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Es gibt keinen anderen Job als den Strich
Menschenrechte In der Türkei werden Transsexuelle unter dem
Vorwurf des Exhibitionismus von der Polizei aufgegriffen und verklagt. Manche
werden misshandelt
Hülya ist eine Transsexuelle oder
"Travestie", wie sie sich selbst bezeichnet. Sie ist 34 und lebt seit
zwölf Jahren in Istanbul. Als Transsexuelle findet sie keine andere Arbeit
außer in der Prostitution. Im Juni 2003 wird Hülya von Polizisten auf der
Straße aufgegriffen und für mehrere Stunden zu einer Baustelle gebracht, die
die Polizisten offenbar vorab als Ort ausgewählt haben. Sie reißen ihr die
Haare aus, brechen ihr die Finger, treten ihr in den Leib. Sie schlagen auf ihr
Gesicht ein, bis es blutüberströmt ist und vergewaltigen sie. Man lässt sie
liegen, im Glauben sie sei tot.
Ein halbes Jahr nach diesen Ereignissen
begegnen wir Hülya zum ersten Mal im Büro ihrer Rechtsanwältin in Istanbul. Für
einen Dokumentarfilm suchen wir Kontakt zu Frauen, die von staatlichen
Sicherheitskräften gefoltert wurden. Über ein Jahr lang sehen wir uns viele
Male zu Gesprächen mit und ohne Kamera.
Hülya ist an der Schwarzmeerküste
aufgewachsen als ein mittleres von 10 Kindern. Die Eltern sind streng religiös.
Mit 13 geht der damalige Junge mit dem Namen Sherif weg von zuhause. Nach
Istanbul zur älteren Schwester, wohnt bei ihr, jobbt in den Kneipen. Mit 15
kann er in Antalya an der touristischen Mittelmeerküste beim älteren Bruder in
einem Restaurant arbeiten, er lernt die ersten Worte Deutsch: Was wünschen Sie?
Darf es noch etwas sein?
Das Restaurant geht Pleite. Sherif ist
mittlerweile 17 und zum ersten Mal sehr verliebt. Das bleibt für ihn bis heute
die größte Liebe. Doch bald zieht der vier Jahre ältere Camil nach Izmir, um zu
heiraten. Ein Wiedersehen ist nicht möglich.
Sherif geht zurück nach Istanbul und
nennt sich jetzt Hülya. Sie nimmt Hormone, bekommt runde Formen. Den Kontakt
zur Familie bricht sie ganz ab. Sie sagt, sie könne die Familie nie wieder
sehen, weil die sie eher umbringen würde als irgendwas zu verstehen, vor allem
der älteste Bruder. Vermisst sie die Familie?
Es beginnt ein neues Leben in Istanbul.
Sie lebt in Wohngemeinschaften mit mehreren Transsexuellen. Sie lernt Bauchtanz
und verdient ihr Geld in den Nachtclubs. Als das nicht mehr geht, arbeitet sie
als Hure. Damals auch schon auf der Straße, ohne Schutz? "Nein, damals
hatten wir Transvestierten gleich einen ganzen Straßenzug, nur für uns, wo wir
zusammen wohnten und arbeiteten. Bis die Polizei alle Häuser geräumt hat. Jetzt
gibt es keine Zuflucht mehr." Heute lebt Hülya in einem billigen Hotel in
Taksim, im europäischen Teil Istanbuls. Allein.
Sie ist sehr gutaussehend mit ihren
langen blondgefärbten Haaren, streng nach hinten gebunden. Bist du Russin? wird
sie oft gefragt wegen ihrer breiten Backenknochen und ist dann ganz stolz. Wenn
sie geschminkt ist und hergerichtet, sei sie "beautiful", erklärt sie
uns. Man würde nicht mehr sehen, dass sie ein Junge war.
Das Geld für eine Operation hatte sie
bisher nicht. Hätte sie es gemacht, wenn das Geld vorhanden wäre? "May be,
cut it", sagt sie mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland
und macht mit der Handkante eine scharfe, schnelle Bewegung auf Hüfthöhe.
Nachts laufen wir zusammen mit Hülya
über eine Hauptstraße, nahe dem Viertel, wo das fortschrittliche, emanzipierte
Leben spielt, die netten Lokale sich befinden, der Menschenrechtsverein, dem
Viertel, wo wenige Wochen später die Anschläge auf die britische Botschaft und
die jüdische Synagoge stattfinden werden. Jenseits dieser Straße ist eine
andere Welt. Die Gosse, das Areal der Underdogs. Die Beleuchtung ist spärlich.
Es riecht nach Urin. "Dangerous people, attention", warnt Hülya immer
wieder eindringlich. Eigentlich müssten wir verschreckt sein. Taschen und
Rucksack fest im Griff fühlen wir aber eher Nähe als Furcht. Sie, die
Ortskundige, wird uns schützen. Tänzelt auf ihren Absatzsandalen über das
unebene Pflaster und grüßt hin und wieder einige gutaussehende Damen, die am
Rande stehen und mit tiefen, dunklen Stimmen antworten. Kolleginnen,
Transsexuelle. Sie arbeiten gerade. Auch hier ist Strich. Auf der Suche nach
einem Treffpunkt von Transsexuellen schlängeln wir uns vorbei an stinkenden
Pfützen, hinein in einen Hauseingang mit enger Wendeltreppe, viele Stockwerke
hoch und wieder runter: Es war der falsche Aufgang. Beim nächsten Mal klappt
es. Im 4. Stock breitet sich geradezu eine Filmszene vor uns aus: Auf 20
Quadratmetern drängeln sich rund 15 Menschen, viele Haare, Wimpern, Perücken,
Pedi-, Maniküre. Ein Friseursalon.
Wir sitzen eine Weile auf den
Wartestühlen. Hülya dreht eine Begrüßungsrunde, kommt zurück und erklärt uns
mit wenigem Englisch die einzelnen Leute. Viel müssen wir nicht verstehen. Es
lässt sich selbst sehen mit den vorhandenen Klischees im Kopf als erste
Wahrnehmungsmuster: das dickliche Besitzerehepaar im Hintergrund an der Kasse,
die Karikatur eines gealterten, kontaktsuchenden Schwulen mit Morbus Bechterew,
der gertenschlanke, glatte Transvestitenstar kurz vor Vollendung des po-langen,
hellblonden Haararrangements. Der Friseurlehrling bearbeitet mit nicht enden
wollenden Bürstenstrichen einen fast haarlosen, fleischfarbenen Musterkopf. Auf
einmal fallen uns in einigen Gesichtern strichförmige, genähte Narben auf -
zwischen abrasierten Augenbrauen und darüber dick gezogenem Brauenstrich. Weiße
Striche an den Lippen, an den Wangen. Ich denke an Berichte über Opfer billiger
Schönheitsoperationen. Aber später erfahren wir, dass die Narben alle von
Messer-Verletzungen herrühren durch Freier und Polizei.
Wir
sitzen da und hoffen, uns nicht wie Voyeurinnen oder Soziologinnen zu
verhalten. Scherze und Wortgeplänkel mit Hülya. Immer, wenn die Sprachbarriere
unüberwindlich scheint, der Gesprächsfluss ganz zu stocken droht, wir uns nur
noch mit weiten Augen ansehen, sagen Hülya und wir schnell und kurz:
"Trans-later" (gemeint: Das klären wir nicht jetzt, sondern später,
mit der Übersetzerin), bis die gemeinsam entwickelte Brücke zum running gag wird.
Hülya sagt, sie habe Angst durch die
Straßen zu gehen, auch bei Tag. Die Leute schauen sie blöd an, machen sie blöd
an. Seit dem erlittenen Angriff ist es für sie unerträglich. Sie will weg.
Unbedingt. Und so schnell wie möglich.
Weg von weiteren polizeilichen
Übergriffen. Weg von den türkischen Männern. Selbst ihr Istanbuler Ex-Lebensgefährte
hat sie geschlagen. "Am Ende bekommen die Männer (Freier) stets so eine
Aggression, dass ich keine echte Frau bin. Obwohl ich das immer von Anfang an
klar anspreche."
Seit sie zwölf ist, hat sie den Wunsch
nach einem starken Mann, an den sie sich anlehnen kann, der ihr Schutz gibt und
zärtlich ist. "Hast du es schon einmal erlebt?" fragt unsere
Übersetzerin spontan nach. - "Nein".
Wir sind in einer Kellerkneipe mit hard
core Musik. Das Bier kostet hier nur wenig. Hülya ist unermüdlich im Erforschen
der günstigsten Preise. Es ist reizvoll zuzusehen, wie sie sich durchfragt, mit
ihren Händen Drehbewegungen macht und charmant einen schönen Abend wünscht,
wenn sie die Begegnung beendet. Eigentlich sind die befragten Männer immer
freundlich zu ihr. Nur im Vorübergehen auf der Straße, in der Fußgängerzone
bemerken wir auch abfällige Verhaltensweisen. Umdrehen, Starren, Zischeln.
Worte, die wir nicht verstehen, aber die Gesichter dazu machen Nachfragen
überflüssig. Seit ihr die Misshandlung widerfahren ist, kann Hülya nicht mehr
arbeiten, aus Angst vor neuer Gewalt. Aber sie hat keine Wahl. Abgesehen von
ihrer Gage für eine kleine Rolle in einem Spielfilm an der Seite von Bürol Ünel
gibt es für sie keinen anderen Job als den Strich.
Seit einem Jahr versucht Hülya zusammen
mit ihrer Rechtsanwältin Eren Keskin ein Visum für eine Einreise nach
Deutschland zu bekommen. Im Normalfall dauert das zwei Wochen, längstens zwei
Monate. Aber die Vorgaben des wachsenden und sich festigenden Europa scheinen
ihr eine legale Lösung zu verwehren, ohne Nachweis von ökonomisch abgesicherten
Verhältnissen bleibt die Türe zu. Hülya empfindet ihre Lage aussichtslos.
"Wenn ich hier bleibe, krepiere ich."
Anfang November 2004 sehen wir uns das
letzte Mal. Hülya ist kämpferisch. Wir begleiten sie zum Gericht, wo sie gegen
eine hohe Geldstrafe wegen "Exhibitionismus" klagt. Es ist das erste
exemplarische Verfahren einer Kampagne gegen das zunehmend massive Vorgehen des
Staates: Transsexuelle auf der Straße aufzugreifen und mit dem Vorwurf des
Exhibitionismus, des Verstoßes gegen die Kleiderordnung beträchtliche
Geldstrafen zu verhängen, die bezwecken, die Transsexuellen von den Straßen und
aus der Stadt zu vertreiben. Unterstützt wird Hülya dabei von Lambda, dem
Verein von Schwulen und Lesben in Istanbul und ihrer Rechtsanwältin. Ihre
Argumentation vor Gericht ist politisch: "Es geht hier nicht um
Exhibitionismus, sondern um Vorurteile und die Diskriminierung eines Menschen
mit queerer Identität. Und dies verstößt gegen internationale Kontrakte, die
die Türkei unterzeichnet hat." Der Richter vertagt die Verhandlung.
Wenige Wochen später wird Hülya auf der
Bagdadstraße in Kadiköy, auf der asiatischen Seite Istanbuls von vier
Polizisten mit Pfeffergas besprüht und zusammengeschlagen. Die Arme gebrochen.
Der Körper, übersät mit Blutergüssen.
Im Ümraniye-Gefängnis, auf der
asiatischen Seite, sitzt sie mit zwei eingegipsten Armen seither. Einzelhaft,
das ist üblich bei Transsexuellen. Die Anklage lautet Widerstand gegen die
Staatsgewalt. Falls es ein Urteil bis zum April gäbe, könnte das eine
Geldstrafe oder auch sechs Monate Gefängnis bedeuten. Wird nach dem 1. April
entschieden, mag das Urteil milder ausfallen, da die neue Rechtssprechung
liberaler ist, vermutet ihre Anwältin Eren Keskin und berichtet: "Ihr
psychischer Zustand ist erstaunlich gut. Sie hat nichts unterschrieben und ist
stolz darauf, sich nichts gefallen zu lassen".
Hülya hat Strafanzeige gestellt wegen
Menschenrechtsverletzung durch Folter und Diskriminierung durch verbale sexuelle
Angriffe. Mehrere Haftprüfungstermine blieben bisher erfolglos. Der letzte
Termin am 31. 12. 2004 blieb ungenutzt, weil die Gefängnisleitung es angeblich
vergessen hatte, Hülya zum Gericht zu bringen. Es wäre so viel zu tun gewesen
an diesem Tag.
Luxuria: Vom Strich ins
Parlament
Vom Tellerwäsche zum Millionär auf Italienisch: Die
Transsexuelle Vladimir Luxuria aus dem armen Süden zieht ins neue Parlament.
Gegen sie wirkt selbst Deutschlands Vorzeigetranse Olivia
Jones blass: Vladimir Luxuria hat heute als erste "übergeschlechtliche
Person" (Luxuria über Luxuria) den Einzug ins italienische Parlament
geschafft. Sie ist Spitzenkandidatin der kommunistischen Wahlliste in der
Hauptstadt Rom. Die Rifondazione Communista will allerdings - anders als die
Linkspartei.PDS im Bund - keine Fundamentalopposition sein: Sie ist Teil des
Mitte-Links-Bündnisses unter Führung von Romano Prodi. Nach ersten
Hochrechnungen erhält Luxurias Partei fünf bis sieben Prozent der Stimmen - und
wird wahrscheinlich einiges zum Machtwechsel beitragen. Denn Prodis Bündnis
liegt knapp vor Berlusconi.
Luxuria ist inzwischen eine Ikone der Schwulenbewegung in
Italien. Sie bezeichnet sich selbst als weder Frau noch Mann - nur als
"eine Person auf der Suche nach einem Ehemann". 1994 hat sie den ersten
CSD in Rom organisiert und sich lautstark für die Gleichstellung von Schwulen,
Lesben und Transsexuellen eingesetzt. Ihr Leben begann aber unscheinbar in der
Region Apulien im armen Südostitalien. 1965 als Vladimiro Guagagno geboren,
fühlte sie sich bereits als Jugendlicher in ihrem (seinem) Körper nicht ganz
wohl. Außerdem war sie sowohl zu Männern und zu Frauen hingezogen - ein kaum
lösbarer Konflikt in der tiefkatholischen Provinz. Also entschied sie sich, den
traditionellen Weg zu gehen - den ins Kloster. Allerdings hielt sie das nicht
lange durch. Als 20-Jährige brach sie mit der Vergangenheit, ging in den
Sündenpfuhl Rom und tobte sich dort aus. Sie nahm Hormone und illegale Drogen
und machte sich als Drag-Queen in Schwulenclubs einen Namen. Geld verdiente sie
unter anderem als Prostituierte. Untätig war sie während dieser Sturm- und
Drangphase nicht: Sie studierte Literaturwissenschaften und schaffte ihr
Diplom. Als Aktivistin für Homo-Rechte erlangte sie bald einen hohen
Bekanntheitsgrad.
In die Politik schaffte sie den Seiteneinstieg, weil sie -
und das unterscheidet sie von Olivia Jones - wirklich ein Programm hat. Auch
darum hat ihr Parteichef Fausto Bertinotti den ersten Listenplatz in Rom
geschenkt. "Ich will bei der Schaffung einer multiethnischen,
multireligiösen und multisexuellen Gesellschaft mithelfen, und die Vielfalt als
Wert und Möglichkeit, nicht als Bedrohung durchsetzen", so umschreibt sie
ihre Agenda. Neben sozialen Themen und der Legalisierung von Drogen stehen vor
allem Homo-Rechte auf dem Plan. Kommt es wirklich zum Regierungswechsel, hat
sie gute Chance, viele ihrer Vorhaben auch umzusetzen. Immerhin hat der
Mitte-Links-Chef Romano Prodi bereits im Wahlkampf angekündigt, Eingetragene
Partnerschaften einführen zu wollen.
"Manche fühlen sich angepisst, weil ich als erste
transsexuelle Kandidatin ins Parlament kommen werde", so Luxuria zu
Reportern. "Ich sage, dass das Parlament dann ein Ort sein wird, der alle
Formen der Gesellschaft repräsentiert - sogar Transsexuelle." Im Wahlkampf
musste sich Luxuria - die dort stets betont dezent auftrat - so einiges
anhören: So sagte ihr die faschistische Europaabgeordnete Alessandra Mussolini
in einer TV-Show: "Es ist besser, Faschist zu sein, als eine
Schwuchtel" (queer.de berichtete). "Ich habe ihr nur geantwortet, sie
sei ungehobelt", so Luxuria. "Eine moderate Sprache empfinde ich als
politische Tugend". Mussolinis Partei erreichte ersten Hochrechnungen
zufolge gerade einmal einen Prozent.
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