Donnerstag, 28. Juli 2016

Variations of sex development - the diversity of nature /// Varianten der Geschlechtsentwicklung die Vielfalt der Natur


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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2016
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Varianten der Geschlechtsentwicklung – die Vielfalt der Natur

Unsere Welt ist vielfältig. Dies gilt auch für Geschlechtlichkeit, denn entgegen unserem Alltagsverständnis existieren nicht nur Männer und Frauen. Bis heute werden jedoch von der weiblichen und männlichen Norm abweichende Körper pathologisiert. Unter dem in der Medizin verwendeten Begriff „Disorder/Difference of Sex Development (DSD)“ werden diese Varianten der ´körperlichen` Geschlechtsentwicklung zusammengefasst.

Definition

 Bei der Zwischengeschlechtlichkeit handelt es sich um Variationen der genetischen, gonadalen, hormonalen oder genitalen Beschaffenheit eines Menschen, die dazu führen, dass er nicht eindeutig den biologischen Kategorien weiblich oder männlich zugeordnet werden kann. Die Nomenklatur dieser Varianz ist strittig. DSD verweist vor allem auf eine angenommene medizinisch definierte `körperliche´ Störung. Diese Zuschreibung blendet allerdings die Komplexität der Natur aus. Wie die Biologie zeigt, kann die Aufteilung in zwei Geschlechter der Realität nicht standhalten. Aktuelle Debatten darum, dass Geschlecht eher polar  anstatt binär anzusehen ist, gewinnen an Beachtung.

Politische Brisanz

Dass die Variation der Geschlechtsentwicklung nicht nur ein medizinisches Thema ist, zeigen neuere politische Initiativen. Seit 2010 beschäftigt sich die Bundesregierung mit der Problematik ‚Intersexualität‘. Sie beauftragte den Deutschen Ethikrat mit einer Stellungnahme, welche 2012 veröffentlicht wurde .
2013 folgte dann eine Änderung im Personenstandsgesetz (PStG), welche die Offenlassung des Geschlechtseintrags für neugeborene Kinder ermöglicht, und zwar nur dann, wenn das Kind nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann. Für die betroffenen Kinder ist es ein Zwangsouting. Die freie Wahl des Geschlechts, also männlich oder weiblich, ist nicht zugelassen. 

Die gesetzliche Regelung „nicht eingetragen“ gilt allerdings nicht für ältere intersexuelle Kinder und Erwachsene. Keine Krankheit oder Fehlbildung Auch die Bundesärztekammer (BÄK) befasst sich mit dem Phänomen und gab im Januar 2015 eine Stellungnahme zur „Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/ Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD)“ heraus, welche im Folgenden kurz vorgestellt wird. Die BÄK macht hier deutlich, dass „ die Gleichsetzung von DSD mit Fehlbildung oder Krankheit nicht angemessen [ist]“. Von der BÄK wird insbesondere kritisiert: „[D] ie Überschätzung der ‚normalisierenden‘ Wirkung eines äußerlich unauffällig wirkenden Genitales; […] die Unterschätzung des traumatisierenden Potenzials dieser Eingriffe; […] in deren Folge noch heute für viele Verfahren […] keine ausreichende Evidenz vorhanden ist“.

Eine ähnliche Tendenz ist bei der neu überarbeiteten Version der Leitlinien der DGKJ zu erwarten.
Eine geschlechtliche Varianz kann zwar mit Funktionsstörungen (Nebennierenrindeninsuffizienz, Verschluss der Vagina o. ä.) einhergehen, doch oft beeinflusst eine stereotype Vorstellung von Geschlecht und Geschlechterrollen die Beurteilung des Gesundheitszustandes und führt zur Pathologisierung eines gesunden Menschen. Die in der Vergangenheit praktizierte ´optimal gender policy´ führte zu (zum Teil starken) Traumatisierungen und wurde vor allem von Betroffenen stark kritisiert.

Heute fordert man: „dazu gehört auch und besonders die Akzeptanz seiner anatomischen Besonderheit im Genitalbereich, die unangetastet bleiben sollte“ .

Die bei verschiedenen UN-Kommissionen eingereichten Klagen führten zu deutlichen Mahnungen an die Bundesregierung. Diese stimmt mittlerweile mit dem Deutschen Ethikrat überein, dass es sich bei einer Operation, die die Fortpflanzungsfähigkeit oder die sexuelle Empfindungsfähigkeit eines Menschen dauerhaft beeinträchtigen könnte, um einen gravierenden Eingriff in dessen Rechte handelt. Auch Juan Ernesto Méndez, Sonderberichterstatter des Human Rights Council, verurteilte die genitalen Operationen. Er unterstreicht in seinem Bericht, dass es auf die Auswirkungen ankomme, auch wenn vielleicht eine gute Absicht zu Grunde lag.

 Frühe Operationen negativ für das Wohlbefinden


Es bleibt festzuhalten, dass eine geschlechtliche Varianz keine Störung oder Krankheit ist.
Medizinisch nicht notwendige Operationen finden dennoch statt, obwohl keine Studie zeigt, dass Operationen die Lebensqualität intersexueller Menschen verbessern. Grundsätzlich besteht, auch in der internationalen Literatur, ein eklatanter Mangel an Evidenz. „Insbesondere Untersuchungen zur langfristigen Prognose sind unzureichend“, schreibt die BÄK. Demgegenüber stehen neben unterschiedlichen wissenschaftlichen Studien auch viele Berichte erwachsener Intersexueller und Eltern welche zeigen, dass sich frühe genitale Operationen negativ auf das Wohlbefinden auswirken können.

Neben dem möglichen Sensibilitätsverlust der Klitoris, Schmerzen beim Sexualverkehr o.ä. kann es auch zu erheblichen psychischen Problemen kommen.

Der Verlust der körperlichen Unversehrtheit und das Gefühl, in wichtigen Entscheidungen übergangen worden zu sein, können das Selbstbewusstsein und das Verhältnis zu Eltern extrem verschlechtern.
Zudem sollte nicht vergessen werden, dass es sich um irreversible, kosmetische Eingriffe handelt  – wobei die Entscheidung für eine solche Operation auf einer stereotypen Vorstellung von Geschlecht beruht. Ethische Grundsätze müssen im Umgang mit Betroffenen beachtet werden.

Zudem mehren sich Berichte von Eltern, dass Kinder, die intersexuell aufwachsen, auch ohne Festlegung eines eindeutigen Geschlechts von ihrer Umgebung akzeptiert werden.

 Die Proteste von Organisationen der intersexuellen Menschen und erfolgreiche Anklagen bei vier UN-Kommissionen sowie die Stellungnahmen des Deutschen Ethikrates und Diskussionen im Deutschen Parlament konnten bisher keine wesentlichen Änderungen der Zahlen von Genitaloperationen von 2005 bis 2014 an Vagina und Vulva (DRGStatistik 5-705, 5-706 bzw. 5-716, 5-718) der unter Einjähringen bis Ein- bis Fünfjährigen Kindern bewirken; bei den Klitorisoperationen (5-713) fällt die Zahl an den unter Einjährigen Kindern etwas ab, allerdings ist eine deutliche Reduktion bei den Klitorisoperationnen an Ein- bis Fünfjährigen Kindern festzustellen.

Das zeigen die DRG-Statistiken des Bundesinstitut für Statistik: in dieser Zeit wurden an weiblich eingestuften Kindern im Alter von unter 1 Jahr bis 5 Jahre im Jahresdurchschnitt 167 (allein im Jahr 2014 an 177 Kindern) Operationen (s. DRG) an den Genitalien ausgeführt.

Ethisch begründete Therapie Hinsichtlich der „Therapie“ befürwortet die Bundesärztekammer die Ausrichtung an ethischen Grundsätzen wie dem Recht auf Selbstbestimmung, auf körperliche Unversehrtheit und auf angemessene Berücksichtigung der Meinung des Kindes.

Konkret bedeutet dies, dass ein chirurgischer Eingriff nur dann gerechtfertigt ist, wenn Symptome mit Krankheitswert vorliegen. Auch Gonadektomien sollten nicht nur auf Grund eines Verdachts auf ein erhöhtes Tumorrisiko (in den meisten Fällen besteht eben nur ein geringes Risiko) durchgeführt werden, sondern bedürfen einer besonderen Begründung. Es ist eben nur ein „Risiko“, keine medizinisch begründete „Tatsache“.

Bei angeborenen Variationen der körpergeschlechtlichen Entwicklung muss von einer elektiven Indikation ausgegangen werden, d.h. nicht die Eltern können entscheiden, ob ein weibliches oder ein männliches Geschlecht zugewiesen wird, oder ob das Geschlecht „nicht eingetragen“ wird, sondern nur das Kind selbst kann über seine eigene Geschlechtsidentität entscheiden.

Das gesetzliche Recht auf Freiheit zur Selbstverortung, zur Findung der eigenen Geschlechtsidentität, muss allen Kindern zugestanden werden, unabhängig von einer nicht medizinisch indizierten Diagnose oder dem Willen der Eltern. 

Zur Personensorge der Eltern gehört auch das Recht, unter Einhaltung bestimmter Anforderungen in die Genitaloperationen ihres einsichts- und urteilsfähigen intersexuellen Kindes einzuwilligen, doch sollte dies erst möglich sein, sofern das Kind das 14. Lebensjahr (unter besonderen Umständen das 12 Lebensjahr) vollendet hat und es - nach umfassender Aufklärung und reiflicher Überlegung – selbstbestimmt entscheiden kann, ob es sich einer Operation unterziehen möchte – oder eben nicht.
Auf Grund derzeitiger Erkenntnisse ist zweierlei erforderlich: zum einen müssen Eltern eine angemessene medizinische Betreuung erhalten; zum anderen ist eine kompetente lebensweltliche Beratung unabdingbar.

Um eine optimale Betreuung zu gewährleisten, möchten wir Folgendes anregen:

 Bei dem Verdacht einer Varianz der Geschlechtsentwicklung sind die Eltern umfassend aufzuklären und zu beraten.

Nach der Geburt sollte der erstbetreuende Kinder- und Jugendarzt Ruhe verbreiten und den initialen Schrecken und eine mögliche aufkommenden Angst der Eltern dämpfen. Zudem brauchen Eltern unbedingt eine unabhängige Beratung durch fachkundige Psychologen und Selbsthilfegruppen, wie sie mit der Besonderheit des Kindes, vor allem im sozialen Umfeld, umgehen können.

Die medizinische Diagnostik kann im Anschluss erfolgen; sie hat Zeit (ein hormonal bedingter Salzverlust und eine Urinverhaltung müssen allerdings sofort ausgeschlossen sein).

Weitere Gespräche sollten nach einer genauen medizinischen Diagnose geführt werden. Das Kind ist im weiteren Verlauf der Betreuung wiederholt und entwicklungsangemessen aufzuklären.
Die Eltern werden ermutigt, offen mit ihrem Kind über körperliche Besonderheiten und die Besuche beim Arzt zu sprechen.

Besonders wichtig ist es, die seelische und körperliche Integrität des Kindes zu wahren. Bei der wiederkehrenden Betreuung ist es wichtig, dass alle Beteiligten eine gemeinsame Sprache entwickeln.

Auf keinen Fall sollte eine Geheimhaltung stattfinden.

In den Jahren der Präadoleszenz sollte besonders auf Unzufriedenheit mit dem eigenen Geschlecht geachtet werden. Dabei sind selbstbewusste, offene Kommunikationsstrategien genauso denkbar wie der Wunsch nach Privatheit.
Mit zunehmendem Alter ist es wichtig, dass das Kind einen autonomen Raum für Gespräche mit dem Arzt und/oder einem Psychologen und Peer-Gruppen erhält.
Eine begleitende kompetente lebensweltliche Beratung ist unabdingbar, sie muss das soziale Umfeld der Familie einbeziehen.
Dies kann nicht in einem einmaligen Gespräch erfolgen und muss der altersentsprechenden Aufnahmefähigkeit des Kindes angemessen sein. Die Aufklärung sollte so diskriminierungsfrei wie möglich geschehen.
Es kann zum Beispiel darauf verwiesen werden, dass zwar die meisten Frauen einen XX-Chromosomensatz haben, aber eben nicht alle. Gespräche über Identität, Geschlechtsidentität und Sexualität können daran anschließen.

Wenn eine geschlechtliche Varianz erst im Rahmen der Pubertätsentwicklung festgestellt wird, bedürfen Eltern und Kinder besonders intensiver und sensibler Betreuung.

Zusätzliche Hilfe können sie bei Selbsthilfeverbänden beziehen, diese bieten unter anderem Peer Beratung für Angehörige und Betroffene an. Außerdem sollte das Kind unbedingt an sachkundige Psychologen/Psychiater vermittelt bzw. überwiesen werden. Auch die Eltern selbst brauchen psychologische Unterstützung für eine zuwendungsorientierte, liebevolle Aufklärung des Kindes, nicht nur in der ersten Zeit nach der Geburt, sondern auch immer wieder im Verlauf von vielen Jahren, besonders in der Zeit der Pubertät des Kindes. Schutz der körperlichen Unversehrtheit.

Eine Genitaloperation ohne Einverständnis des Kindes ist eine schwerwiegende Entscheidung mit unabsehbaren Folgen.

Die Kinderrechtskonvention der UN definiert in den Artikeln 3 und 12 das Recht des Kindes auf Gehör und die Pflicht zur Beteiligung von Kindern an allen sie betreffenden Angelegenheiten; das Kind muss angemessen und entsprechend seiner Reife angehört werden (informed consent).
Daher sollten solche Operationen bei Neugeborenen und kleinen Kindern nicht vorgenommen werden. Die elterliche Sorge und die damit einhergehende Verantwortung für die Zukunft des Kindes muss die körperliche Unversehrtheit einer unmündigen und nicht einwilligungsfähigen Person schützen. Es ist eine Tatsache, dass die Entwicklung der Geschlechtsidentität nur prognostiziert und im Kleinkindalter nicht definiert werden kann.

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