Freitag, 27. Mai 2016

Shame, fear, disgust - factors in dealing with children with intersexuality? // Scham, Angst, Ekel – Einflussfaktoren im Umgang mit Kindern mit Intersexualität ?


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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2016

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Scham, Angst, Ekel – Einflussfaktoren im Umgang mit Kindern mit Intersexualität ? Eine medizinethische Überlegung.

Empfindungen wie Angst, Ekel oder Scham verbal oder nonverbal zum Ausdruck zu bringen ist etwas Alltägliches, etwas zu dem Menschen fähig sein können. Dabei beschränkt sich die Fähigkeit, etwas zum Ausdruck zu bringen nicht nur darauf, was gesagt und gezeigt wird. Vielmehr können für Forschende auch nicht verbalisierte, (mit Absicht) ausgelassene und nicht gezeigte Empfindungen von großer Bedeutung sein.

In diesem Vortrag soll es eben darum gehen – um Gesagtes und (bewusst) nicht Gesagtes. Meine Forschung beschäftigt sich mit der Frage, ob und inwieweit Kinder mit Inter* als moralische Akteure*innen in der medizinischen Behandlung wahrgenommen werden können, sollen oder müssen. Dabei geht es in erster Linie um eine ethische Analyse der Frage nach Kindern als moralisch (verantwortungsbewusst und reflektiert) handelnde Akteure*innen im Rahmen einer medizinischen Behandlung. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, habe ich qualitative Leitfadeninterviews mit Kindern mit Inter* im Altersspektrum von sechs bis sechszehn Jahren geführt. Im Rahmen der Interviews ergaben sich stets auch Gespräche mit Eltern, Geschwistern und den Kindern selbst abseits des Aufnahmegerätes. Dabei trat zu Tage, dass bestimmte Erzählmuster und Erfahrungen immer wieder thematisiert wurden: Angst in und vor bestimmten Situationen, Erleben von Ekel bei anderen und Schamempfinden.

Angst, Ekel und Scham sollen hier nicht als Trias verstanden werden, die immer miteinander in Verbindung auftreten bzw. ausnahmslos in Beziehung zueinander stehen. Vielmehr soll das Augenmerk darauf gerichtet werden, dass das Empfinden und Erleben von Gefühlen und Affekten etwas ist, was im Alltäglichen meist unbewusst/unreflektiert passiert. Doch wie erleben Eltern eines Kindes mit Inter* die Konfrontation mit Angst, Ekel und Scham in der medizinischen Behandlung, sowohl bei sich selbst als auch bei ihrem Gegenüber?

Im Folgenden möchte ich kurz und blitzlichtartig die drei Gefühle, Empfindungen und Affekte Angst, Scham und Ekel umreißen. Vorweg sei gesagt, dass es zu allen drei Themen diverse Forschungen und Theorien gibt, die ich nicht alle bedienen möchte und kann. Vielmehr habe ich für diesen Beitrag eine Art Schnittmenge zusammengefügt, die hoffentlich aussagekräftig umreißt, wie Ekel, Angst und Scham gesehen oder verstanden werden können. Zentral werden hier eher die Aussagen der Eltern sein, die sich den jeweiligen Empfindungen zuordnen lassen und so anschaulich das „praktische“ Erleben einer spezifischen Situation wiedergeben.

Im Anschluss daran werde ich mich der Frage zuwenden, wie Angst, Scham und Ekel in der Praxis, im Miteinander, der Interaktion zwischen Ärzten*innen, Angehörigen und Kindern mit Inter* möglichst gering gehalten werden können. Dabei soll der Aspekt der Aufklärung bzw. das aufklärende Gespräch eine Rolle spielen, die es den Angehörigen und Kindern ermöglicht, eine reflektierte, auf Wissen basierende Einwilligung (informed consent) geben zu können. Hierfür habe ich einige Beispiele zur Aufklärung rund um Inter* mitgebracht, die Hilfestellung für Eltern, Angehörige und medizinisches Personal bieten können.

Der Begriff ‚Scham‘ umschreibt ein Gefühl, eine oftmals kurzfristige Gefühlsregung (Affekt), die nicht selten mit körperlichen Erscheinungen wie Erröten oder Herzklopfen einhergeht. Würde ich hier vorne über ein Kabel stolpern und hinfallen, hätte das höchstwahrscheinlich zur Folge, dass ich mich für mein ungeschicktes Verhalten schäme und es mir peinlich ist. Vermutlich würde ich erröten und höchstwahrscheinlich auch den Faden verlieren, was weiter dazu beitrüge, tiefer in einem Schamgefühl zu versinken, da ich den an mich gerichteten Erwartungen einer souverän Vortragenden immer weniger gerecht würde. Es kann auch sein, dass bei einigen von Ihnen nun ebenfalls ein Gefühl des Mitschämens, neudeutsch ‚Fremdschämen‘, auftritt und Sie peinlich berührt wegschauen. Scham ist also etwas, was zwischen mindestens zwei Menschen stattfindet und gleichzeitig aber auch einen Prozess in mir selbst auslöst.

„Das Schamgefühl ist eine spezifische Erregung, eine Art von Angst, die sich automatisch und gewohnheitsmäßig bei bestimmten Anlässen in den Einzelnen reproduziert. Es ist, oberflächlich betrachtet, eine Angst vor der sozialen Degradierung

So umschreibt der Soziologe Norbert Elias in seinem Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ seine Vorstellung von Scham. Er definiert Scham als eine Form von Angst, die sich aus der sozialen Umgebung heraus ergibt und als eine Art Kontrollmechanismus verstanden werden kann, der es ermöglicht, sich innerhalb soziokultureller Normvorstellungen adäquat bewegen zu können. Diese Normvorstellungen können auch als eine Form von Schamsozialisation einer Gesellschaft verstanden werden, wodurch ‚sich schämen‘ erst erlernt wird.

Durch eine solche Sozialisation wird festgelegt, wie beispielsweise mit Nacktheit umgegangen wird, was als Intimbereich gilt und was nicht. Im Gegensatz zu Elias‘ Verständnis von Scham als erlerntem Affekt, geht der Ethnologe Hans Peter Duerr von einem angeborenen Schamvermögen aus, das jeweils durch soziokulturelle Einflüsse mehr oder weniger ausgeprägt werden kann. Die Fähigkeit, Scham zu empfinden und individuell eine persönliche Schamgrenze zu setzen, ist jedem Menschen gegeben. Dabei hat jeder Mensch einen Komfortbereich, den zu berühren oder zu sehen in Ordnung ist, aber auch einen Intimbereich, der für anderen Menschen weitestgehend als Tabu gesehen wird. So gelten hier Genitalbereich, Mund, Nase, Ohren nur unter Zustimmung als berührbar oder als der Ansicht ausgesetzt. Überhaupt umreißt die Körperscham nicht nur passive Areale des Körpers, sondern auch aktive Funktionen wie Verdauungs(geräusche) und Ausscheidungen jeglicher Art. Die Besonderheiten des Umgangs mit menschlichen Ausscheidungen, eigenen wie auch fremden, werde ich später bei der Auseinandersetzung mit Ekel noch einmal genauer ins Feld führen.

Wie ich eben bei meinem Stolperbeispiel schon kurz angerissen habe, kann ich nicht nur mich für mich selbst schämen, sondern Sie können sich auch als Betrachter*innen des Ganzen schämen. Sie empfinden möglicherweise Unbehagen ob meiner Ungeschicklichkeit und „können es nicht mit ansehen“, wie es so schön heißt. Man wird „in Verlegenheit gebracht“ durch das Verhalten eines anderen Menschen.[5] Nun können Sie natürlich auch aktiv dafür sorgen, dass ich mich schäme, indem Sie mir ein Bein stellen und ich deswegen stolpere oder mich anderweitig „beschämen“. Somit sorgen Sie dafür, dass ich durch Ihre Handlung in einen Zustand des Schämens versetzt werde. Scham wird erzeugt und kann gleichermaßen reproduziert werden, indem ich nun an eine beliebige Person weitergebe, dass während eines Vortrags zu stürzen etwas Peinliches sei.

Um nun den Bogen zu meinem Forschungsthema zurückzuschlagen, möchte ich Ihnen im Folgenden zwei Zitate vorlesen. Beide Zitate stammen aus meiner Feldforschung und unterstreichen die eben angeführte These, dass Scham produziert und auch reproduziert werden kann.

In einem Gespräch vor einem Interview mit einem Kind mit Inter* habe ich mich mit der Mutter über die Momente im Krankenhaus unterhalten, nachdem sie entbunden hatte und offensichtlich wurde, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Mutter schilderte mehrere Situationen, in denen sie von den behandelnden Ärzten*innen auf die vermeintlichen Besonderheiten ihres Kindes hingewiesen wurde. Dabei blieb der Mutter vor allem im Gedächtnis, dass immer wieder von ärztlicher Seite her betont wurde, nicht über den Zustand des Kindes zu sprechen.

„Die Ärztin sagte mir dann, das sollten Sie besser niemandem erzählen, Sie wissen schon, sonst wird’s peinlich für Sie und dann auch mal für das Kind.“

Im weiteren Verlauf sprach ich nun mit dem Kind im Rahmen eines Interviews. Hier wurde anhand der Aussagen des Kindes sichtbar, dass durch das antrainierte Verhalten der Eltern durch die Ärzte*innen des „nicht darüber Sprechens“ auf das Kind übertragen hatte.

„Mama und Papa haben immer gesagt, ich soll es niemandem zeigen oder was sagen. Nachher lachen noch alle über mich oder zeigen auf mich.“

Im weiteren Gespräch erzählten die Eltern, dass sie und ihr Kind sich seit Längerem in einem Lernprozess befänden, in Folge dessen sie zusammen nach einer Möglichkeit suchten, anders mit der ihnen anerzogenen Scham umzugehen. Dabei liegt hier die Betonung auf der aktiven Handlung des Wollens, da sich Eltern und Kind darüber klar geworden waren, dass sie das bisherige Verhalten für sich nicht länger als akzeptabel betrachteten.

Ekel wird ebenfalls zu den Affekten eines Menschen gezählt. Der Komparatist Winfried Menninghaus sieht Ekel als „[…] Alarm- und Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, […]“, die durch bestimmte Reize ausgelöst werden kann. Nicht selten wird Ekel in Zusammenhang mit Scham gesetzt. Auch bei Ekel wird eine Unterscheidung in „Eigen-“ und „Fremdekel“ vorgenommen. Der Eigenekel kann durch den eigenen Körper und seine Funktionen ausgelöst werden, wohingegen der Fremdekel sich auf andere Körper und deren Funktionen bezieht. Die dabei ausschlaggebenden Reize können visueller, olfaktorischer, gustatorischer, haptischer oder taktiler Natur sein.

Genau wie Scham wird davon ausgegangen, dass Menschen die Fähigkeit, Ekel zu empfinden von Geburt an mitbringen, vor allem aber durch soziokulturelle Prägung erlernen. Ekel vor Ausscheidungen, Lebensmitteln, Tieren, Gegenständen oder Gerüchen prägen sich durch negative Erfahrungen oder Training ein und werden als Abwehrreaktion und Schutzmechanismus in jeweiligen Situationen aktiviert. Ekel geht nicht selten mit einer kurzweiligen, heftigen physischen Reaktion einher. So überkommt einen z.B. ein Schütteln, der Ausruf „igitt“ oder ein Würgereiz, wenn der Körper und seine Sinne mit einem Ekelstimulus durch ein ‚Abjekt‘ konfrontiert werden.

Besonders der Umgang mit dem eigenen Körper und seinen Funktionen und Ausscheidungen unterliegen einer Art doppelten Bewertung. Im Grunde wissen wir, dass in unserem Körper bestimmte Prozesse vonstattengehen und wir Sekrete wie Schleim, Sputum, Urin etc. in uns tragen. Das wird erstmal als gegeben hingenommen und nicht weiter beachtet. Sobald jedoch ein Sekret den Körper verlässt, sichtbar wird und wir damit in Berührung kommen oder es riechen können, setzt ein Ekel davor ein. Dieser Ekel steigert sich zuweilen immer mehr, je länger das Objekt des Anstoßes sich außerhalb des Körpers befindet. Wie im vorherigen Absatz bereits angemerkt, kann Ekelempfinden auch dem Schutz dienen, um sich vor giftigen, verfaulten oder schädlichen Dingen zu schützen. Der Geruch von verfaulten Eiern oder verdorbenem Fleisch hindert meist daran, diese zu essen und somit eine Lebensmittelvergiftung zu umgehen.

Diese Schutzfunktion wird auch als präventive Maßnahme in der Erziehung von Kindern eingesetzt. Die Aussage „Lass das, das ist eklig“ wird nicht selten herangezogen, um Kinder daran zu hindern, sich etwas in den Mund zu stecken oder zu essen. Somit sollen die Kinder lernen, z.B. keinen Sand aus dem Sandkasten zu essen oder Speichel zu verschmieren.

Gerade im Bereich der Medizin gehört der Umgang mit Ekel zum Tagesgeschäft. Medizinisches Personal arbeitet eng mit Patienten*innen zusammen, man kommt sich im wahrsten Wort körperlich sehr nah. Deshalb gehört es zu jeder medizinischen Ausbildung dazu, sich mit Ekel, Scham und Angst auseinander zu setzen. So soll ein individueller Umgang damit gefunden werden, aber auch um zu lernen, den Patienten*innen Angst und Scham zu nehmen und ihnen das Gefühl zu geben, nicht „eklig“ zu sein. Doch gerade im Umgang mit Kindern mit Inter* ließ sich aus den Erzählungen der Eltern, mit denen ich gesprochen habe, heraushören, dass sie in der Vergangenheit damit konfrontiert wurden, dass ihr Kind ‚eklig‘ wäre.

Eine Mutter erzählte, dass die damalige behandelnde Ärztin direkt nach der Geburt den jungen Eltern in Bezug auf das gerade geborene Kind mit Inter* auf den Kopf zugesagt hätte: „Sowas ist ja nicht normal!“ Für die Mutter blieb aus dieser Unterhaltung im Gedächtnis, dass ihr Kind im Grund so eine Art Monster sein müsste, an dessen Körper groteske Verformungen zu finden wären. Erst im Laufe der Zeit und in Gesprächen mit anderen Ärzten*innen war sie in der Lage, ihr Kind nicht mit diesem Hintergedanken zu betrachten und als ‚normal‘ zu sehen.

Für eine andere Mutter blieb die Zeit nach der Geburt ebenfalls als sehr prägend im Gedächtnis, nachdem bei ihrem Kind eine Form von Inter* diagnostiziert wurde. Die Ärzte*innen empfahlen den Eltern nachdrücklich, das Kind möglichst schnell operieren zu lassen und optisch einem Geschlecht anzugleichen. Ansonsten bestünde die Gefahr aus Sicht der Ärzt*innen, dass die Eltern ihr Kind niemals richtig akzeptieren könnten. Dieser Mutter blieb vor allem der Gebrauch des Wortes „Missbildung“ im Kopf, der wiederholt von Ärzten*innen in Bezug auf den Genitalbereich des Kindes verwendet wurde.
Als Letztes möchte ich nun kurz auf Angst eingehen. Wie bereits bei Scham und Ekel gibt es zum Thema Angst diverse und mannigfaltige Theorien, wie zum Beispiel von Sigmund Freud oder Erwin Guthrie. Deswegen werde ich jetzt lediglich ganz basal Schnittmengen zusammenfassen, um ein verständliches Konzept von Angst zu generieren.

Angst empfinden zu können, gehört zu den menschlichen Gefühlen, die von Geburt an als Disposition vorhanden sind. Angst kann durch endogene oder exogene Faktoren hervorgerufen werden, die sich meist durch körperliche Reaktionen äußern. So sind in akuter Angst erhöhte Herzfrequenz, gesteigerter Muskeltonus und eine gehemmte Verdauung zu verzeichnen – kurz: der Körper ist in Alarmbereitschaft, im Schutzmodus. Das ist subjektiv spürbar, kann aber auch von außen, von anderen Menschen wahrgenommen werden. Angst tritt jedoch nicht nur akut auf, sondern kann auch unterschwellig ständig vorhanden sein. Angst kann als Verbindung aus spezifischen Hinweisreizen in Ereignissen und deren schädlichen Konsequenzen verstanden werden. Dabei kann sich Angst unter anderem durch Konditionierung (z.B. die Zwei-Faktoren-Theorie nach Orval H. Mowrer), Lernen am Modell oder durch Instruktion/Vorbereitung auf eine Angstsituation (z.B. die ‚preparedness‘-Theorie nach Seligmann) angeeignet oder ausgeprägt werden.

Im Fall der Konditionierung lerne ich durch eigene Erfahrung, kann mir die Höhe Angst einflößen und mich lähmen oder anderweitig körperlich beeinträchtigen. Wenn z.B. mein Vater auf eine Leiter klettert und Höhenangst erfährt und nicht mehr von der Leiter herunterkommt, lerne ich die Höhenangst an seinem Beispiel kennen (und kann sie mir auch selbst aneignen). Durch Instruktion erfahre ich, dass Leitern hoch sind und oben zu stehen gefährlich sein kann bzw. zu Stürzen führen kann.

Gerade in einem medizinischen Setting ist es nicht unüblich, Angst zu verspüren. Als Laie, als Patient*in bin ich mit mir unbekannten, oft genug unverständlichen Situationen konfrontiert und muss Entscheidungen treffen, die nicht selten eine gewisse Tragweite in sich bergen. Anders herum empfindet auch medizinisches Fachpersonal Angst – vor einem Notfall, einer unbekannten Situation, vor einem Gespräch mit Patienten*innen oder vor Ratlosigkeit, obwohl man es eigentlich wissen sollte.

In Gesprächen mit Eltern von Kindern mit Inter* wurde nicht selten eigene Angst vor dem Unbekannten oder vor Ungewissheit thematisiert. Eine Mutter schildert es folgendermaßen: „Ich wusste ja nichts. Mein Kind war ja weg. Der Arzt ist auch gleich weggegangen und hat nichts gesagt. Ich musste da sitzen und warten und bangen um mein Kind.“ Im Weiteren beschreibt die Mutter diesen damals empfundenen Zustand als eine Art Schweben im leeren Raum, einen lähmenden Zustand der Angst, der sie daran hinderte, von sich aus nach ihrem Kind zu suchen oder das Personal zur Rede zur stellen. Diesen lähmenden Zustand begründet sie damit, dass sie bereits im Kreißsaal nach der Entbindung die Angst und Unsicherheit ihres Arztes wahrgenommen hatte.

„Keiner hat was gesagt, zumindest nicht so richtig. Die haben alle nur geguckt, irgendwie so panisch. Wenn ich was fragen wollte, gab es nur ganz kurz sowas wie ‚Weiß ich nicht, kann ich nicht sagen‘ und dann war er wieder weg. Hat sich auch nie getraut, mir in die Augen zu sehen.“

Das Spüren der Angst und Unsicherheit der anderen führte bei der Mutter dazu, dass sie selbst Angst empfand, ohne selbst genau definieren zu können, warum. Diese Gefühl und die Zeit des Nichtwissens haben sich für die Mutter sehr stark eingeprägt. Sie bezeichnet es selbst so, dass sie sich im Grunde nur noch an diese Angst erinnern könne. Alles andere wäre komplett aus ihrem Gedächtnis gelöscht.
Den nächsten Teil des Vortrages möchte ich mit einem Zitat beginnen, das das eben Gesagte zu Scham, Ekel und Angst indirekt aufgreift und den Bogen zu Inter* schlägt. Nämlich mit der Frage, wie wir Angst, Ekel und Scham in der medizinischen Praxis, im Miteinander und der Interaktion zwischen Ärzten*innen, Angehörigen und Kindern mit Inter* möglichst gering halten können und nicht zu einem Hinderungsgrund werden lassen.

„References to shame abound in the critical and narrative material concerning intersex. And yet, shame has not been a sustained focus of analysis in this literature. This gap may be due to the fact that not only is it painful to think about shame, but that reflecting on shame on this context further requires that we consider the disgust that provokes it.

Ellen K. Feder bringt mit ihrer Aussage zur Sprache, dass es nicht nur wichtig ist, sich des Schames im Umgang mit Inter* bewusst zu sein, sondern sich auch zu fragen, woher dieses Verhalten und der Ekel vor Anderssein überhaupt kommt. Auf den letztgenannten Aspekt werde ich hier nicht weiter eingehen, sondern vielmehr mein Augenmerk auf das Verhalten im Umgang mit Intersexualität richten.

Dafür brauchen wir den Begriff der Kommunikation. Kommunikation, egal ob nonverbal oder verbal ist essentiell im menschlichen Miteinander. Gerade in einem spezifischen Setting wie dem eines Krankenhauses oder einer Arztpraxis ist eine befriedigende Kommunikation für alle Beteiligten von großer Bedeutung.

Dabei sind nicht nur Gestik und Mimik wichtig, sondern auch, sich gegenseitig verständlich auszudrücken. Gerade in einer von Fachsprache geprägten Disziplin wie Medizin ist es für Laien unabdingbar, dass ihnen Sachverhalte von Fachleuten verständlich erklärt werden. Dass der Umgang mit einer für alle verständlichen Sprache kein einfacher ist, habe ich selbst in meiner Forschung erfahren. Nicht selten bin ich an meine sprachlichen Grenzen gekommen in der Frage, wie führe ich Interviews mit Kindern, was kann ich fragen, in welcher Komplexität, wie drücke ich mich aus, dass mich die Kinder auch verstehen? Hilfreich waren hier Vor- und Nachgespräche mit den Eltern. Dort hatte ich die Möglichkeit, herauszufinden, wie Intersexualität-Sein in der Familie thematisiert wird, welche Worte und Bezeichnungen verwendet werden. Nicht selten wurde eine Art eigene familieninterne Sprache generiert, deren Vokabeln ich für die jeweiligen Interviews lernen musste.

Doch auch die Eltern berichteten immer wieder von „Übersetzungsschwierigkeiten“, wenn sie versuchten, dem eigenen Kind verständlich zu erklären, was die behandelnden Ärzte*innen den Eltern dargelegt hatten. Die Eltern sahen sich so in einer Art Übersetzerposition, nicht selten im doppelten Sinne. Zum einen mussten sie selbst herausarbeiten, was genau im Arztgespräch gezählt wurde und sich oftmals unbekannte medizinische Zusammenhänge über das Internet oder aus Büchern erschließen. Zum anderen mussten sie das Gelernte so verstehen und wiedergeben können, dass sie ihrem Kind entsprechende Erklärungen geben konnten. Hier zeigt sich die Wichtigkeit von verständlicher Aufklärung von Seiten der Mediziner*innen. Um einen ‚informed consent‘ der Patienten*innen oder Erziehungsberechtigten gewährleisten zu können, muss von ärztlicher Seite sichergestellt werden, dass auch alles Gesagte verstanden wurde.

Auf der anderen Seite kam in meinen Gesprächen mit Medizinern*innen zu Tage, dass Fachsprache sehr wohl ein bequemes und gerne genutztes Netz sein kann, in dem man sich komfortabel bewegen kann, ohne je die eigenen Schamgrenzen berühren zu müssen. Über bestimmte Themen zu sprechen, die die Intimsphäre eines Menschen berühren, geht mit neutraler Fachsprache oft einfacher, als einem persönlich unangenehme Dinge oder Ausdrücke in allgemeinverständlicher Sprache zu sagen. Für vieles gibt es bereits Arten von Anschauungsmaterial wie Bilderbücher, Videos oder Sachbücher. Im Bereich Inter* ist dies jedoch noch sehr spärlich gesät. Fachliteratur gibt es mannigfaltig, eine Art „Was ist Was“-Buch für Eltern, medizinische Personal oder Lehrer jedoch muss man suchen. Ich habe hier nun eine Auswahl der Bücher und Videos mitgebracht, die bisher frei zugänglich auf dem Markt/Internet vorhanden sind. Dabei habe ich einige deutsche wie auch internationale Beispiele mitgebracht, ohne dass die Liste eine lange geworden wäre. Dies zeigt leider nur sehr deutlich, welche Lücken in diesem Bereich noch klaffen und wieviel Potential es gleichzeitig birgt, unbefangen und angst-, ekel- und schamfrei mit dem Thema Intersexualität umzugehen.

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