Mittwoch, 24. Februar 2016

Mein Freund Gerda


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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2016

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Mein Freund Gerda

Ein Kind kommt mit Hoden und Gebärmutter zur Welt. Die Ärzte sagen, sie könnten es entweder zum Mädchen oder zum Jungen operieren. Die Eltern wollen das nicht. Ihr Kind ist beides.
Als Gerda geboren wurde, ließ das deutsche Recht den Eltern eine Woche, um Fakten zu schaffen. Die Standesbeamten wollten es ganz eindeutig wissen, fragten nach Ort und Zeit der Geburt, dem Namen des Kindes* und nach dem Geschlecht. „Weiblich“ ließen die Eltern damals eintragen. Fast neun Jahre ist das her. Dabei waren sie sich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht sicher, ob sie damit überhaupt richtig lagen.

„Ein Junge“, hatte die Hebamme verkündet, als die Mutter nach dem Kaiserschnitt aus der Narkose erwachte. „Wahrscheinlich ein Mädchen“, sagte der Arzt zu ihrem Mann.

Kein Junge, kein Mädchen – sondern beides
Später äußerten sich die Mediziner etwas genauer: Gerda ist kein Junge, kein Mädchen, sondern beides. Gerda hat einen männlichen XY-Chromosomensatz, aber der Penis ist nur schwach ausgebildet, man kann genauso gut vergrößerte Klitoris dazu sagen. Die Hoden befanden sich nach der Geburt im Bauchraum, einer ist nicht vollständig entwickelt, der zweite nur als Gewebestrang ausgebildet. Das Kind hat außerdem eine Gebärmutter und eine Vagina.

„Gonadendysgenesie“ diagnostizierten die Ärzte. Dabei handelt es sich um eine der zahlreichen Varianten von Intersexualität. Gerda ist ein Kind, das sich keinem Geschlecht eindeutig zuordnen lässt. Früher hätte man Zwitter gesagt.

Die Eltern hatten zunächst ganz andere Sorgen. Gerda war drei Monate zu früh auf die Welt gekommen, sie lag noch im Brutkasten, als die Ärzte mit betretenen Mienen in den Raum traten und sagten, Gerda sei intersexuell. „Ehrlich gesagt: Die 920 Gramm waren der größere Schock“, sagt Anna Pietersen, die Mutter. Die 920 Gramm verschafften den Eltern allerdings Zeit, sich mit der Intersexualität ihres Kindes auseinanderzusetzen.

Chirurgen fiel es leichter, eine Vagina zu erschaffen
Vor fast einem Jahrzehnt, als Gerda auf die Welt kam, hätten sie wenig über Intersexualität gewusst, sagt die Mutter. Es gab noch keinen „Tatort“, der das Thema aufgriff, keine Debatten über Sportlerinnen wie die Sprinterin Caster Semenya, die laut Chromosomensatz eigentlich ein Sprinter ist. „Middlesex“, der Roman des Amerikaners Jeffrey Eugenides, der später zum Bestseller wurde, war gerade erst erschienen. Und der Ethikrat des Deutschen Bundestages, der viele Facetten von Intersexualität aufarbeiten wollte, trat zum ersten Mal im Jahr 2010 zusammen.

Zufällig kannte sich eine Freundin der Mutter ein wenig mit dem Thema aus. „Sie hat uns geraten, behutsam vorzugehen - und vor den Ärzten auf der Hut zu sein.“ Woher ihr Unbehagen rührte, erfuhren die Pietersens im Gespräch mit erwachsenen Intersexuellen, die sie über die Elternselbsthilfegruppe der „XY-Frauen“ kennenlernten. Sie gehört zum „Dachverband Intersexuelle Menschen“. Viele waren durch die Hölle gegangen, litten an den Folgen frühzeitiger Operationen und Hormonbehandlungen, die sie wahlweise zum Jungen, meistens zum Mädchen machen sollten - weil es Chirurgen leichter fiel, eine Vagina als einen Penis zu erschaffen.
Intersexualität ist kein Tabu-Thema mehr
Die Pietersens hörten von Zwangskastrationen und Sterilisationen, von Eierstöcken oder Hoden, die den Patienten herausgeschnitten wurden, von Kindern, die sich irgendwie als Jungen fühlten, aber in rosa Kleidchen gesteckt wurden. Sie hörten von Kindern, die Gruppen neugieriger Ärzte immer wieder nackt vorgeführt wurden, und von Eltern, die ihren Kindern nicht erzählten, was mit ihnen war - bis sie als Jugendliche zufällig, zum Beispiel nach einer Blinddarm-OP, erfuhren: „Du bist keine Frau.“ Oder: „Du bist gar kein Mann.“

Jahrzehntelang war Intersexualität mit einem Tabu belegt. Inzwischen kann man die Leidensgeschichten nachlesen: in zahlreichen Berichten von Betroffenen, in Internetforen von Selbsthilfegruppen oder in der Stellungnahme des Ethikrates. Man kann auch Hertha Richter-Appelt fragen, stellvertretende Direktorin des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf. „Das Vorgehen der Medizin hat sich aus heutiger Perspektive als falsch erwiesen“, sagt sie. Doch man müsse es aus dem Kontext der Zeit verstehen.

Großes Leid durch Streben nach Eindeutigkeit
Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts waren Mediziner und Psychologen der Auffassung, ein Kind müsse dringend und am besten stillschweigend an ein Geschlecht angepasst werden, um sich „normal“ zu entwickeln. Richter-Appelt sagt, dass dieses Streben nach Eindeutigkeit und Normalisierung vielen Patienten enormes körperliches und seelisches Leid beschert habe: „Zum Beispiel wurde vielen Kindern sehr früh eine Vagina eingesetzt, damit sie später einmal heterosexuellen Geschlechtsverkehr haben können.“

Weil das künstliche Organ aber schrumpft, wenn es nicht regelmäßig benutzt wird, muss es immer wieder geweitet werden. Meist haben die Eltern den Kindern jahrelang einen Stab eingeführt. „Bougieren“ heißt das im Fachjargon. Der gewünschte Effekt, nämlich eine Frau zu schaffen, die den Sex mit Männern genießen kann, trat nach diesen Erfahrungen meistens nicht ein: „Studienteilnehmer erzählten, das Schlimmste sei für sie die Penetration.“

Die Eltern lassen Gerda und ihren Geschlechtern freien Lauf
Als Gerda kräftig genug war, die Klinik zu verlassen, und die Eltern sie mit nach Hause nahmen, war den Pietersens klar: Prozeduren wie diese wollen wir unserem Kind unbedingt ersparen. Sofern kein medizinischer Notfall vorliegt, sind Mediziner inzwischen zu Zurückhaltung bei geschlechtsverändernden Eingriffen aufgerufen, die nicht rückgängig zu machen sind. Dennoch machte der Arzt in der Spezialklinik von Rotterdam den Pietersens ein verlockendes Angebot: „Wir haben alle Möglichkeiten: Wir können Ihnen einen Jungen oder ein Mädchen machen.“

Die Pietersens haben es ausgeschlagen. Und sich entschieden, abzuwarten. Das fiel nicht immer leicht. Bei einer Gonadendysgenesie besteht zum Beispiel ein erhöhtes Risiko, dass sich an den Gonaden Tumore bilden. Die Pietersens mussten also abwägen: Entartungsrisiko gegen ein Leben mit Medikamenten und die Festlegung ihres Kindes auf das weibliche Geschlecht. Sie wählten das Risiko, haben aber zugestimmt, dass die Ärzte Gerdas Hoden aus dem Bauchraum in die Leistengegend verlegen und fixieren. „In der Leiste haben wir das Tumorrisiko etwas besser im Griff“, sagt Anna Pietersen. Einmal im Jahr hat Gerda einen Termin zum Ultraschall, jeden Monat kontrolliert ihre Mutter, ob sich eine Veränderung ertasten lässt. Ansonsten lassen die Eltern Gerda und ihren Geschlechtern freien Lauf.
Mit dem Anderssein hausieren gegangen
„Du bist beides“, haben sie Gerda gesagt. „Du kannst dir dein Geschlecht später aussuchen.“ Die Pietersens wissen, dass sie ein Wagnis eingehen, das vielen Eltern, die sie aus der Selbsthilfegruppe kennen, zu groß ist. Manche entscheiden sich zu medizinischen Behandlungen, die ihre Kinder mehr zum Mädchen oder zum Jungen machen. Anna Pietersen hat dafür Verständnis: „Wir leben in einer Gesellschaft, die nur weiblich und männlich kennt.“ Eine andere Mutter erzählt: „Als ich mit dem Kinderwagen spazieren ging, kamen die Leute und fragten zuallererst: ,Was ist es denn: Mädchen oder Junge?‘ “ Sie habe geantwortet: „Ich kann es nicht sagen. Aber habt keine Scheu, mich zu fragen.“

Den Pietersens hatte eine Psychologin gesagt: „Wenn Sie Ihr Kind offen erziehen, wird es immer anders sein. Und Kinder wollen nicht anders sein.“ Bislang haben die Pietersens andere Erfahrungen gemacht: Gerda rede sogar sehr gerne darüber, dass sie beides sei, als wäre sie stolz auf ihr Anderssein. Im Alter von sechs Jahren, erzählt die Mutter, sei das Kind gewissermaßen mit seiner Intersexualität hausieren gegangen. „Du musst ja nicht unbedingt jedem Wildfremden davon erzählen“, habe sie ihm damals gesagt.

Entscheidung für die Jungen-Umkleide
Gerda hat lange blonde Haare und mag keine Kleider. Einen rosa Pulli, sagt ihre Mutter, trage sie aber ab und zu ganz gern. Früher liebte sie alles, was glitzert. „Aber das tat ihr großer Bruder auch, als er jünger war“, erinnert sich die Mutter. Er wollte eine Kette tragen. Ihm habe sie damals gesagt: „Nee, das ist doch eher was für Mädchen.“ Heute sei ihr klar, dass man seine Kinder ganz subtil zu Mädchen und Jungen erziehe.

Die Pietersens haben immer wieder gesagt bekommen, wie grausam Kinder zu Kindern sein können, die von der Norm abweichen. „Ich erlebe Gerdas Schulkameraden und Freunde aber als sehr verständnisvoll“, sagt Anna Pietersen. Momentan spielt Gerda lieber mit Jungen, und als sie vor der Wahl stand, wo sie sich vor dem Sportunterricht umziehen wolle, habe sich die Achtjährige für die Umkleidekabinen der Jungs entschieden. Einer der besten Freunde ihres Kindes, erzählt Anna Pietersen und muss lachen, sage „Gerda“ und spreche dann ganz selbstverständlich weiter von „ihm“.

Pubertät: Gerda wird wohl vermännlichen
Natürlich liegt die kritische Zeit noch vor ihnen. Wenn Gerda auf die höhere Schule wechselt und dort auf Kinder trifft, die von Intersexualität noch nie etwas gehört haben. Wenn die Hormone ins Spiel kommen, kann sich ohnehin alles ändern. Dann geht es vermutlich nicht bloß um pinke Accessoires. Die Ärzte haben Gerdas Gonade getestet: Sie wird in der Pubertät im durchschnittlichen Maße männliches Testosteron produzieren. Gerda wird also vermännlichen, obwohl die Geburtsurkunde von einer weiblichen Person kündet.

Vielleicht wird Gerda ihren Eltern später Vorwürfe machen, warum man sie nicht schon früh zum Jungen gemacht habe. Oder doch zum Mädchen. Anna Pietersen weiß um das Risiko. „Aber es ist doch so: Wir hätten bei allen Entscheidungen wahrscheinlich immer fünfzig Prozent danebengelegen.“ Man habe als Eltern doch ohnehin keine Garantie, dass man alles richtig mache.


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