Dienstag, 8. August 2017

Die Leute müssen verstehen, dass es keine Normalität gibt


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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2017
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"Die Leute müssen verstehen, dass es keine Normalität gibt"

Sich als Frau fühlen und als solche akzeptiert werden: Dafür hat Stella Glitter ihr Leben lang gekämpft. Die 68-Jährige ist transgender und queer und träumt von einer freien Gesellschaft, wo auch Menschen, die nicht ins Schema passen, sich selbst sein können.

Ein Bild an der Wohnzimmerwand symbolisiert die Verwandlung einer Puppe in einen Schmetterling. "Dies habe ich auch durchgemacht," meint Stella Glitterexterner Link und lacht. Auf der Fotocollage ist ein junger Bursche in Anzug und Krawatte mit einem etwas unbeholfenen Blick zu sehen. Unterdessen hat er einer nonkonformistischen Frau Platz gemacht. Einer Frau, die sich ihr Leben lang dafür eingesetzt hat, als solche akzeptiert zu werden. "Dieses Selbstbildnis ist eine Art Erklärung: Ich bin hier, ich bin eine Frau, ich bin transgender."

Aus ihrem Küchenfenster in La Motte, einem Dorf im Kanton Jura nahe der Grenze zu Frankreich, sieht Stella Glitter den Horizont. "Meine Präsenz ist verworren. Der weibliche Aspekt, die männliche Stimme…'was für ein Lebewesen ist das?', fragen sie. Und dann folgt Ablehnung, Feindseligkeit. Die Leute sollten verstehen, dass es keine Normalität gibt." Ihre Hände greifen nach einer Zigarette, während ihre Gedanken zurück in die Kindheit schweifen.

Etwa im Alter von fünf Jahren, wenn die Kinder die Sexualität entdecken, merkte Glitter, dass sie "anders" war. Ihr Körper kam ihr fremd vor, sie konnte ihre Gefühle aber nicht in Worte ausdrücken. Mit der Pubertät kamen die Zweifel, das Gefühl, "daneben zu sein, eine Sünde begangen zu haben. Ich fühlte mich total unsicher und durcheinander, konnte mich aber nicht wehren".

Als Tochter eines Pfarrers und Älteste von sieben Geschwistern musste sie mit dem guten Beispiel voran. Also versuchte sie mit aller Kraft, in die Haut eines Mannes zu schlüpfen. In Schöftland, einem kleinen Dorf im Kanton Aargau, trat sie einem Fussballclub bei, arbeitete auf den Feldern und lernte Trabpferde zu dressieren, eine Leidenschaft, die sie noch heute begleitet. "Ich füllte meine Tage aus, um mich nicht mit meinem inneren Aufruhr befassen zu müssen." Ihre Mutter wusste, was vorging, stellte sich aber taub, war unfähig, sich mit etwas Unbekanntem auseinanderzusetzen.

Rebellion auf der Strasse, Schweigen im Innern

Mit 20, nach der Matura, zog Stella Glitter nach Zürich, um Veterinärmedizin zu studieren. Das war Anfang der 1970er-Jahre, als die Stadt ihre kleine Revolution erlebte. Die Jugend debattierte über eine freiere Gesellschaft, auf der Strasse demonstrierte sie gegen die Repression des Staates. Glitter war von diesem rebellischen Geist fasziniert und schloss sich der Autonomiebewegung an. Das Universitätsstudium liess sie sausen, um sich voll dem politischen Kampf zu widmen. Sie arbeitete in einer Fabrik, aus Solidarität mit der Arbeiterklasse, und machte den Taxiführerschein, um etwas Geld zu verdienen.

In den Zürcher Nächten suchte die Jugendliche in den wenigen Bars, wo Transsexuelle verkehrten, nach Gleichgesinnten. "Damals gab es noch keine LGBT-Szene. Dank Büchern lernte ich, dass ich nicht allein war." Stella Glitter fand in David Bowie ein Vorbild, mit dem sie sich identifizierte, und in der Liebe zu einer Frau einen Freiraum. "An ihrer Seite konnte ich zum ersten Mal aus meiner männlichen Rolle schlüpfen und mich selbst sein."

Im Umfeld der linksextremen Szene war das Thema Transsexualität noch ein Tabu, wie übrigens auch die Homosexualität. Auch wenn ihre Freunde sie nun Stella nannten, so blieb sie für sie doch immer ein "Kumpel". Und auch bei den Feministinnen gab es keinen Platz für sie. "Ich glaube, sie sahen in mir eine Bedrohung und wussten nicht, wo sie mich hintun sollten. Und damals zählte nur die Revolution. Im Grunde genommen waren die Leute viel angepasster, als sie dachten." Stella Glitter blieb diskret und suchte in der Kunst ein Ausdrucksmittel. "Ich lernte Gitarre spielen, hatte eine Punk- und später eine Rock'n'Roll-Band. Ich machte Theater, tanzte, schrieb…Meine Transsexualität lebte ich aber weiterhin im Geheimen, mit meiner Gefährtin."

Übergang zur "Neugeburt"

Der Wendepunkt kam mit 31 Jahren. 1980 wurde Stella Glitterexterner Link wegen eines Banküberfalls zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Sie kam in einen Männerknast, wo sie wohl oder übel ihre wahre Identität kaschieren musste. "Ich hing nie besonders am Leben, aber in dieser Zeit konnte ich mich nicht mehr selber im Spiegel anschauen, ohne zu denken, dass ich ein falsches Leben lebte."

Als sie freikam, begann die lange Übergangsphase. Ein dreitägiger psychologischer Test in Brüssel, eine erste Hormonkur, die scheiterte, und dann eine zweite. Mit der Zeit wurde ihr Körper weicher, der Bartwuchs stoppte, der Busen wuchs. Anderes war nicht so einfach zu verändern, wie etwa ihre gebrochene und tiefe Stimme, mit welcher sie Elvis interpretierte. Auf die Freude folgte bald Ernüchterung. "Jahrelang hatte ich von der Frau geträumt, die ich sein wollte - und war vom Resultat schlicht und einfach enttäuscht. Die Idee, plastische Chirurgie zu beanspruchen und meine Stimmbänder zu operieren, lehnte ich ab, es war eine Grenze, die ich nicht überschreiten wollte."

Mit der Zeit begann Glitter, ihren neuen Körper zu lieben, merkte aber, dass sie noch weitere Schritte tun musste, um wirklich "neu geboren" zu werden. Nämlich die Brücke zu alten Freunden abbrechen, die nicht fähig waren, sie als Frau anzuerkennen. Und sich zudem einer Geschlechtsumwandlungs-Operation unterziehen – auch wenn dieser Entscheid sie von ihrer ersten grossen Liebe distanzierte.
"Ich hatte immer ein Problem mit meinem Penis gehabt, er fühlte sich wie ein Fremdkörper an. Deshalb entschied ich mich für eine Operation und hatte das Glück, auf einen Spezialarzt zu treffen, der mir helfen konnte." Stella Glitter breitete die Flügel aus und flog los. "Endlich konnte ich in den Spiegel schauen, ohne Ekel zu empfinden, eine Frau lieben und mich als Frau geliebt fühlen. Im Vergleich mit anderen Transgender-Personen konnte ich meinen Weg problemlos weitergehen. Auch deshalb erzähle ich heute hier meine Geschichte."

Highheels und Rock in der Schublade

In einer Gesellschaft, die jenen misstraut, die nicht ins Schema passen, musste sich Stella Glitter arrangieren und darauf verzichten, ihre Weiblichkeit in vollen Zügen auszuleben. "Nach der Operation trug ich zwar Stöckelschuhe und Röcke, aber die Leute hielten mich für eine Transvestitin." "Ich wollte mit den Regeln und Konventionen brechen, aber man ist nie völlig frei vom Urteil anderer."

Für Glitter gibt es dennoch gewisse Fortschritte. Das Thema Transgender ist kein Tabu mehr, die Medien berichten darüber, und auch auf rechtlicher Ebene ist einiges passiert: Die Schweiz gibt langsam Praktiken auf, die als unmenschlich gelten, wie etwa die Sterilisationspflicht für Personen, welche ihr Geschlecht ändern wollten. Im Alltag aber begegnet sie noch immer Angst und Misstrauen. "Bis vor zwei Jahren wurde ich jeweils auf der Frauentoilette beschimpft. Heute kann ich mich mit ein paar Lachern und einem sarkastischen Kommentar begnügen."

Stella Glitter bezeichnet sich als avantgardistisch, denn in ihrer idealen Welt gibt es keine Kategorien, sondern viele verschiedene Möglichkeiten, die eigene Geschlechtsidentität und Sexualität zu leben. Eine Welt, in der man eine männliche Stimme und feminine Züge haben kann und deshalb nicht als Bedrohung für die Gesellschaft wahrgenommen wird. "In diesem Sinne bin ich 100% queer, das heisst Teil dieser Bewegung, welche die Aufteilung in nur zwei Geschlechter (Binarismus) klar ablehnt."

Freiheit um jeden Preis

Mit einem melancholischen Blick zündet sich Glitter eine letzte Zigarette an. Ihr Gesicht zeugt von Reife, aber ihren rebellischen Geist hat sie keineswegs verloren. Noch immer suchen ihre Augen am Horizont nach Freiheit. Vor einem knappen Jahr verliess sie die Hektik der Metropole Zürich und liess sich im ländlichen Jura nieder – in einer "Künstler-Residenz".

Die Rentnerin verbringt ihre Tage mit Malen, Musik, Schreiben und langen Spaziergängen in den Wäldern. "Ich habe immer nach dem Weg der grösstmöglichen Freiheit gesucht und ihn in der Kunst gefunden." Ab und zu kehrt sie in ihre Stadt zurück, um Rock'n'Roll zu spielen oder ihre Bilder auszustellen. "Ich habe eine lange Liste gemacht mit allem, was ich malen möchte. An der Zeit fehlt es mir sicher nicht."
Angst vor dem Altern hat sie nicht. Sie ist ruhiger geworden. "Ich habe eine gewisse Harmonie gefunden. Ich weiss, was ich von den Leuten erwarten kann. Und mit 68 lasse ich mich nicht mehr verletzen und beleidigen. Nehmt mich, wie ich bin, oder lasst mich in Ruhe."


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