Freitag, 11. Mai 2018

Intersexuelle Menschen sind weder Mann noch Frau sie befinden sich dazwischen. Lucie Veith aus Schortens kämpft für ihre Daseinsberechtigung und ein menschenwürdiges Leben. /// Intersex people are neither man nor woman - they are in between. Lucie Veith from Schortens fights for her right to exist and a decent life.


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Ein Leben zwischen den Geschlechtern
Lucie Veith im Gespräch: Mit ihrem Leben als intersexueller Mensch geht Lucie heute offen um und engagiert sich deutschlandweit.

Intersexuelle Menschen sind weder Mann noch Frau – sie befinden sich dazwischen. Lucie Veith aus Schortens kämpft für ihre Daseinsberechtigung und ein menschenwürdiges Leben.

SCHORTENS /OLDENBURG Die Tür öffnet sich, Lucie Veith lächelt mich freundlich an: roter Lippenstift, die langen Haare lässig zusammengesteckt, um den Hals eine bunte Kette. Vor mir scheint eine Frau zu stehen, aber der Eindruck täuscht. Lucie Veith, 61 Jahre alt und wohnhaft in Schortens (Landkreis Friesland), hat XY-Chromosomen. Sie sieht weiblich aus und hat eine frauliche Stimme, aber auf genetischer Ebene ist sie ein Mann. Lucie ist intersexuell.

Die meisten Menschen gehen davon aus, dass es zwei Geschlechter gibt: Frau oder Mann. Die Realität sieht jedoch anders aus. Intersexuelle sind, anders als trans-idente Menschen, nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen. Sie werden sowohl mit männlichen als auch mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren. Nach Angaben der Bundesregierung leben rund 10000 intersexuelle Menschen in Deutschland.

Männliche Gene und ein weibliches Erscheinungsbild. Ich frage mich zu Beginn unseres Gesprächs: Wie soll ich Lucie ansprechen? „Ich habe einen Vor- und einen Nachnamen, das reicht“, sagt Lucie. Sowohl im Gespräch, als auch beim Schreiben kann ich es allerdings nicht vermeiden, Lucie als „sie“ zu bezeichnen. Es ist eine verzwickte Situation.

Denn ein eigenes Pronomen für intersexuelle Menschen gibt es in Deutschland nicht. Schweden ist da beispielsweise schon weiter. Seit 2015 steht das geschlechtsneutrale Pronomen „hen“ im Wörterbuch.
Schon als kleines Mädchen habe Lucie gewusst, dass sie anders ist. „Als negativ habe ich das aber nie empfunden“, erinnert sich Lucie. Erst mit Mitte 20 war klar: „Ich habe keine Gebärmutter, keinerlei weibliche Geschlechtsorgane.“ Stattdessen lagen ihre Testosteronwerte höher als bei anderen Frauen. Die Ärzte fanden im Bauchraum liegende Hoden. Sie sagten ihr, dass sie mit Krebs befallen seien. Zwei Hiobsbotschaften auf einmal.

Zeit, den Schock zu verarbeiten, habe Lucie nicht gehabt – man habe ihr gesagt, dass die Hoden entfernt werden müssten, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Was folgte, war eine Operation. Ein Eingriff, der medizinisch nicht notwendig gewesen wäre, wie Lucie sagt.

Genitalverstümmelung

Denn wie sich Jahre später herausstellte, waren ihre Hoden gesund. Da die Ärzte diese Tatsache verschwiegen, spricht Lucie heute von einer „uneingewilligten“ Operation – einer Genitalverstümmelung. Mit den im Bauchraum liegenden Hoden hätte Lucie problemlos leben können. „Es war der Versuch, mich zu vereindeutlichen. Man wollte einen Körper reparieren, der nicht kaputt war“, weiß sie. Auch hätten die Ärzte dazu geraten, ihre Intersexualität geheim zu halten. Ohne Hoden produzierte Lucie auch kein Testosteron mehr. Stattdessen wurde Östrogen verabreicht. „Mein Körper war mit den weiblichen Hormonen maßlos überfordert. Das hat mich in eine tiefe Krise gestürzt.“ Heute nehme sie die Hormone nicht mehr.

Lucie lebt in einer weiblichen Geschlechterrolle und ist mit einem Mann verheiratet. „Als wir uns kennenlernten, war bereits klar, dass ich keine Kinder kriegen kann. Woran das lag, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Das haben mir die Ärzte verschwiegen. Später hat uns meine Intersexualität einige Steine in den Weg gelegt. Aber mich als Person macht sie nicht aus, mein Mann weiß das. Ich bin, wie ich bin“, erklärt Lucie. Geschlechterrollen und Geschlechteridentitäten seien verschiedene Paar Schuhe.
Invasive Operationen, die, wie Lucie sagt, meist kosmetischen Gründen dienen – das ist Realität für viele Intersexuelle in Deutschland. Schon kleine Kinder werden funktionierende Geschlechtsorgane entfernt, äußere Genitalmerkmale werden angepasst. Die Auswirkungen, die diese Eingriffe auf die Psyche haben, hat Lucie am eigenen Leib erfahren. Wozu das zwanghafte Schubladendenken in „männlich“ und „weiblich“, fragt sie sich.

Eine medizinische Notwendigkeit liege in den seltensten Fällen vor. „Es ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Sie zerstören die körperliche Identität der Kinder. Das darf nicht sein“, erklärt sie. „Es ist eine Kastration. Wenn zum Beispiel eine ,zu große’ Klitoris abgeschnitten oder oder eine künstliche Vagina, die auch nach der Operation immer wieder geweitet werden muss, angelegt werden, ist das ein traumatisches Erlebnis für Kinder“, sagt Lucie.

Eigene Bezeichnung

In einer Selbsthilfegruppe konnte Lucie vergangene Ereignisse aufarbeiten. Seit 2002 setzt sie sich für die Rechte intersexueller Menschen ein. 2004 gründete sie den gleichnamigen Verein „Intersexuelle Menschen e.V.“. Von Friesland aus leitete sie von 2007 bis 2017 die Bundesgeschäftsstelle, seit 2014 auch die Landesgeschäftsstelle.

„Unser Ziel ist es, etwas in Ordnung zu bringen, was nicht in Ordnung ist“, sagt sie. Und es tut sich etwas – unter anderem auch durch Lucies unermüdlichen Einsatz. Mit der Kampagnengruppe „Dritte Option“ reichte sie Ende 2016 eine Klage für die Einführung eines dritten Geschlechts ein. Im November 2017 fiel eine Entscheidung am Bundesverfassungsgericht. Demnach sei die aktuelle Regelung zum Geschlechtseintrag verfassungswidrig.
Künftig solle es im Personenstandsregister neben „weiblich“ und „männlich“ eine weitere Eintragsmöglichkeit geben. Bis Ende 2018 soll das Personenstandsgesetz geändert werden. Die Möglichkeit ein „x“, „non-specific“ oder „unknown sex“ eintragen zu lassen, besteht beispielsweise bereits in Australien, Nepal oder Großbritannien.

Wie genau dieser dritte Geschlechtseintrag in Deutschland umgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten. Seit 2013 kann das Kreuzchen „männlich“ oder „weiblich“ im Geburtenregister weggelassen werden, wenn das Geschlecht eines Kindes nicht eindeutig ist. „Solche Säuglinge sind aber nicht geschlechtslos. Sie befinden sich auf einem Geschlechterspektrum, so kann man es zumindest sehen. Nicht wirklich das eine, aber auch nicht ganz das andere“, erklärt Lucie.

In ihren Bemühungen hat Lucie es geschafft, die Peer-to-Peer-Beratung, die als Projekt in Niedersachsen begonnen hat, bundesweit zu etablieren. Peer-to-Peer bedeutet: Gleiche beraten Gleiche. Dabei wird versucht, die Betroffenen zu beraten, zu entlasten und zu ermutigen. Für ihren Einsatz für die Menschenrechte Intersexueller hat Lucie 2017 den „Preis für das Engagement gegen Diskriminierung“ von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erhalten. Überreicht wurde der Preis von Familienministerin Katarina Barley(SPD).

Sinn ihres Lebens

„Unsere erste und wichtigste Baustelle sind aber nach wie vor die frühkindlichen Operationen, die zum Schutz der Kinder abgeschafft werden müssen“, sagt sie. Mit besserer Aufklärung und Beratung könne man Eltern und Familien andere Perspektiven aufzeigen. Denn viele Ärzte stünden dem Thema Intersexualität bis heute nicht offen gegenüber.
„Sind Kinder nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen, hilft die Medizin nach, oftmals ohne dass den Eltern erklärt wird, was da genau passiert.“ Was wäre die Alternative zu frühen Geschlechtsoperationen? „Man sollte die Kinder in Ruhe aufwachsen lassen, egal wie ihr Genital aussieht. Solange kein gesundheitliches Risiko besteht, was in den seltensten Fällen so ist, brauchen sie keine Operationen“, sagt Lucie.

Kritische Stimmen fragen, wozu man eine weitere Geschlechterbezeichnung brauche. „Denjenigen, die unsere Forderung als neumodisches Problem sehen, denen kann ich nur entgegenbringen: Warum machen Veränderungen euch so viel Angst? Dass Körper und Körpergefühl zusammenpassen, ist ein Privileg, das nicht alle genießen“, sagt Lucie. Intersexuelle würden biologisch nicht den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen. „Mit einem Umdenken und der Änderung der Bezeichnungen wird niemandem geschadet. Dafür wird allerdings einer kleinen Gruppe von Menschen geholfen, ihr Leben maßgeblich zu verbessern.“
Auch im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD wird das Thema angesprochen. Dort heißt es: „Wir respektieren geschlechtliche Vielfalt. (…) Wir werden gesetzlich klarstellen, dass geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an Kindern nur in unaufschiebbaren Fällen und zur Abwendung von Lebensgefahr zulässig sind.“

Lucie Veith wird sich weiter dafür einsetzen, dass intersexuelle Menschen offener und selbstbewusster mit ihrer Identität umgehen können. Eines ist ihrer Meinung nach sicher: Intersexuelle Menschen wollen kein Mitleid. Sie wollen die gleichen Rechte wie jeder andere Mensch.
„Ich werde für intersexuelle Menschen kämpfen, bis Kinder nicht mehr operiert werden. Solange werde ich durchhalten. Vielleicht ist das ja der Sinn meines Lebens“, sagt Lucie Veith.





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