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DER ANGENÄHTE kleine Unterschied
Die Fachwelt rätselt über Ursachen und Therapie von Transsexualität
Sie ekeln sich vor sich selbst", beschreibt der Mediziner Holger Kaube das Dilemma der Transsexuellen. Von 30 transsexuellen Frauen und Männern, die Kaube im Rahmen seiner Doktorarbeit befragte, hatten 11 zuvor versucht, sich das Leben zu nehmen - einer von ihnen bereits zehnmal.
Transsexuelle stehen unter einem enormen Leidensdruck. Der Zwiespalt, innerlich einem anderen Geschlecht anzugehören, als der Körper nach außen demonstriert, macht ihr Leben zur Zerreißprobe.
Der kalifornische Psychoanalytiker Robert Stoller vermutet, daß irgendwann einmal jeder Transsexuelle der Belastung seiner Scheinexistenz nicht mehr widerstehen kann. Viele bringen sich dann um. Andere verstümmeln sich. Und die Experten sind ratlos ...
Was Transsexualität ist? Wie sie entsteht? Niemand weiß es genau. Sexualwissenschaftler, Psychologen, Psychiater, Endokrinologen und Genetiker bieten bisher nur Hypothesen. Bestimmte Formen, überlegen die Psychologen, könnten in der seelischen Entwicklung des Kindes ihren Ursprung haben. Ob die Eltern ein Neugeborenes akzeptieren, sei dabei genauso wichtig wie später die Identifikation mit Mutter oder Vater.
Einen anderen Hinweis hat kürzlich der Niederländer Louis Gooren im Gehirn von Mann-zu-Frau-Transsexuellen entdeckt. Im Hypothalamus, dem untersten Bereich des Zwischenhirns, stieß Gooren auf Differenzierungen, die sonst nur bei Frauen auftreten. Aber auch hier bleiben Fragen offen: In welchem Alter entstehen diese Unterschiede? Und: Was erzeugt sie? Sexualhormone? Psychologische Faktoren?
"Jugendirresein" diagnostizierte der französische Facharzt für Geistesgestörte Jean Esquirol, als er 1838 erstmals zwei transsexuelle Fälle beschrieb. Seither hagelt es Theorien auf jene seltsamen Frauen und Männer, die gern das Gegenteil wären. Genutzt hat es ihnen wenig.
Noch immer sind erfolgreich abgeschlossene Therapien eher die Ausnahme. Noch immer ist unklar, warum Transsexuelle eine Neugeburt unter dem Messer des Chirurgen anstreben. Die erhoffte "Geschlechtsumwandlung" ist jedoch anatomisch unmöglich.
Die Proportionen des Knochenbaus, die Schädelformen und die Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit zu verändern entzieht sich ärztlicher Kunst. Eine Operation zur Geschlechtsangleichung bietet lediglich einen äußerlichen Kompromiß. Besonders bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen wirkt das medizinisch Machbare derart unbefriedigend, daß viele auf den angenähten kleinen Unterschied aus einem Stück aufgerollter Bauchhaut verzichten.
Für selbstkritische Mediziner sind sogar Idealfälle wie das Bond-Girl Caroline Cossey, das einst als Metzgerbursche arbeitete, eher das Resultat einer Notfallmaßnahme. Wer antritt, zu heilen und zu erhalten, den muß es irritieren, wenn organisch gesunde Brüste amputiert, Eierstöcke ausgeräumt, Hoden abgeschnitten und Penisse "enthülst" werden.
Bereits Anfang der fünfziger Jahre bemängelte ein Kritiker, das Anrichten solcher "Flurschäden" entspreche "eher den Bereichen des Haarkünstlers". Der Internist und Neurologe Viktor von Weizsäcker sah damals den "Ausweg in die chirurgische Maßnahme als Beispiel eines Mißerfolges der Therapie".
Seither scheint fraglich, ob die Erfüllung transsexueller Wünsche Therapie sein kann. Die ersten Angleichungsoperationen in den zwanziger und dreißiger Jahren sollten Suizide und Selbstbeschädigungen verhindern. Inzwischen ist klar: Äußere Korrekturen reichen nicht aus.
Eine seriöse Behandlung beginnt heute mit einer sorgfältigen Diagnose. Es folgen eine Klärungsphase mit Beratungsgesprächen und anschließend ein mindestens einjähriger Alltagstest. In diesem schwierigen Jahr leben Transsexuelle, therapeutisch begleitet, in ihrer neuen Rolle. Erst nach diesen drei Etappen kann von Gutachtern eine Operation empfohlen werden.
Doch all diese Bemühungen bieten keine Gewähr, daß sich die seelische Situation Transsexueller auf Dauer entdramatisiert.
"Es beschäftigt die Ärzte sehr, daß die Suizidalität nach den Operationen möglicherweise nicht zurückgeht", gesteht ein Therapeut am Telefon. Er zieht dieses Zitat später zurück, weil ihm das Thema "zu heiß" ist.
Selbsthilfegruppen wie der überregionale "Transidentitas e. V." raten ihren Mitgliedern dringend, auch im neuen Leben den Kontakt zu halten. Angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit fordert der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch eine Entpathologisierung der Transsexualität: "Wir sollten die Illusion aufgeben, wir könnten eines Tages die ,Ursache'' der ,Krankheit'' Transsexualität finden und damit eine ,kausale Therapie''".
Sigusch bestätigt zwar, daß es Formen des Transsexualismus gibt, die als Folge von Grunderkrankungen auftreten. Doch: "Das Verrückte am Transsexualismus ist, daß die Transsexuellen nicht verrückt sind".
Statt auf weitere Erklärungen hofft Sigusch auf einen allgemeinen Bewußtseinswandel, der am entspannteren Umgang mit Homo- und Bisexualität bereits erkennbar wird.
Besonders jüngere Menschen trennen in Kopf und Bett immer häufiger das biologische Geschlecht von der gelebten Geschlechtsrolle. In seinem Buch "Geschlechtswechsel"* verlangt Sigusch, diese Verknüpfung "in unseren Gedanken noch stärker zu lockern".
Den Ureinwohnern Nordamerikas war das noch gelungen. Die meisten Indianer-Stämme kannten bis zur Ankunft der Weißen biologische Männer, die sich als Frauen kleideten und Männer oder Frauen heirateten.
Umgekehrt gab es auch Frauen, die als Männer lebten. Diese kleine Gruppe etwas anderer IndianerInnen bildete ein hochangesehenes drittes soziales Geschlecht. Seit 1994 trägt es die offizielle Bezeichnung "Two-spirits". Two-spirits galten als auserwählt. Sie verkörperten eine Philosophie, in der alles - Götter, Menschen und Welt - einer ständigen Wandlung unterlag.
Doch auch andere Nomadenvölker kannten solche Wesen. Bei den Skythen, einem blutrünstigen Volk vom Nordrand des Schwarzen Meeres, entdeckte Herodot im fünften Jahrhundert vor Christus "Weibmänner", die ihre Häuptlinge berieten. Diese "Enarees" behaupteten, die Zukunft zu kennen. Ihre Visionen entschieden bei den Skythen über Leben und Tod.
Der Siegeszug der christlichen Moral hat später im Abendland einen flexiblen Umgang mit Geschlechtsidentitäten verhindert. Jahwes Jünger eroberten die Welt, indem sie Sexualität auf Fortpflanzung reduzierten und sich fleißig vermehrten.
"Ein Weib soll nicht Mannsgewand tragen", verlangt das 5. Buch Moses (22,5), "und ein Mann soll nicht Weiberkleider antun; denn wer solches tut, der ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel."
Sigusch und seine Kollegen versuchten in den siebziger Jahren, das binäre abendländische Schema durch eigene Geschlechtsrollen für Transsexuelle zu erweitern. Doch der "Geschlechtswahn" Transsexueller ist mit Utopien nicht zu lindern: Er bezieht seine selbstzerstörerische Kraft aus der real existierenden Norm.
"Ist Ihnen denn nicht klar, daß Sie an den Grundpfeilern der abendländischen Kultur rütteln?" fragt der nervöse junge Arzt den ehemaligen Offizier einer Panzergrenadierbrigade, der gern eine Frau wäre. "Renate Anders" (Pseudonym) schildert dieses Beratungsgespräch in ihrer Biographie "Grenzübertritt".
Sie hatte dem Arzt zuvor erklärt, daß sie der "Pathologisierung" entgehen würde: "Ich will im Vollbesitz meiner Kräfte, souverän und autonom, meine Rolle verlassen und werde Ihnen nicht den Gefallen eines Selbstmordversuches tun."
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