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Nikita Noemi Rothenbächer 2016
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Ein neues Gesetz reicht nicht aus!
Für die
Gleichberechtigung von Intersexuellen muss mehr passieren.
Viele Ärzte sehen in
Intersexualität immer noch eine Störung, die behandelt werden muss. Betroffene
sehen das ganz anders.
Der Begriff
"Zwitter" wird als diskriminierend empfunden
Bei intersexuellen
Menschen sind nicht alle geschlechtsbestimmenden Merkmale wie Chromosomen,
Hormone, Keimdrüsen oder äußere Geschlechtsorgane eindeutig einem Geschlecht
zuzuordnen. Bei ihnen kommen gleichzeitig - vollständig oder teilweise -
Geschlechtsmerkmale vor, die sich typischerweise entweder bei Frauen oder bei
Männern finden. Vor der Einführung des Begriffs "Intersexuelle" war
meist von "Zwittern" die Rede. Diese Bezeichnung kann jedoch
diskriminierenden Charakter haben.
Experten schätzen,
dass auf etwa 1500 bis 2000 Geburten ein Fall von Intersexualität kommt.
Vertreter von Betroffenen schätzen die Zahl höher ein und verweisen unter
anderem auf die großen Probleme, das Phänomen physisch wie hormonell klar zu
fassen. Intersexuellen-Gruppen fordern seit längerem entschiedenere Maßnahmen,
um Betroffene gegen Diskriminierung zu schützen und ihren Status rechtlich wie
gesellschaftlich abzusichern.
Intersexualität als
eigenständige Kategorie
In mehreren außereuropäischen Ländern
wird Intersexualität inzwischen rechtlich als eine eigenständige Kategorie
neben dem männlichen und weiblichen Geschlecht anerkannt. Dazu zählt unter
anderem auch Australien. Mit der Neuregelung in Deutschland wird dagegen kein
drittes Geschlecht geschaffen, wie das Innenministerium betont. Eine derartige
Kategorie lasse sich in das deutsche Rechtsystem aus prinzipiellen Gründen
nicht einfügen.
Änderung
des Personenstandsgesetzes
Am 1.
November 2013 tritt das Personenstandsgesetz in Deutschland in Kraft, das um
folgenden Absatz ergänzt wurde: "Kann das Kind weder dem weiblichen noch
dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne
eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen."
Wenn sich
das Geschlecht eines Neugeborenen nicht eindeutig bestimmen lässt, muss der
Standesbeamte dieses im amtlichen Geburtenregister künftig offen lassen. Das
sieht eine Änderung des Personenstandsgesetzes vor, die zum 1. November in
Kraft tritt. Die Neuregelung bezieht sich auf Fälle von Intersexualität.
Kritiker bezweifeln, dass die Option, das Geschlecht offen zu lassen,
intersexuellen Menschen wirklich hilft.
im
Vorfeld war die Regelung wegen ethischer Bedenken äußerst umstritten, eine
Lösung zu finden war aus rechtlichen Gründen kompliziert. Mit der Änderung soll
der Druck von den Eltern genommen werden, sich unmittelbar nach der Geburt auf
ein Geschlecht festzulegen, ohne die weitere Entwicklung des Kindes abwarten zu
können. Bislang waren Eltern verpflichtet, innerhalb einer Woche die Geburt
ihres Kindes samt Namen und Geschlecht beim Standesamt zu melden. Andernfalls
drohte eine Geldstrafe. Die Neuregelung geht auf Anregungen des Deutschen
Ethikrats zurück, der Regierung und Parlament in komplizierten ethischen Fragen
berät.
Bei
Geschlecht muss "ungeklärt" eingetragen werden
Die
Möglichkeit, das Geschlecht eines Kindes als "ungeklärt" im Register
vermerken zu lassen, bestand dem Ministerium zufolge auch bisher schon. In der
Praxis sei diese Option aber nur selten angewandt worden, weil Eltern und Ärzte
sich in der Regel auf eine Zuordnung geeinigt hätten. Nun ist es aber
verpflichtend, dass diese offen bleibt, wenn sich das Geschlecht nicht
zweifelsfrei klären lässt. Es wird dann in die entsprechende Zeile gar nichts
vermerkt. Die Betroffenen können dann später jederzeit über ihr Geschlecht
entscheiden.
Ethikrat
argumentiert mit Persönlichkeitsrecht
Der
Ethikrat vertrat in seiner im Februar 2012 veröffentlichten Stellungnahme die
Auffassung, dass ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das
Persönlichkeitsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung vorliege, wenn Menschen
gezwungen würden, sich im Personenstandsregister als "weiblich" oder
"männlich" einzutragen.
Bis
heute komme es vor, dass von der typischen Erscheinungsform abweichende
Geschlechtsausprägungen als medizinisch behandlungsbedürftig angesehen würden.
Die Folge sind geschlechtsangleichende Operationen. "Zahlreiche betroffene
Menschen, die in ihrer Kindheit einem 'normalisierenden' Eingriff unterzogen
wurden, empfanden ihn später als verstümmelnd und hätten ihm als Erwachsene nie
zugestimmt", teilt der Ethikrat mit.
Ich habe meinen Körper verlassen, um andere zu bewohnen –
und das alles geschah, bevor ich sechzehn wurde. Nun aber, mit einundvierzig,
spüre ich, dass mir noch eine weitere Geburt bevorsteht." In Jeffrey
Eugenides' Roman "Middlesex" erspürt die Hauptfigur Calliope, wofür
Deutschland bislang noch kein Gefühl entwickelt hat. Entwickeln konnte, muss
man eigentlich sagen. Doch das soll sich ändern. Im Deutschen Bundestag wurde
am 31. Januar ein Gesetz verabschiedet, das Eltern und Ärzten eines Babys mit
nicht eindeutigem Geschlecht die Entscheidung abnehmen soll, das Kind als
Mädchen oder Junge im Geburtsregister eintragen zu lassen.
Das geänderte Personenstandsgesetz ist heute, am 1.
November, Inkrafttreten und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass etwa jedes
4500ste in Deutschland geborene Kind nicht dem weiblichen oder männlichen
Geschlecht zuzuordnen ist. Intersexuelle Kinder haben beide Anlagen und sind
nicht eindeutig Mädchen oder Junge.
Noch immer wird im Babyalter operiert
Bis vor nicht allzu langer Zeit empfahlen Ärzte den Eltern
massiv, ihr Kind einem der beiden Geschlechter zuzuweisen, es operieren zu
lassen und ganz nach dem klassischen Junge-Mädchen-Profil zu erziehen. Bis in
die 1990er Jahre galt in den meisten Fällen bei OPs das Prinzip der besseren
Machbarkeit: "It's easier to make a hole than to build a pole" (Es
ist einfacher ein Loch zu graben, als einen Pfahl zu errichten), also wurden
fast alle intersexuell geborenen Kinder zu Mädchen. Dass überhaupt operiert
werden musste, stand nur selten zur Debatte. Lediglich wenn Eltern sich
vehement gegen alle ärztlichen Ratschläge durchsetzen, blieb das Kind
unversehrt, in mehr als drei Vierteln war das nicht der Fall.
Im September 2012 wandte sich eine Gruppe Betroffener mit
einem offenen Brief ans Hamburger Universitätsklinikum und forderte eine
umfassende Aufarbeitung. Ärztliche Empfehlungen aus den 1950er bis 1970er
Jahren, wie sie die Schweizer Gruppe aus ihren Unterlagen zitiert, klingen
brutal: "Nach Möglichkeit soll die Operation schon vor dem vierten
Lebensjahr durchgeführt werden. Bei leichteren Fällen ist lediglich die
Entfernung der Klitoris erforderlich. Das Organ soll dabei exstirpiert
[vollständig entfernt, Anm. d. Red.] und nicht amputiert werden, da sich sonst
lästige Erektionen des zurückgebliebenen Stumpfes einstellen können."
Auch heute noch werden zwischengeschlechtliche Kinder
operiert, oft wird ein erhöhtes Krebsrisiko als Grund angeführt, das etwa bei
innenliegenden Hoden besteht. Dass es sich um einen statistischen Wert handelt
und das Entartungsrisiko deutlich geringer als früher angenommen ist, hindert
die meisten Ärzte nicht an einer sogenannten Gonadektomie, einer Entfernung der
hormonbildenden Keimdrüsen. Für die Betroffenen bedeutet das, dass sie ihr
Leben lang Medikamente nehmen müssen, um die Hormone zu ersetzen. Und natürlich
Unfruchtbarkeit.
Leben zwischen den Geschlechtern
Vom 2. Mai bis 19. Juni 2011 führte der Deutsche Ethikrat
eine Online-Umfrage unter betroffenen Menschen zum Thema Intersexualität durch.
Dabei kam auch heraus, was den Befragten besonders fehlt: "Am häufigsten
werden öffentliche Aufklärung und Enttabuisierung - insbesondere in Schulen, an
Universitäten, bei Medizinern und Psychologen - gefordert." Zum
Personenstandsrechts kam es zu folgenden Ergebnissen: "Im Hinblick auf das
Personenstandsrecht fordern 43 Prozent eine Beibehaltung der Unterscheidung
männlich/weiblich. 36 Prozent plädieren für eine andere Lösung und 22 Prozent
fordern die Ergänzung um eine dritte Kategorie."
Der Ethikrat empfahl dem Bundestag die Änderung des
Personenstandsgesetzes. Nun kann dies als rechtliche Grundlage für weitere
Aufklärung dienen. Hertha Richter-Appelt, stellvertretende Direktorin des
Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Hamburger UKE, hat
auch den Ethikrat beraten. 2010 sagte sie in einem Interview mit der
"Brigitte": "Das psychosoziale Geschlecht sollten Eltern auf
keinen Fall offen lassen." Neben der Frage, wie man bei einem Baby oder
Kleinkind das psychosoziale Geschlecht erkennt, stellt sich auch die Frage:
Können Eltern ein Kind nicht geschlechtsneutral erziehen? Zu stern.de sagt Frau
Richter-Appelt: "Ich kann mir wenige Eltern vorstellen, die das von ihrer
eigenen psychischen Struktur her ohne größere Probleme schaffen. Also es ohne
Unterstützung schaffen, in den Kindergarten zu gehen und zu sagen 'Ich möchte
das Kind weder als Mädchen noch als Jungen erziehen. Können Sie bitte
entsprechend mit dem Kind umgehen?' Da müssen sie auf vernünftige
Kindergärtnerinnen stoßen. Dann kommt das Kind in die Schule, dann muss man mit
den Lehrern reden und so weiter. Ich glaube, es ist für ein Kind einfacher,
wenn sie sagen, wir erziehen das Kind mehr oder minder als Mädchen, aber sehr
tolerant. Früher hat man Kinder so erzogen, dass man einem dem weiblichen
Geschlecht zugewiesenen Kind, wenn es angefangen hat mit Autos zu spielen, die
Autos weggenommen hat. Und analog hat man das mit Jungs gemacht. Das ist
natürlich Wahnsinn, da pressen Sie die Kinder in irgendwas rein, wo sie sich
überhaupt nicht entwickeln können. Und unsere Erfahrung aus der Studie ist:
Intersexuelle Menschen erleben sich oft dazwischen."
Aufklärung muss her!
Doch Eltern, die sich das zutrauen, gibt es heutzutage
durchaus, das weiß Richter-Appelt, einige kennt sie persönlich: "Ich sage
nicht, dass es nicht geht. Kinder mobben relativ wenig, was Geschlecht angeht.
Das war immer die Angst von Ärzten, wenn das Kind in die Sauna geht oder in die
Schule kommt, werde es gehänselt. Ich glaube aber, das sind sehr viel mehr die
Ängste der Erwachsenen", berichtet sie.
Und da hilft nur Aufklärung, für die Akzeptanz einer mehr
als zweigeschlechtlichen Welt reicht das ergänzte Gesetz allein nicht aus. Dass
wir auch ein sprachliches Problem haben mit einem "unbestimmten
Geschlecht", stellte Burkhard Müller in seinem Artikel "Der Mensch,
die Männin" in der "Süddeutschen Zeitung" fest. Sprache sei zäh
und träge, was man bereits an Notlösungen wie "Professorinnen" oder
"Professor/inn/en" merke, wenn man Professoren und Professorinnen
anschreiben wolle. Doch in der Sprache kann sich nur widerspiegeln, was auch
gelebt wird - und davon die zahlreichen Varianten zwischen den Geschlechtern zu
leben, zu akzeptieren, gleichzubehandeln und in unserer Gesellschaft sichtbar
zu machen, sind wir noch meilenweit entfernt.
Was sagen wir den
anderen?
Kurz nach der Geburt erfahren die Reuters, dass sie ein
intersexuelles Kind bekommen haben. Erste Fragen an die Ärzte sind kaum
beantwortet, da folgen die Entlassung aus der Klinik und der Alltag.
Wenn Sie zum ersten Mal von der Familie Reuter lesen, also
noch gar nicht wissen, dass die Reuters gar nicht Reuter heißen, dann klicken
Sie hier und sehen, wie alles begann. Wenn Sie aber bereits auf die Fortsetzung
der Geschichte gewartet haben, wie Maria Reuter den Schritt aus dem Schutzraum
Krankenhaus in ihren Alltag geschafft hat, dann lesen Sie einfach weiter.
Es war rund eine Woche nach der dramatischen Entbindung,
Not-Kaiserschnitt wegen Fußlage des Babys, Diagnose uneindeutiges Geschlecht,
als Familie Reuter nach Hause fuhr und sich fragte: Was sagen wir? Engste
Freunde und die Familie waren eingeweiht, dass statt des erwarteten Mädchens
ein Kind mit nicht eindeutigem Geschlecht zur Welt gekommen war. Im Krankenhaus
hatte eine zwar mitfühlende, aber letztlich sehr medizinische Aufklärung stattgefunden,
bei der die Eltern zum ersten Mal mit der Tragweite des Befundes konfrontiert
worden waren. Intersexuell, zwischengeschlechtlich, mehrdeutig: Das heiß
ersehnte Mädchen hatte mehr mit auf die Welt gebracht, als alles, wovon die
Eltern jemals gehört hatten.
Jetzt nichts Falsches sagen
Nun war also die Woche in der Klinik vorbei, die Begegnung
mit dem Alltag stand an. Neben Freunden und Familie würden Fragen von Menschen
kommen, die einfach im Vorbeigehen kurz in den Kinderwagen schauen und ein Baby
angucken wollen. Und garantiert nach dem Geschlecht fragen, wenn die Kleidung
nicht rosa oder hellblau ist. "Ich sehe uns noch hier ankommen und ich
wollte, dass wir wissen, ob wir jetzt Junge oder Mädchen sagen", erzählt
Maria Reuter von der Stunde ihrer Heimkehr. "Es ist uns niemand begegnet,
wir konnten unbemerkt durch das Treppenhaus nach oben gelangen, aber dann war
klar: Das ist jetzt das, was ansteht." Statt stolz das eigene Kind
präsentieren zu können, muss eine Strategie her. "Das war der absolute
Tiefpunkt", weiß Maria Reuter noch genau.
Die ersten Tage nach der Heimkehr aus dem Krankenhaus werden
zur emotionalen Achterbahnfahrt. Das Dilemma mit der geschlechtlichen
Uneindeutigkeit ist überwältigend, die eheliche Kommunikationsfähigkeit steht
auf dem Prüfstand. Und ganz nebenbei sind das Baby und der große Bruder zu
versorgen. Während die Mutter dem Problem aus dem Weg gehen möchte und zunächst
darauf drängt, einfach zu sagen, es sei ein Mädchen, ist ihr Mann strikt
dagegen. Irgendwann wird den Eltern die gesamte Dimension bewusst: "Wir
hatten das Gefühl, was auch immer wir jetzt sagen, könnte falsch ausgelegt
werden. Was machen wir, wenn es dann hinterher doch anders ist?" Die
Eltern erkennen, mit wie viel Stigma ein Geschlechtswechsel behaftet ist:
"Der Gedanke, dass das Geschlecht sich ändern kann, ist in dem Moment
unheimlich erschreckend. Man denkt, da kommt man gleich in einen Topf mit
Transvestiten und Transsexuellen und fragt sich: 'Mit wem werde ich da in eine
Schublade gesteckt?' Das sind Leute, die bisher immer weit weg waren."
Bald merken die beiden, dass dies genau die Art Vorurteil ist, vor dem sie sich
selbst fürchten: "Ach so, die haben sich das auch nicht ausgedacht, um die
Welt zu ärgern! Die wollen einfach nur sie selber sein."
Die Hamburger Psychotherapeutin Hertha Richter-Appelt, eine
der führenden Expertinnen zum Thema Intersexualität, erklärt die Verunsicherung
betroffener Eltern Kinder so: "Eltern haben Fantasien über ihre Kinder,
das geht schon vor der Geburt los. Die Tatsache, dass es ein Kind ist, bei dem
man nicht weiß, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist, verunsichert erst mal.
Man fragt sich, ob dieses Kind Partner haben wird, wie es im Beruf zurechtkommt
et cetera. Eine sehr aufgeklärte Familie wird offen damit umgehen können, das
erfordert jedoch starke Persönlichkeiten. Es gibt auch Familien, wo die Eltern
nicht wollen, dass die Geschwister erfahren, was mit diesem Kind los ist. Auch
heute noch."
Kind ohne Namen
Schließlich wird dem Paar klar, dass es so nicht weitergehen
konnte. Das Versteckspiel muss ein Ende haben, sie waren ja auch früher keine
verschlossene Menschen gewesen. Es hilft nur Ehrlichkeit. Für Maria Reuter
kommt es zur ersten Begegnung mit einem Fremden: "Es war ein Nachbar, der
die Straße fegte. Ein älterer Herr, den ich nicht besonders gut kannte, und er
fragte gleich: 'Was ist es denn?' Dann habe ich gesagt: 'Ich kann es Ihnen
leider nicht sagen. Wir wüssten es auch gerne, aber das Kind ist mit uneindeutigen
Geschlecht geboren und es werden noch weitere Tests gemacht.'" Nachdem es
erst einmal raus war, ging die Mutter immer beherzter vor. "Ich habe sehr
früh angefangen, die Leute zu ermutigen, und gesagt: 'Ich freue mich, dass Sie
fragen!'" Und als eine gewisse Routine eingesetzt hatte, folgte der
nächste Schritt und sie sagte: "Ihr könnt mich auch übermorgen wieder
fragen, ob es schon was Neues gibt!" Sie hätte sonst das Gefühl gehabt,
dass weiterhin Unsicherheit im Raum steht. Das Verrückte war: Kaum jemand
fragte nach. "Sobald man das Kind kennt, verliert die Frage zum Geschlecht
offenbar an Relevanz", schließt Maria Reuter heute daraus.
Natürlich gibt es auch kuriose Erlebnisse wie dieses:
"Wir hatten eine Versicherungskarte, da stand drauf: Ohne Namen und dann
der Nachname, also 'Ohne Namen Reuter', weil das Kind ja noch keinen Vornamen
hatte. Mit dieser Versichertenkarte ging ich damals in die Apotheke bei uns um
die Ecke, um die Augentropfen zu bekommen, die Babys am Anfang kriegen. Die
Apothekerin guckt darauf und lacht sich kaputt. Das ist ja auch total lustig!
Ich fand es schön, dass sie so natürlich reagiert hat. Am nächsten Tag kam ich
zurück, um das Medikament abzuholen, da war ihr das hochnotpeinlich, dass sie
so gelacht hatte! Sie war offenbar inzwischen aufgeklärt worden, was Sache ist.
Ich glaube, das ganze Viertel wusste längst Bescheid, als wir noch darüber
nachgedacht haben, 'Wem sagen wir was?'."
Auswahl an geschlechtsneutralen Namen wächst
Die Reuters beschließen, ihrem Kind einen weiblichen
Vornamen sowie einen geschlechtsneutralen Mittelnamen zu geben. Letzteres wäre
heute nicht mehr notwendig: "Das würde ich heute anders machen, denn der
Rufname ist der Rufname, das ist das, was das Kind gewohnt ist und den wechselt
man nicht einfach so. An seinem Namen hängt man ja, das bin ich, das ist ein
Stück meiner Identität. Heute würde ich dem Kind sofort einen androgynen Namen
geben." Sascha, Robin, Luca, Mika - die Auswahl an geschlechtsneutralen
Namen nimmt zu. Ein Vorname muss heute nicht mehr geschlechtsspezifisch sein,
spätestens seit 2010 auch nicht mehr durch einen eindeutigen zweiten Vornamen
ergänzt werden, wie die Juristin Konstanze Plett von der Universität Bremen,
die sich schon lange mit Intersexualität beschäftigt, im Gespräch mit stern.de
erklärt.
Das Kind der Reuters geht inzwischen zur Schule und findet
seinen Namen zum Glück prima. Nach der großen Anteilnahme in unseren
Facebook-Kommentaren wollen wir Ihnen nicht vorenthalten, was Maria Reuter
ihrem Kind antwortete, als es zum ersten Mal gefragt hat: "Was bin ich
denn jetzt?".
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