent). Die Diagnose, Behandlung und Rehabilitation muss nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen.

Therapeutische Maßnahmen müssen sich immer am Einzelfall orientieren. Dabei ist die Auswirkung einer Behandlung oder des Unterlassens einer Behandlung auf die psychische Gesundheit ein wesentliches Kriterium für die Entscheidungsfindung sowohl für die behandelnden Personen als auch für die Betroffenen selbst und die Eltern, die gegebenenfalls für ihre Kinder die Entscheidung treffen müssen. Über das Erfordernis, Leitlinien für die Behandlung von Intersexuellen zu erarbeiten kann die Bundesregierung zur Zeit keine Auskunft erteilen.

Dieses sollte von den Fachgesellschaften und der Bundesärztekammer unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Informationen über Intersexualität und ihre Behandlung geprüft werden.

Verbleibe mit freundlichen Grüßen
Nikita Noemi Rothenbächer



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