Dienstag, 26. Dezember 2023

Die Gesellschaft tut sich schwer in der Geschlechterdiskussion. Dabei gehört Geschlecht überhaupt nicht in Kategorien gepresst, wenn man die biologische Geschlechtsentwicklung als Gesamtprozess zugrunde legt.

Biologen tun sich mit Definitionen und Klassifikationen im Allgemeinen schwer. Für alles was klassifikatorisch einigermaßen greifbar erscheint, gibt es immer Ausnahmen. Beispielsweise haben sich Generationen von Biologinnen (ich nutze die geschlechts­bezogenen Begriffe abwechselnd) damit abgeplagt, eine universelle Definition für Spezies zu finden – ohne Erfolg.
Nur in Bezug auf Sex scheint es eine erstaunliche Einigkeit zu geben: Sex gilt im Allgemeinen als binär – mit zwei Typen von Gameten (Spermien und Eier), die zu Zygoten verschmelzen. Diese sind asymmetrisch und können daher als männlich und weiblich bezeichnet werden. Mit der Asymmetrie der Gameten ist auch eine Binarität der Individuen vorgegeben, die sie produzieren. Die Sex-Bestimmung erfolgt genetisch, meist durch binäre Geschlechts­chromosomen. Selbst wenn diese nicht vorhanden sind, ist sie zumindest auf binäre Loci zurückzuführen. Die alternativen Allele sorgen dafür, dass nach den Mendelschen Regeln weiblich und männlich mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent in der nächsten Generation entstehen. Die Natur hat das prima eingerichtet! Die unvermeidlichen wenigen Ausnahmen von diesen binären Prinzipien bestätigen letztlich nur die Regel.
Dass die sexuelle Binarität beim Menschen zu gesellschaftlichen Verwerfungen geführt hat, bei denen den Frauen, als Kategorie betrachtet, Privilegien und Rechte abgesprochen wurden, werden viele Biologen heutzutage bedauerlich finden. Aber das erscheint eher als ein gesellschaftliches Problem, aus dem man sich mit biologischem Fachwissen besser heraushalten sollte – auch wenn man natürlich eine eigene Meinung dazu haben kann. Denn unabhängig davon: Kann man solche fest verwurzelten Gewissheiten überhaupt erschüttern? Fangen wir doch mal mit einer Tatsache an, bei der sich ebenfalls alle Biologinnen einig sind. Die evolutionsbiologische Funktion von Sex ist es, Diversität durch Rekombination zu generieren. Diese Diversität ist die Grundlage für eine effiziente natürliche Selektion: Genetische Rekombination würfelt in jeder Generation die Allele einer Population durcheinander, wodurch Verteilungen von Genotypen und Phänotypen entstehen, aus denen im Falle einer Änderung der Umweltbedingungen adaptive Varianten selektiert werden können. Ohne Sex entsteht Variation nur durch Mutationen in separaten Linien, mit Sex werden diese in der Population verteilt und kombiniert. Was, kurz gesagt, bedeutet: Ohne Sex keine schnelle Evolution. Die Rolle von zwei Geschlechtern ist also die Generierung von Diversität, nicht von Binarität! Nur zwei Geschlechter, um Diversität zu erzeugen? Warum macht die Natur das so? Na ja, immerhin macht es offenbar Sinn, dass Männchen und Weibchen zu je 50 Prozent produziert werden – und das geht scheinbar am besten mit einem binären Prinzip. Aber wie sieht das in Dominanz-Hierarchien aus? Eigentlich reicht es doch in vielen Paarungs­systemen aus, wenn es dominante Männchen gibt, die einen Großteil der Reproduktion an sich ziehen. Da wäre doch ein Verhältnis von 10 Prozent Männchen zu 90 Prozent Weibchen am Ende viel besser, oder? Dass es dennoch fast immer zu einem gleich verteilten Verhältnis der Geschlechter kommt, hat aus evolutionsbiologischer Sicht einen ganz anderen Hintergrund, der mit binärer Genetik nichts zu tun hat. Vielmehr geht es um evolutions­stabile Strategien: Wenn ein Geschlecht zahlenmäßig stärker wird, dann hat das seltenere Geschlecht einen relativen Fitness-Vorteil, der umgehend dazu führt, dass es in den nächsten Generationen wieder häufiger wird. Wie das genetisch im Einzelnen gesteuert wird, wissen wir bisher nicht – es kann auf allen Ebenen der Gametenreifung passieren. Allerdings bedeutet es, dass ein je hälftiges Verhältnis der Geschlechter letztlich ein ständiger „Kampf“ der Strategien ist, der nur durch kontinuierliche neue Selektion möglich ist. Tatsächlich gehören die genetischen Mechanismen der Geschlechtsbestimmung und Gametenreifung zu den besonders schnell evolvierenden Systemen in diploiden Organismen – ein Zeichen, dass die Evolution da eigentlich nie „zur Ruhe“ kommt. Wenigstens die Binarität der Gameten scheint aber doch ein festgeschriebenes biologisches Prinzip zu sein – und die darauf basierende Rollenverteilung daher ganz unvermeidlich. Eine Form von Gameten übernimmt die Weitergabe von Ressourcen an die nächste Generation, die zweite muss nur den genetischen Teil beisteuern. Aber führt das nicht wieder zu einem Fitness-Ungleichgewicht, das sich eigentlich schnell wieder ausgleichen müsste? Tatsächlich gibt es auch Paarungs­systeme mit isogamen Gameten, also ohne morphologische Unterschiede. Folglich gibt es kein Naturgesetz, das die Asymmetrie der Gameten vorsieht. Warum bevorzugt die Natur binäre Gameten? Die Asymmetrie der Gameten gibt es vor allem bei Eukaryonten. Und das hat mit ihrer Entstehungsgeschichte zu tun, denn eukaryontische Zellen haben sich Mitochondrien als Untermieter eingefangen. Diese haben ihr eigenes genetisches System behalten – zwar reduziert, aber doch weiterhin evolvierbar. Damit entsteht ein Konfliktpotenzial innerhalb der Zelle, denn schließlich könnte das mitochondriale Genom andere evolutionäre „Interessen“ haben als das Kerngenom. Und wie wird dem vorgebeugt? Die Rekombination der Mitochondrien wird so weit wie möglich eingeschränkt, indem nur einer der Gameten sie in die nächste Generation weitergibt. Den Mitochondrien wird also Sex „verweigert“, womit ihnen auch die Möglichkeit zur schnellen Evolution genommen wird. Das Kerngenom bleibt somit bestimmend im Haus. Hier existiert also tatsächlich ein Keim für eine Binarität von weiblich und männlich mit unterschiedlichen Rollen. Die als weiblich bezeichneten Gameten (Eier) geben die Mitochondrien weiter und verhindern gleichzeitig das Eindringen der Mitochondrien, die von den männlichen Gameten (Spermien) mitgebracht werden. Um das zu erreichen, sind übrigens komplizierte Gensysteme notwendig, die auch erst evolviert werden mussten. Die Rollenverteilung ist damit also primär ein Überbleibsel der Entstehungsgeschichte eukaryontischer Zellen. Und welche Kosten haben binäre Gameten? Mit einem binären Gametensystem sind erhebliche Kosten verbunden. Man braucht dazu Individuen mit verschiedenen Geschlechtern, von denen nur eines die Nachkommen erzeugt und das andere nicht viel mehr tut, als durchgefüttert zu werden, bis es endlich seine Spermien abliefern kann. Würde stattdessen jedes Individuum in der Population Nachkommen erzeugen, dann könnten Populationen doppelt so schnell wachsen. Ein sexuelles System, das auf separaten Geschlechtern aufbaut, hat damit einen erheblichen kurzfristigen Nachteil gegenüber Spezies, die keinen Sex haben oder ihn aufgegeben haben. Dass Letztere hingegen einen langfristigen Nachteil haben, weil ihnen ja die Rekombination für eine schnelle Evolution fehlt, sollte dabei nicht ins Gewicht fallen, weil Evolution nicht vorausschauend agieren kann. Mit Sex kann man zwar langfristig gewinnen, aber man könnte vorher schon leicht ausgeschieden sein. Wasserflöhe haben da eine interessante Lösung gefunden. Im Frühjahr vermehren sie sich asexuell, um möglichst schnell das Habitat wieder zu besiedeln. Zum Ende des Jahres hin bilden sie Männchen und haploide Gameten aus. Die befruchteten Eier bilden dann Dauerstadien, die überwintern und im nächsten Frühjahr als neu rekombinierte Linien wieder starten können. Sie sichern sich also das Beste aus zwei Welten. Aber warum machen es dann nicht alle Spezies so? Oder warum sind nicht alle Spezies Hermaphroditen, also männlich und weiblich gleichzeitig? Sie können dann Sex und Rekombination mit anderen Partnern haben, aber jeder für sich produziert auch Nachkommen. Wir kommen hier zu einem der peinlichsten Probleme der Evolutionsbiologie – dem sogenannten „Twofold Cost of Sex“. Peinlich deswegen, weil es trotz Generationen von Forscherinnen, die daran gearbeitet haben, noch keine vollständig befriedigende Lösung gibt. Es gibt zwar vielversprechende Ansätze, aber Evolutionsbiologen kennen die Lösung schlicht und einfach noch nicht. Binärer Sex ist ein ungelöstes Rätsel! Der feine Unterschied
Schauen wir uns stattdessen jetzt die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und innerhalb der Geschlechter an. Und bleiben wir beim Menschen, das können wir am besten intuitiv beurteilen. Wenn wir jemanden auf der Straße treffen, können wir meistens blitzschnell eine Einteilung in Frau oder Mann machen. Aber ebenso blitzschnell können wir entscheiden, ob wir die Person kennen oder nicht. Denn abgesehen von eineiigen Zwillingen sind keine zwei Individuen gleich. Das ist ja gerade die Funktion sexueller Rekombination: Es sollen Phänotypverteilungen entstehen, nicht identische Individuen. Also auch nicht Individuen, die in nur zwei Klassen eingeteilt werden können. Unser Gehirn macht also eigentlich eine schizophrene Entscheidung: Es klassifiziert binär, obwohl es ebenso erkennt, dass jedes Individuum anders aussieht. Würden Aliens die Menschen auch binär einteilen? Als 1972 die Pioneer-10-Sonde ins All geschossen wurde, wählte man ihre Flugbahn so, dass sie nach ihren Planetenpassagen unser Sonnensystem verlassen würde. Dabei entstand die Idee, dass man an ihr eine Plakette anbringe, die möglichen Entdeckern der Sonde einen Hinweis geben sollte, wo sie herkommt und wie die Spezies aussieht, die sie gebaut hat. Man brauchte also Darstellungen eines typischen Mannes und einer typischen Frau (immerhin hat man auch an die Frau gedacht!). Auf den ersten Blick würden wir wohl sagen, dass das ganz gut gelungen ist.
Für uns selbst ist der Wiedererkennungswert binärer Geschlechtsunterschiede schließlich sehr hoch (wenn man mal davon absieht, dass wir hier etwas interpretieren müssen, da bei der Frau ein entscheidendes Detail weggelassen wurde). Aber stellen wir uns Aliens vor, die mit diesen Bildern versuchen, real existierende Menschen zu vergleichen. Sie würden kaum jemanden finden, die oder der genauso aussieht wie auf diesen Abbildungen – praktisch alle Individuen, die sie vergleichen würden, würden Abweichungen zeigen (insbesondere in „modernen“ Gesellschaften mit einem sehr hohen Anteil an Übergewichtigen). Würden die Aliens dann die primären Geschlechtsmerkmale als wichtiger werten als alle sonstigen phänotypischen Unterschiede? Frauen sind im Durchschnitt acht Prozent kleiner als Männer, so auch bei den idealisierten Typen auf der Pioneer-10-Plakette. Aber das heißt ja nicht, dass Frauen immer kleiner sind als Männer. „Durchschnitt“ ist hier das entscheidende Stichwort, denn die Verteilungen der Körpergrößen überlappen zu 32 Prozent. Demnach gibt es auch viele Männer, die kleiner sind als viele Frauen. Tatsächlich gilt das Prinzip der überlappenden Verteilungen praktisch für alle phänotypischen Merkmale der Geschlechter, inklusive physiologischer Parameter. Statistisch besagen solche Überlappungen, dass das Geschlecht einen Teil der Daten erklärt, aber eben nicht den Unterschied der Geschlechter an sich ausmacht (siehe Maney DL.: Perils and pitfalls of reporting sex differences; Phil. Trans. R. Soc. B 371: 20150119). Für ein gegebenes Individuum kann man aus dem Messwert eines phänotypischen Merkmals nicht schließen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Und das deckt sich nicht mit einfacher Binarität. Selbst die primären Geschlechtsmerkmale haben keinen einheitlichen Phänotyp, sondern zeigen eine breite Variation – mit einer zwar sehr schmalen, aber doch existierenden Überlappung (die aber heutzutage meist chirurgisch korrigiert wird). Wieso produziert die Natur überlappende Verteilungen? Individuen entstehen aus einer Kaskade entwicklungsbiologischer Prozesse. Einer dieser Prozesse steuert die Entwicklung der Gameten und der Geschlechtsorgane. Andere Prozesse steuern die generelle Ausformung des Körpers, inklusive der Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale. Und noch ein weiterer Prozess steuert die Ausbildung des sozialen Gehirns und damit auch die Ausbildung persönlicher Präferenzen und Verhaltensweisen. Nur die allererste Entscheidung in Richtung männlich oder weiblich ist meist binär; alle weiteren sind durch polygene Prozesse gesteuert, die zur Variabilität zwischen Individuen führen. Polygene Prozesse sind dadurch gekennzeichnet, dass ihr Produkt aus einer Kombination von Genetik und Umweltbedingungen entsteht und damit für jedes Individuum etwas unterschiedlich ist. Beispielsweise sind Menschen, die unter schlechten Ernährungsbedingungen aufwachsen, im Durchschnitt deutlich kleiner, selbst wenn der genetische Hintergrund gleich ist. Auch die Entwicklung der Geschlechts­identität ist multi-dimensional – in der Regel mit großen Überlappungen zwischen den Geschlechtern. Im Gehirn des Menschen wurde oft nach Unterschieden zwischen Frauen und Männern gesucht – mit mehr oder weniger Erfolg. Heute weiß man, dass es eine breite individuelle Variabilität gibt, aber praktisch keine systematischen Unterschiede. Die Falle der Kategorien
Eine einfache binäre Kategorisierung in männlich und weiblich wird der phänotypischen Realität der Individuen daher nicht gerecht. Sexualforschern und Psychologinnen ist dies schon lange bekannt, weshalb als Hilfskonstrukt die Bezeichnung „Gender“ für die gefühlte und/oder soziale Geschlechts­identität eingeführt wurde, die der biologischen Geschlechtsbestimmung gegenübergestellt wird. Aber auch die biologische Geschlechtsentwicklung muss man als Gesamtprozess sehen, der nicht in Kategorien gesteckt werden sollte – also auch nicht in erweiterte Geschlechtskategorien. Jedes Individuum muss für sich gesehen werden, und jedes Individuum sollte daher auch seine Rolle im kontinuierlichen Spektrum der Verteilungen selbst finden dürfen. Kein Individuum sollte sich gedrängt fühlen, sich der sozialen Norm einer Kategorie angleichen zu müssen. Spätestens hier löst sich die scheinbare Binarität der Geschlechter in eine Illusion auf. Individuen sollten nicht auf ihre Gameten reduziert werden, die evolutionsbiologische und entwicklungsbiologische Realität ist viel komplexer. Vor diesem Hintergrund ist der Fortschritt, der mit der neuen Gesetzgebung zur sexuellen Selbstbestimmung erzielt werden soll, eigentlich ein Rückschritt. Statt die behördliche Registrierung von Geschlechtskategorien ganz abzuschaffen, führt man eine Wahlfreiheit ein. Doch das ist dann eigentlich eine Wahlpflicht, da sich letztlich jedes Individuum zu einem Zeitpunkt fragen muss, welcher Kategorie es zugehört. Man wird gedrängt, sich auf eine Seite zu stellen, selbst wenn man gar nicht sicher ist, wo genau man in dem kontinuierlichen Spektrum steht. Denn niemand kann sich mehr hinter der Aussage verstecken: „Das wurde mir bei der Geburt so zugewiesen.“ Dass es dann noch eine weitere Kategorie „divers“ geben soll, hilft dabei wenig – oder ist sogar vielmehr kontraproduktiv. Denn jede Art von Kategorisierung wird auch wieder zu neuer Diskriminierung führen – und die Gefahr ist bei drei Kategorien sogar höher als bei zwei.
Das Verfassungsgericht hatte mit seinem Urteil von 2017 dem Gesetzgeber eigentlich freigestellt, die Registrierung von Geschlechtskategorien ganz abzuschaffen. Denn bei einer verfassungsrechtlich gesicherten Gleichstellung der Geschlechter muss der Staat gar nicht mehr wissen, welchem Geschlecht sich jemand zugehörig fühlt. Hier wäre ein Bürokratieabbau mehr als angesagt gewesen. Aber in unserem tief verwurzelten kategorisierenden Denken hat dazu offenbar der Mut gefehlt. Wann werden wir anfangen, statt in Kategorien in kontinuierlichen Verteilungen zu denken?

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