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Bearbeitet von Nikita Noemi
Rothenbächer 2012
Gynäkomastie
(Vergrößerung der männlichen Brustdrüse)
Unter einer Gynäkomastie versteht man eine gutartige ein-
oder beidseitige Vergrößerung der männlichen Brustdrüse (Drüsenkörpers). Sie
ist keine eigenständige Erkrankung, sondern ein Symptom, das auf eine hormonale
Störung hinweist. Von dieser echten Gynäkomastie unterscheidet man die
"Pseudogynäkomastie" oder Lipomastie , einer Vergrößerung der Brust
durch Fett. Hierbei ist nie ein Drüsenkörper tastbar.
Wie kommt es zu einer Gynäkomastie?
Die Gynäkomastie kann als normale oder krankhafte
Veränderung entstehen:
Normal (physiologisch) tritt sie auf als:
Neugeborenengynäkomastie, ausgelöst durch die weiblichen
Hormone der Mutter, die über die Plazenta (Mutterkuchen) auf das Neugeborene
übertragen wurden.
Pubertätsgynäkomastie die sich wieder zurückbildet, und
durch vorübergehend vermehrte Bildung/Umwandlung von Hormonvorstufen in
weibliches Geschlechtshormon (Östron/Östradiol) in Fett- und Muskelgewebe
entsteht.
Altersgynäkomastie: Durch eine zunehmende Fettgewebsmasse
bei abnehmender Körpermasse und eine dadurch erhöhte Umwandlung von männlichen
Hormonen (Androgene) in weibliche Hormone (Östrogene) im Fettgewebe.
Gleichzeitig dazu nimmt die männliche Hormonbildung im Hoden ab.
Pseudogynäkomastie: bei allgemeiner Fettsucht (Adipositas)
Krankhaft (pathologisch) tritt die Gynäkomastie auf bei:
1.) Mangel an männlichen Hormonen (Hypogonadismus)
Die häufigste Ursache für diese Erkrankung ist ein Gendefekt
(Klinefelter-Syndrom) durch welchen die betroffenen Männer (1 Fall pro 1000
männlichen Neugeborenen) ein zusätzliches weibliches Geschlechtschromosom
(X-Chromosom) aufweisen.
Androgenresistenz: Bei dieser Erkrankung entfalten die
männlichen Hormone keinerlei Wirkung an den Zielorganen. Dadurch kommt es zu
einer vermehrten Ausschüttung geschlechtshormonstimulierender Hormone und es
überwiegen die Wirkungen der weiblichen Hormone.
Androgenmangel: Durch Hodenentzündungen (Masern,
Tuberkulose), Verletzungen, Kastrationen, Operationen kann nicht mehr genügend
männliches Hormon produziert werden.
Bei einem nicht angelegten Hoden während der
Embryonalentwickling (Hodenagenesie) fehlt die Hormonproduktion von Geburt an.
2.) Erhöhte Östrogenbildung:- Östrogentherapie (Transvestiten,
Transsexuelle)
3.) Chronische Erkrankungen:-
Leberzirrhose: Östrogen kann nicht mehr ausreichend abgebaut
werden, und auch der Abbau männlicher Hormone ist gestört wodurch eine
vermehrte Umwandlung in weibliche Hormone erfolgt.
Alkoholmissbrauch: Durch chronischen Alkoholmissbrauch
entsteht einerseits eine Leberzirrhose mit daraus resultierender Gynäkomastie,
andererseits wird die Bildung von männlichem Geschlechtshormon (Testosteron)
durch eine Verminderung der sexualhormonproduzierenden Hormone (der
Hirnanhangsdrüse) gebremst.
Niereninsuffizienz
4.) Durch Medikamente bedingte Gynäkomastie:
Eine Therapie mit weiblichen Hormonen oder eine Behandlung
mit Gegenspielern (Antagonisten) der männlichen Hormonen (z.B. bei der
Behandlung von Hodentumoren, Prostatakrebs) führt zu einer Gynäkomastie. Bei
anderen Medikamenten ist der Wirkungsmechanismus noch nicht genau geklärt:
Spironolacton, ein entwässerndes Medikament, Magenschutzpräparate (H2-Blocker)
einige Psychopharmaka und Antidepressiva, aber auch Rauschgifte wie
beispielsweise Heroin und Suchtgiftersatzpräparate wie Methadon können nach
längerer Einnahme zur Gynäkomastie führen.
5.) Hyperprolaktinämie
In der Hirnanhangsdrüse wird Prolaktin, ein die Brustdrüse
stimulierendes Hormon produziert. In der Schwangerschaft oder bei starkem
Stress kommt es zu einer vermehrten Produktion diese Hormons. In seltenen
Fällen kann ein Tumor in der Hirnanhangsdrüse zur Vermehrung dieser Zellen und
zu einer vermehrten Produktion dieses Hormon führen. Dies führt zu einer
beidseitigen Vergrößerung der Brustdrüse.
6.) Brustkrebs
Sehr sehr selten kann es auch bei Männern zum Auftreten von
Brustkrebs kommen.
Wie stellt der Arzt die Diagnose?
Bei der Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese) werden
Fragen bezüglich einer Medikamenteneinnahme und möglichen Erkrankungen der
Leber gestellt. Ein akutes Auftreten, Schmerzen, Spannungsgefühl sind typisch
für eine tumorbedingte Gynäkomastie.
Daran schließt sich eine genaue Untersuchung der Brüste und
des Hodens an, sowie eine Blutabnahme zur Bestimmung des Hormonstatus und der
Leberwerte. Zum Ausschluss eines Brustkrebs des Mannes wird eine
Ultraschalluntersuchung und eventuell eine Mammographie durchgeführt. Zur
Routinediagnostik gehören weiters ein Lungenröntgen und ein Ultraschall des
Oberbauchs (Leber, Niere, Nebenniere).
Wie wird eine Gynäkomastie behandelt?
Bei einer Pseudogynäkomastie muss keine Behandlung
durchgeführt werden. Nur bei großer psychischer Belastung kann eine operative
Entfernung der Brustdrüsen vorgenommen werden.
Auch die physiologische Gynäkomastie braucht zumeist keine
Behandlung.
Auch bei der echten Gynäkomastie handelt es sich zumeist nur
um eine leichte hormonelle Störung die sich von selbst zurückbildet. Auslösende
Medikamente sollten abgesetzt werden.
Bei bestehendem Androgenmangel wird männliches Hormon
substituiert, bei einem Prolaktinüberschuss sollte eine medikamentöse Therapie
mit Dopaminantagonisten (Gegenspieler von Prolactin) eingeleitet werden,
hormonproduzierende Tumore werden operativ entfernt.
Sollte es trotz Behandlung der der Gynäkomastie
zugrundeliegenden Erkrankung nicht zur Rückbildung derselben kommen, ist eine
operative Entfernung die Therapie der Wahl, eine externe Bestrahlung ist nicht
angezeigt, da es zum Auftreten von Drüsenkrebs kommen kann.
Brustvergrößerung bei Transsexuellen
Transsexualismus ist jedenfalls derzeit weiterhin als
psychische Regelwidrigkeit und nicht als bloße Normvariante anzusehen. Aufgrund
ihrer weiterhin gegebenen Sonderstellung bei Vorliegen in krankheitswerter Form
kann diese psychische Regelwidrigkeit grundsätzlich auch operative Eingriffe in
den gesunden Körper rechtfertigen.
Liegt die Indikation für operative Maßnahmen aufgrund von
Transsexualismus vor, besteht Anspruch auf eine deutliche anatomische
Annäherung an das andere Geschlecht. Dieser Anspruch geht bei Transsexuellen
Mann-zu-Frau über die Schaffung der Voraussetzungen des – derzeit nicht
unmittelbar anwendbaren – § 8 Abs. 1 Nr. 4 TSG hinaus und kann auch einen
Anspruch auf operativen Brustaufbau bei fehlender Anlage, jedoch nicht einen
Anspruch auf Brustvergrößerung begründen.
Mit dieser Begründung ist in dem hier vorliegenden Fall vom
Landessozialgericht Baden-Württemberg die Klage auf Kostenübernahme einer
Brustvergrößerung abgewiesen worden. Die Klägerin wurde 1964 anatomisch
männlich geboren. Aufgrund der Diagnose Transsexualismus Mann-zu-Frau wurde im
Februar 2008 nach vorheriger Östrogentherapie eine geschlechtsangleichende
Operation durchgeführt. Die Kosten dafür wurden von der Beklagten übernommen,
nachdem die Voraussetzungen hierfür im sozialmedizinischen Gutachten vom
08.01.2008 (Dr. M.-J.) als erfüllt angesehen worden waren. Dort heißt es u.a.,
die Kostenübernahme-Empfehlung beziehe sich auf den Aufbau einer Neo-Vagina,
nicht etwa auf den zusätzlichen weiteren Eingriff einer operativen Brustaugmentation.
Am 31.03.2008 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Kostenübernahme für
eine Brustvergrößerung. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des MDK ein, der
die Voraussetzungen für die Übernahme der begehrten Maßnahme als nicht gegeben
ansah, da sie nach der Entwicklung einer mäßigen, aber seitengleichen
weiblichen Brust nicht medizinisch indiziert sei. Die Beklagte lehnte die
Kostenübernahme ab. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat die Klägerin vor
dem Sozialgericht Freiburg Klage erhoben. Nachdem dort die Klage abgewiesen
worden ist1 hat die Klägerin vor dem Landessozialgericht Berufung eingelegt.
Nach Auffassung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg
stellt nicht jede körperliche Unregelmäßigkeit eine ärztlicher Behandlung
bedürfende Krankheit dar. Notwendig ist, dass der Versicherte in seinen
Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder die anatomische Abweichung
entstellend wirkt.2. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
Die hier begehrte Behandlung der Mikromastie der weiblichen
Brust dient nicht der Behebung organischer Funktionsdefizite oder Beschwerden.
Behandlungsbedürftigkeit setzt ihrerseits Behandlungsfähigkeit voraus, die im
Hinblick auf die Funktionsfähigkeit nicht gegeben ist. Auch körperliche
Beschwerden gehen von einer kleinen weiblichen Brust nicht aus.
Die Brüste der Klägerin wirken auch nicht entstellend. Um
eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Anormalität.
Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die
nahe liegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und
damit zugleich erwarten lässt, dass die Betroffene ständig viele Blicke auf
sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus
dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, sodass
die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Um eine Auffälligkeit
eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche
Erheblichkeitsschwelle überschritten sein: Es genügt nicht allein ein markantes
Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die
Ausbildung eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche
Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon
bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi „im Vorbeigehen“
bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den
Betroffenen führt. Die Rechtsprechung hat als Beispiele für eine Entstellung
das Fehlen natürlichen Kopfhaares bei einer Frau oder eine Wangenatrophie oder
Narben im Lippenbereich angenommen oder erörtert. Das Bundessozialgericht hat
namentlich eine Entstellung bei fehlender oder wenig ausgeprägter Brustanlage
unter Berücksichtigung der außerordentlichen Vielfalt in Form und Größe der
weiblichen Brust abgelehnt3.
Eine derart erhebliche Auffälligkeit, wegen der die Klägerin
ständig viele Blicke auf sich ziehen und zum Objekt besonderer Beachtung
anderer würde, weswegen sie sich aus dem Leben in der Gemeinschaft
zurückzuziehen und zu vereinsamen drohte, macht die Klägerin selbst nicht
geltend. Die in Rede stehende körperliche Auffälligkeit hat nicht eine solche
Ausprägung, dass sie schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen
quasi „im Vorbeigehen“ bemerkbar ist und regelmäßig zur Fixierung des Interesses
anderer auf die Klägerin führt4. Sie kann außerdem für Abhilfe im Alltag durch
entsprechende Kleidung sorgen, wenn sie ihr äußeres Erscheinungsbild im
Hinblick auf die Erwartungshaltungen Dritter verändern will5.
Der körperliche Befund der Mamma-Mikromastie begründet kein
ärztliches Behandlungsbedürfnis der Brüste und stellt damit keine Krankheit im
Sinne des § 27 Abs. Satz 1 SGB V dar.
Operative Eingriffe in gesunde Körperteile zur mittelbaren
Behandlung anderer Krankheiten bedürfen einer Rechtfertigung, die im Falle der
mittelbaren Behandlung seelischer Störungen grundsätzlich nicht gegeben ist.
Gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V müssen alle Leistungen der
gesetzlichen Krankenversicherung, und damit auch Krankenbehandlungen
ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und das Maß des Notwendigen
nicht überschreiten dürfen. Leistungen, die nicht notwendig oder
unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die
Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12
Abs. 1 Satz 2 SGB V). An der Notwendigkeit (wie der Zweckmäßigkeit) einer
Krankenbehandlung i. S. d. §§ 27 Abs. 1 Satz 1, 12 Abs. 1 SGB V fehlt es von
vornherein, wenn ihre Wirksamkeit bzw. ihr therapeutischer Nutzen für die
Erkennung oder Heilung der jeweiligen Krankheit oder für die Verhütung ihrer
Verschlimmerung bzw. die Linderung der Krankheitsbeschwerden nicht festgestellt
werden kann. Ausschlaggebend sind grundsätzlich die Maßstäbe der
evidenzbasierten Medizin. Setzt die Krankenbehandlung entgegen der Regel nicht
unmittelbar an der Krankheit bzw. am erkrankten Organ selbst an, soll der
Behandlungserfolg vielmehr mittelbar durch einen Eingriff an einem an sich
gesunden Organ erreicht werden, bedarf die Notwendigkeit der Krankenbehandlung
einer besonderen Rechtfertigung im Rahmen einer umfassenden Abwägung zwischen
dem voraussichtlichen medizinischen Nutzen und den möglichen gesundheitlichen
Schäden. In diese Abwägungsentscheidung sind auch Art und Schwere der
Erkrankung, die Dringlichkeit des Eingriffs und etwaige Folgekosten für die
Krankenversicherung einzubeziehen6.
Danach sind Operationen am gesunden Körper, die psychische
Leiden beeinflussen sollen, nicht als notwendige Behandlung i.S.d. § 27 Abs. 1
SGB V zu werten, sondern vielmehr der Eigenverantwortung der Versicherten
zugewiesen. Denn Operationen am gesunden Körper zur Behebung psychischer
Störungen sind nicht gerechtfertigt, vor allem, weil bei damit verbundenen
nicht unerheblichen gesundheitlichen Risiken die psychischen Wirkungen körperlicher
Veränderungen nicht hinreichend verlässlich zu prognostizieren sind7. Es wird
nicht gezielt gegen die eigentliche Krankheit selbst vorgegangen, sondern es
soll nur mittelbar die Besserung eines an sich einem anderen Bereich
zugehörigen gesundheitlichen Defizits erreicht werden. Damit besteht die
Schwierigkeit einer Vorhersage der psychischen Wirkungen von körperlichen
Veränderungen, so dass der Erfolg, der ggf. die mit dem Eingriff in den
gesunden Körper zur mittelbaren Beeinflussung eines psychischen Leidens
verbundenen Risiken rechtfertigen könnte, unsicher ist.
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Ein Anspruch – einer genetischen Frau – auf
Brustvergrößerung wäre damit im vorliegenden Fall zu verneinen, weil auch ein
seelisches Leiden selbst im Falle der Suizidgefährdung8 einen
Behandlungsanspruch zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht
begründen könnte.
Abweichende Maßstäbe gelten aber bei Vorliegen von
Transsexualismus (F64.0), der weiterhin aus Regelwidrigkeit anzusehen ist und,
der aufgrund seiner Sonderstellung bei Vorliegen in einer krankheitswerten Form
grundsätzlich auch operative Eingriffe rechtfertigen kann, wobei der
Behandlungsanspruch aber auf eine deutliche körperliche Angleichung an das
andere Geschlecht beschränkt ist.
Der Transsexualismus stellt weiterhin eine psychische
Regelwidrigkeit dar. Nach der Internationalen statistischen Klassifikation der
Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision, German
Modification, Version 2012 stellt der Transsexualismus eine Persönlichkeits-
und Verhaltensstörung in Form der Störung der Geschlechtsidentität dar.
Transsexualismus (F64.0) wird definiert als der Wunsch, als Angehöriger des
anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist mit
Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen
Geschlecht einher. Es besteht der Wunsch nach chirurgischer und hormoneller
Behandlung, um den eigenen Körper dem bevorzugten Geschlecht soweit wie möglich
anzugleichen.
Allerdings sind der Wunsch und die Durchführung von
Operationen nach neueren Erkenntnissen nicht mehr kennzeichnend für das
Vorliegen von Transsexualität. Das Landessozialgericht schließt sich der
entsprechenden Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom
11.01.2011 an. Dort hat das Bundesverfassungsgericht u.a. ausgeführt, dass der
Operationswunsch einerseits nicht mehr als zuverlässiger diagnostischer
Indikator für das Vorliegen von Transsexualität angesehen werde, da der Wunsch
nach einer “Geschlechtsumwandlung” auch eine Lösungsschablone für psychotische
Störungen, Unbehagen mit etablierten Geschlechtsrollenbildern oder für die
Ablehnung einer homosexuellen Orientierung sein könne, und andererseits nach
neueren Erkenntnissen auch nicht mehr notwendige Voraussetzung für die Annahme
von Transsexualität sei. Für entscheidend werde nicht mehr das Streben nach
einer geschlechtsangleichenden Operation, sondern vielmehr die Stabilität des
transsexuellen Wunsches gehalten9.
Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass die gegenwärtige
Entwicklung in der medizinischen Wissenschaft dazu führt, dass
somatomedizinische Maßnahmen auch bei Transsexuellen grundsätzlich nicht mehr
als Krankenbehandlung anzusehen sind, sondern im Wesentlichen zur Unterstützung
des Entfaltungsprozesses transsexueller Menschen dienen sollen. Dies könnte
jedenfalls das Ergebnis einer weitgehenden Entpathologisierung der
Transsexualität10 und eines Paradigmenwechsels in ihrem Verständnis als einer
gesunden Normvariante der sexuellen Identität sein11. Damit würde sich nach dem
geltenden Recht die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für
eine operative Behandlung aus dem durch Transsexualismus bedingten Leidensdruck
nicht mehr begründen lassen. Eine solche Behandlung wäre damit dem Bereich der
Eigenverantwortung der Versicherten zuzuweisen und aus eigenen Mitteln zu
finanzieren, wenn nicht das Leiden an dieser regelrechten Normvariante als
eigenständige, im Einzelfall nicht nur psychotherapeutische Maßnahmen, sondern auch
körperliche Eingriffe rechtfertigende Störung klassifiziert oder ggf. eine
Rechtsgrundlage zur Leistungspflicht anderer Leistungsträger geschaffen würde.
Unabhängig hiervon geht das Landessozialgericht aber nach
derzeitigem Erkenntnisstand weiterhin davon aus, dass es sich bei
Transsexualismus um eine Geschlechtsidentitätsstörung im Sinne einer
psychischen Regelwidrigkeit und nicht lediglich um eine seltene Normvariante
handelt.
Dem Transsexualismus als psychischer Regelwidrigkeit kommt
eine Sonderstellung zu, die weiterhin gerechtfertigt ist, und einen Anspruch
auf operative Eingriffe in den gesunden Körper als notwendige Krankenbehandlung
begründen kann, wenn dieser in einer besonders tief greifenden Form besteht.
Die Transsexualität hat als psychische Störung in der
Rechtsordnung durch das „Gesetz über die Änderung der Vornamen und die
Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen
(Transsexuellengesetz – TSG)“ vom 10.09.1980 eine Sonderstellung erhalten.
Unter den Voraussetzungen des § 1 TSG wird einem Transsexuellen die Möglichkeit
gegeben, seinen Vornamen in einen solchen ändern zu lassen, der dem seiner
transsexuellen Prägung entspricht (sogenannte “kleine Lösung”). Demgegenüber
sieht die sogenannte “große Lösung” unter den Voraussetzungen des § 8 TSG eine
Änderung der Geschlechtszugehörigkeit vor. Hierzu wurden gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 3
und 4 TSG u. a. eine dauernde Fortpflanzungsunfähigkeit sowie ein, die äußeren
Geschlechtsmerkmale verändernder operativer Eingriff vorausgesetzt, durch den
eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts
erreicht worden war. Mit diesen Regelungen wurde namens- und
personenstandsrechtlich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
Oktober 197812 reagiert13, der der damalige medizinische Erkenntnisstand
zugrundelag. Mit der Entwicklung geschlechtsanpassender Operationen in den
1960er Jahren war die Transsexualität als Leiden am falschen Körper definiert
und die Behandlung auf somatische Eingriffe fokussiert worden. Daraus wurde die
Auffassung abgeleitet, alle Transsexuellen würden nach einer
geschlechtsanpassenden Operation streben,14.
Das Bundesverfassungsgericht hatte hierzu ausgeführt, der
Transsexuelle begnüge sich nicht wie der Transvestit mit dem Tragen der
Kleidung des anderen Geschlechts; er fühle sich dem anderen Geschlecht ganz und
gar zugehörig. Seine Geschlechtsorgane und -merkmale, die nicht zu dem
erfühlten Geschlecht passten, empfinde er – im Gegensatz zum Homosexuellen,
Transvestiten und Fetischisten – als Irrtum der Natur. Er sei daher mit allen
Mitteln bestrebt, diesen Irrtum zu korrigieren, und versuche mit größter Zielstrebigkeit,
seinen Wunsch nach vollkommener Geschlechtsumwandlung durchzusetzen. Ja, er
schrecke nicht vor den gefährlichsten und schmerzhaftesten
Selbstverstümmelungen zurück, wenn er auf andere Weise mit seinen Bestrebungen
nicht durchdringe15. Das Bundesverfassungsgericht, das damals auch noch davon
ausging, dass der männliche Transsexuelle den homosexuellen Mann ablehne und
ausdrücklich den heterosexuell orientierten Partner suche, legte in dieser
Entscheidung weiter dar, dass nach den vorliegenden wissenschaftlichen
Erkenntnissen Versuche, Transsexuelle in ihrer psychosexuellen Grundstruktur
durch Psychotherapie oder Hormonbehandlung umzustimmen, bisher gescheitert
seien. Die einzig sinnvolle und hilfreiche therapeutische Maßnahme bestehe nach
Ansicht der Wissenschaftler darin, den Körper des Transsexuellen der erlebten
Geschlechtsidentität soweit wie möglich anzupassen. Nur so könne die Gefahr von
Selbstverstümmelung und Selbstmord, die bei Transsexuellen immer gegeben sei,
abgewehrt werden.
Die Sonderstellung des Transsexualismus ist auch nach den
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts16 weiterhin gerechtfertigt. In diesem
Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass zwischen 20 und 30
% der Transsexuellen, die einen Antrag auf Vornamensänderung stellten, in
Deutschland dauerhaft in der “kleinen Lösung” ohne Operation verblieben und
dementsprechend individuelle therapeutische Lösungen als erforderlich erachtet
würden, die von einem Leben im anderen Geschlecht ganz ohne somatische Maßnahmen,
über hormonelle Behandlungen bis hin zur weitgehenden operativen
Geschlechtsangleichung reichen könnten. Auf der Grundlage dieses geänderten
Erkenntnisstand hat es festgestellt, dass es gegen Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 in
Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verstößt, dass ein homosexueller Transsexueller
nur dann eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründen kann, wenn sein
empfundenes und nicht sein anatomisches Geschlecht Personenstandsmerkmal ist,
was gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG einen seine äußeren Geschlechtsmerkmale
verändernden operativen Eingriff sowie dauernde Fortpflanzungsunfähigkeit
voraussetzt. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung sind § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4
TSG unanwendbar damit keine operativen Angleichungen für die Änderung des
Personenstands mehr erforderlich17.
Die Unanwendbarkeit des § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG aus den
dargestellten Gründen berührt nach Ansicht des Senats aber noch nicht die
grundsätzliche Sonderstellung Transsexueller. Sie beruht insbesondere nicht auf
der Annahme, dass die Erfolgsaussicht geschlechtsangleichender Operationen
aufgrund der der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2011
zugrunde liegenden neueren medizinischen Erkenntnissen ebenso ungewiss sind,
wie dies bei körperlichen Anpassungen aufgrund anderer psychischer Leiden
angenommen wird. Vielmehr geht auch das Bundesverfassungsgericht weiterhin
davon aus, dass vielen Transsexuellen eine geschlechtsanpassende Operation eine
erhebliche Erleichterung ihres Leidensdrucks verschafft, die manche schon
vorher durch Selbstverstümmelung und Selbstkastration zu erreichen
versuchten16.
Auch Transsexualismus kann aber nur dann operative Maßnahmen
rechtfertigen, wenn er in einer besonders tief greifenden Form vorliegt
Es bleibt festzuhalten, dass bei Transsexuellen nicht
grundsätzlich ein behandlungsbedürftiger regelwidriger Zustand besteht, solange
eine deutliche körperliche Annäherung an das Erscheinungsbild des gefühlten
Geschlechts durch einen die äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen
Eingriff nicht erreicht worden ist. Hiervon geht auch die Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts aus, die im Hinblick auf die unterschiedlichen
Erscheinungsformen der Transsexualität auf den Einzelfall abstellt, wobei erst
der Leidensdruck, der eine Behandlung notwendig macht, die Regelwidrigkeit zur
Krankheit im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V qualifiziert. Auch bei
Transsexualismus (F64.0) ist daher ein hiervon ausgehender Leidensdruck zu
fordern, der der Transsexualität im Einzelfall Krankheitswert verleiht18 und
den Anspruch auf notwendige Krankenbehandlung rechtfertigt.
Darüber hinaus ist auch hier trotz der Prämisse einer den
Erfolg der Linderung versprechenden, grundsätzlichen operativen Behandelbarkeit
des durch krankheitswertigen Transsexualismus bedingten seelischen
Leidensdrucks unter Berücksichtigung der Risiken eine Abwägung im Einzelfall
vorzunehmen. Hierbei sind nicht nur die Risiken der Operation selbst zu
berücksichtigen. Denn auch die gegengeschlechtliche Hormontherapie, die
lebenslang fortgesetzt werden muss, hat nicht nur irreversible körperliche
Folgen, sondern bringt gesundheitliche Risiken wie zum Beispiel erhöhtes
Thrombose-Risiko, Diabetes, chronische Hepatitis und Leberschäden mit sich16.
Nur dann, wenn psychiatrische und psychotherapeutische
Mittel das Spannungsverhältnis und den hieraus resultierenden Leidensdruck
nicht zu lindern oder zu beseitigen vermögen, kann es damit zu den Aufgaben der
gesetzlichen Krankenkassen gehören, die Kosten für eine geschlechtsangleichende
Maßnahmen zu tragen19. Auch im Falle der Transsexualität bleibt der operative
Eingriff in den gesunden Körper zur Behandlung einer psychischen Störung dabei
ultima ratio und setzt dementsprechend die Erfüllung der hierfür aufgestellten
Kriterien voraus, insbesondere auch längere psychiatrische
Behandlungsversuche18. Dem entspricht die „Begutachtungsanleitung
Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualität“, die vom Spitzenverband
Bund der Krankenkassen am 19.05.2009 als Richtlinie nach § 282 Abs. 2 Satz 3 SGB
V erlassen wurde. Danach wird Transsexualität erst durch den klinisch
relevanten Leidensdruck im Einzelfall zu einer krankheitswertigen Störung bzw.
zu einer behandlungsbedürftigen Erkrankung im Sinne des
Krankenversicherungsrechts, wobei auch in der Behandlung der Transsexualität
psychiatrische und psychotherapeutische Maßnahmen Vorrang haben. Leistungen für
geschlechtsangleichende Maßnahmen sind damit nur dann von der gesetzlichen
Krankenversicherung zu erbringen, wenn nach Ausschöpfung psychiatrischer und/oder
psychotherapeutischer Maßnahmen ein krankheitswertiger Leidensdruck
verbleibt20.
Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass es, auch wenn
derzeit operative Maßnahmen für die Änderung des Personenstands rechtlich nicht
mehr Voraussetzung sind, für die Beurteilung des Behandlungsanspruchs von
Transsexuellen bei der Besonderheit bleibt, dass die Angleichung des gesunden
Körpers an das aufgrund einer psychischen Geschlechtsidentitätsstörung
empfundene Geschlecht als erfolgversprechend im Sinne einer Linderung des
Leidens angesehen wird und trotz der damit verbundenen erheblichen
gesundheitlichen Risiken als ultima ratio in besonders schweren Fällen als
gerechtfertigt in Betracht kommt.
Liegt die Indikation für operative Maßnahmen aufgrund von
Transsexualismus vor, besteht Anspruch auf eine deutliche anatomische
Annäherung an das andere Geschlecht. Dieser Anspruch geht bei Transsexuellen
Mann-zu-Frau über die Schaffung der Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 4 TSG
hinaus und umfasst unter bestimmten Voraussetzungen auch einen Anspruch auf
operativen Brustaufbau bei fehlender Anlage, jedoch nicht eine
Brustvergrößerung.
Zum Umfang des Anspruchs auf Angleichung hat das
Bundessozialgericht in seinem Urteil21 ausgeführt, dass transsexuelle
Versicherte nicht Anspruch auf jegliche Art von geschlechtsangleichenden
operativen Maßnahmen im Sinne einer möglichst großen Annäherung an ein
vermeintliches Idealbild und ohne Einhaltung der durch das Recht der
Gesetzlichen Krankenversicherungen vorgegebenen allgemeinen Grenzen haben.
Ausschlaggebend sind demnach insbesondere nicht subjektive Vorstellungen,
sondern ein verallgemeinernder, sich an einer gewissen Typik und
Variationsbreite ausrichtender regelhafter Maßstab. Die Ansprüche sind daher
beschränkt auf einen Zustand, bei dem eine deutliche Annäherung an das
Erscheinungsbild des anderen Geschlechts eintritt22.
Für die Frage, welche konkreten operativen Maßnahmen vom
Behandlungsanspruch umfasst sind, können die Voraussetzungen, die zur Erfüllung
des Tatbestandsmerkmals der „deutlichen Annäherung“ des § 8 Abs. 1 Nr. 4 TSG,
gefordert wurden, herangezogen werden. Diese sind allerdings aufgrund der
Entstehungsgeschichte der Norm und des unterschiedlichen Regelungsgegenstands
nicht vollständig übertragbar.
Bei der Beschränkung auf die Forderung nach einer deutlichen
Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts in § 8 Abs. 1 Nr. 4
TSG ging der Gesetzgeber von der Erkenntnis aus, dass bei Frau-zu-Mann
Transsexuellen jedenfalls nach dem damaligen medizinischen Wissensstand eine
Angleichung an das männliche Geschlecht im Genitalbereich nicht möglich bzw.
nicht sinnvoll war, wobei unterschiedliche Anforderungen für die
Personenstandsänderung von Frau-zu-Mann und Mann-zu-Frau Transsexuellen
gleichheitsrechtlich problematisch erschienen23. Streitig war vor diesem
Hintergrund, ob diese Voraussetzung im Hinblick auf die Garantie der
Menschenwürde und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit weit
auszulegen war, so dass bei Transsexuellen Frau-zu-Mann bereits die Entfernung
der Brüste für die deutliche Annäherung ausreichte, oder ob eine so weitgehende
äußere geschlechtliche Anpassung, insbesondere in Form eines
Scheidenverschlusses, vorzunehmen war, wie dies nach dem jeweiligen
medizinischen Wissensstand möglich war24 Eine Genitalangleichung war
demgegenüber bei Mann-zu-Frau Transsexuellen erforderlich und ausreichend. Es
waren für die personenstandsrechtliche Anerkennung nach dem
Transsexuellengesetz bei einer Mann-zu-Frau Transsexuellen damit die Amputation
des Penisschaftes und der Hoden sowie die Bildung von Neovulva, Neoklitoris und
Neovagina mit der Schaffung eines neuen Harnausgangs erforderlich25.
Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzung der deutlichen
Annäherung an das weibliche Geschlecht, weshalb ihr Personenstand noch unter
der Geltung des § 8 Abs. 1 Nr. 4 TSG geändert worden ist. Dementsprechend
bestünde bei Maßgeblichkeit dieses Begriffs kein weitgehender Anspruch auf die
begehrte Operation.
Das Landessozialgericht geht allerdings davon aus, dass,
soweit, wie hier, eine Indikation der operativen Genitalangleichung besteht,
auch ein darüber hinaus gehender Anspruch auf operativen Brustaufbau zur
Annäherung der Brüste an weibliche Brüste bestehen kann, wenn bei fehlender
Brustanlage sich keine weiblichen Brüste gebildet haben und eine weitere
Hormonbehandlung keinen Erfolg mehr verspricht.
Dies setzt nach Ansicht des Landessozialgerichts
Baden-Württemberg grundsätzlich die Durchführung der hormonellen Therapie und
der genitalangleichenden Operation voraus. Ein Anspruch ausschließlich auf eine
Operation zum Aufbau einer weiblichen Brust dürfte ohne – vorherige –
Genitalangleichung ausgeschlossen26 dagegen ausgeschlossen sein, auch wenn
unter den betroffenen Mann-zu-Frau Transsexuellen, die körperliche Veränderungen
anstreben, als größter Wunsch nach körperlicher Veränderung die Entwicklung
einer weiblichen Brust gilt und einige Betroffene ihren Penis akzeptieren
können27. Denn Anspruch auf eine angleichende (Teil-)Operation kann nur zur
Annäherung an einen regelhaften Körper (d.h. Mann oder Frau) und nicht zur
Schaffung eines regelwidrigen Zustands begehrt werden28.
Unter diesen Voraussetzungen besteht als letztes Mittel auch
ein Anspruch auf operativen Brustaufbau bei fehlender Brustanlage. Dem steht
nicht entgegen, dass bei genetischen Frauen ein organischer Krankheitswert
selbst bei fehlendem (Brust-)Gewebe verneint wird, und nach der Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts auch psychische Leiden bei genetischen Frauen in
solchen Fällen einen Anspruch auf eine Operation zum Brustaufbau nicht
begründen können29. Denn dies wird damit begründet, dass derzeit aufgrund medizinischer
Kenntnisse zumindest Zweifel an der Erfolgsaussicht von derartigen Operationen
zur Überwindung einer psychischen Krankheit bestehen30. Die unterschiedliche
Bewertung beruht dementsprechend darauf, dass die operative Angleichung bei
besonders tiefgreifenden Formen des Transsexualismus, wie dargelegt, als
erfolgversprechend anzusehen ist, wohingegen der Erfolg operativer Maßnahmen
zur Behandlung seelischer Leiden im Übrigen weitgehend umstritten und insofern
nach bisherigen Kenntnisstand ungewiss ist.
Eine operative Brustvergrößerung ist nach Ansicht des
Landessozialgerichts dagegen auch zur Behandlung einer besonders tief
greifenden Form des Transsexualismus Mann-zu-Frau keine notwendige
Krankenbehandlung. Dies ergibt sich daraus, dass grundsätzlich nur ein Anspruch
auf deutliche Annäherung an den weiblichen Körper und nicht auf möglichst
weitgehende Angleichung und erst recht nicht an ein Idealbild weiblicher Brüste
besteht.
Die weibliche Brustdrüse, ihre Größe und Form unterliegt
einer großen individuellen Varianz, die hauptsächlich im Zusammenhang mit der
Gesamtkonstitution steht. Als Normwert gilt formal ein Brustgewicht von 200-450
g. Abgesehen von individuellen Unterschieden befindet sich die Brustwarze in
etwa auf der Höhe der 4. Rippe. Die Glandula mammaria besteht aus Drüsen-,
Fett- und Bindegewebe; der Anteil des Fettgewebes ist dabei für die Größe und
die Form der Brust von entscheidender Bedeutung31. Im Hinblick auf die damit
gegebene Vielfalt in Form und Größe der weiblichen Brust32 ist eine deutliche
Annäherung an die Anatomie des weiblichen Körpers insoweit bereits dann
erreicht, wenn weibliche Brüste – unabhängig von deren Größe, Form oder
Symmetrie – vorhanden sind, wie sie bei genetischen Frauen vorkommen.
Die grundsätzlich unterschiedliche Beurteilung des
operativen Behandlungserfolgs bei Transsexualität begründet zwar im Einzelfall,
wie hier, einen Anspruch auf eine operative Angleichung an die weiblichen
Genitalien und ggf. den Aufbau einer fehlenden Brust (Amastie, Athelie), nicht
aber einen Anspruch auf eine bestimmte – nachträgliche – Gestaltung dieser
Körperteile33. Sie rechtfertigt es daher nach Ansicht des Landessozialgerichts
auch nicht, soweit weibliche Brüste vorhanden sind, für den Anspruch auf deren
operative Veränderung bei Transsexuellen Mann-zu-Frau einen anderen Maßstab als
den für genetische Frauen geltenden anzulegen, da es insoweit nicht mehr um die
Angleichung an das weibliche Geschlecht, sondern die Gestaltung bereits
vorhandener weiblicher Geschlechtsmerkmale geht.
Nach diesem Maßstab steht der Klägerin der geltend gemachte
Anspruch nicht zu, da sich bei ihr eine weibliche Brust aufgrund der
hormonellen Behandlung entwickelt hat und sie lediglich deren Vergrößerung
begehrt.
Im vorliegenden Fall steht fest, dass bei der Klägerin, bei
der eine operative Genitalangleichung zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung aufgrund ärztlicher Empfehlung, insbesondere der Zustimmung
des MDK gewährt worden ist, Transsexualität in einer besonders tief greifenden
Form vorliegt, die grundsätzlich auch einen Anspruch auf Krankenbehandlung in
Form der operativen Angleichung ihres Körpers an einen weiblichen Körper
begründet. Die weitere, von der Klägerin begehrte operative Maßnahme ist aber
auch bei der hier vorliegenden besonders tief greifenden Form des
Transsexualismus Mann-zu-Frau keine notwendige Krankenbehandlung mehr.
Bei der Klägerin ist eine genitalangleichende Operation
durchgeführt worden. Es ist zudem eine Hormontherapie erfolgt, worauf sich eine
mäßige, aber seitengleiche weibliche Brust entwickelt hat. Nach den Aussagen
des behandelnden Gynäkologen, die auch von den Gutachtern des MDK nicht in
Zweifel gezogen worden sind, ist zwar nach der Genitalangleichung und
Hormonbehandlung ein weiteres Brustwachstum nun nicht mehr zu erwarten. Nachdem
sich aber eine weibliche Brust entwickelt hat, besteht ein Anspruch auf
Angleichung nicht.
Auf der Grundlage der Stellungnahmen des MDK und des
behandelnden Frauenarztes und Psychiaters Dr. H. u.a. steht fest, dass sich bei
der Klägerin weibliche Brüste entwickelt haben. Die Aussage des Arztes für
Plastische Chirurgie Dr. Sch., wonach die Klägerin nur ein minimales
Brustwachstum zeige, was immer noch einer männlichen Brust entspreche, enthält
seine subjektive Wertung des optischen Erscheinungsbildes der Brust der
Klägerin, wie sie sich aufgrund der Hormonbehandlung entwickelt hat, die die
objektive medizinische Beurteilung im Sinne einer Mikromastie der weiblichen
Brust nicht in Frage stellt. Bei der Mikromastie (Mammahypoplasie =
Unterentwicklung der Brust) handelt es sich um eine sonstige angeborene
Fehlbildungen der Mamma (Q83.8). Sie liegt vor, wenn die Brustentwicklung
unzureichend ist, was verschiedene Ursachen haben kann, wie z.B. Hormonmangel
oder gering vorhandenes Brustdrüsengewebe. Sie ist durch ein Gewicht von
weniger als 200 g definiert. Damit liegt lediglich eine Normabweichung vor, die
nach dem obigen Maßstab grundsätzlich und auch bei Transsexuellen Mann-zu-Frau
die operative Korrektur als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung nicht
rechtfertigt.
Das Landessozialgericht verkennt nicht, dass bei
Transsexualismus in einer besonders ausgeprägten Form, wie sie bei der Klägerin
vorliegt, derzeit weiterhin davon auszugehen ist, dass die operative Anpassung
des gesunden Körpers an das aufgrund einer Identitätsstörung empfundene
Geschlecht als erfolgversprechende Behandlung zur Linderung des seelischen
Leidens angesehen wird und insofern ein wesentlicher Unterschied zu anderen
Frauen besteht, die unter Fehlbildungen ihrer Brüste leiden. Allerdings
rechtfertigt dies, wie dargelegt, nach Ansicht des Landessozialgerichts nicht,
Transsexuellen Mann-zu-Frau zur deutlichen Annäherung an das Erscheinungsbild
des weiblichen Geschlechts über den Anspruch auf weibliche Brüste hinaus auch
einen Anspruch auf Brustvergrößerung im Falle deren Unterentwicklung
einzuräumen.
Dem hilfsweise gestellten Beweisantrag, von Amts wegen ein
gynäkologisches Sachverständigengutachten einzuholen zur Frage, ob die bei der
Klägerin aufgrund der hormonellen Therapie entwickelte mäßige, aber
seitengleiche Brust zu einer deutlichen Annäherung an das Erscheinungsbild des
weiblichen Geschlechts geführt hat, war nicht zu entsprechen.
Die Feststellung, ob bei der Klägerin nach ihrem äußeren
Erscheinungsbild eine deutliche Annäherung an das weibliche Geschlecht
eingetreten ist, bedarf keines medizinischen Fachwissens. Es handelt sich bei
dem Begriff der „deutlichen Annäherung“ vielmehr um einen Rechtsbegriff, so
dass die aus diesem Begriff abzuleitenden Anforderungen nicht durch einen
medizinischen Sachverständigen, sondern, wie geschehen, vom Senat im Wege der
Auslegung zu ermitteln sind. Danach kommt es, wie sich aus dem oben Dargelegten
ergibt, nach Ansicht des Senats entscheidend auf den hier nicht streitigen
medizinischen Befund des Vorhandenseins – unterentwickelter – weiblicher Brüste
an und, anders als für die Frage der Entstellung, nicht auf eine betrachtende
Beurteilung – hier: der Geschlechtszugehörigkeit des nackten Körpers -. Auch
eine solche betrachtende Bewertung bedürfte allerdings nicht der medizinischen
Sachkunde. Vorsorglich stellt das Landessozialgericht aufgrund seiner eigenen
Lebens- und Alltagserfahrung, mithin kraft eigener Sachkunde fest, dass der
Körper der Klägerin aus der Sicht eines verständigen Betrachters bereits eine
deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild eines weiblichen Körpers aufweist.
Die mäßigen Brüste, die sich aufgrund der hormonellen Behandlung entwickelt
haben, erscheinen dabei, wie sich auf den in der Akte befindlichen Fotographien
erkennen lässt, als unterentwickelte, kleine weibliche Brüste, was sie aus
medizinischer Sicht sind.
Das Sozialgericht hat die Klage damit im Ergebnis zu Recht
abgewiesen, weshalb die Berufung der Klägerin erfolglos bleiben muss.
Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 25. Januar
2012 – L 5 KR 375/10
SG Freiburg, Gerichtsbescheid vom 07.01.2010 – ↩
zu alledem näher: LSG Baden-Württ., Urteile vom 05.04.2006 –
L 5 KR 3888/05; vom 22.11.2006 – L 5 KR 4488/05 und vom 10.12.2008 – L 5 KR
2638/07, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG, insbesondere Urt. v.
19.10.2004 – B 1 KR 9/04 R, “Mammareduktionsplastik”↩
BSGE 93, 252↩
vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 19.10.2004 – B 1 KR 3/03 R↩
vgl. auch BSG, Urt. v. 28.02.2008, – B 1 KR 19/07 R, zu
einem Fall der Brustasymmetrie↩
BSG, Urt. v. 19.10.2004 – B 1 KR 9/04 R; BSGE 85, 86↩
auch dazu näher LSG Baden-Württ., Urteile vom 05.04.2006 – L
5 KR 3888/05 und vom 22.11.2006 – L 5 KR 4488/05, unter Hinweis auf die
Rechtsprechung des BSG, etwa BSGE 90, 289↩
vgl. zur nicht wahnhafte Dysmorphophobie vgl. BSG, Urteil
vom 19.10.2004 – B 1 KR 3/03 R↩
vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 11.01.2011 – 1 BvR 3295/07
↩
Rauchfleisch, Transsexualität. Transidentität, 2009↩
Haupt, Transsexualität, Grundlegende
neurowissenschaftlich-medizinische, menschenrechtskonforme
Positionsbestimmungen und daraus abzuleitende Empfehlungen für die Begleitung,
Betreuung und Therapie transsexueller Menschen („Altdorfer Empfehlungen“,
Finale Version 1.0) ↩
BVerfG, Urteil vom 11.10.1978 – 1 BvR 16/72↩
vgl. BT-Drucks. 8/2927↩
vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.01.2011 – 1 BvR 3295/07↩
unter Berufung auf: Nevinny-Stickel und Hammerstein, NJW
1967, S. 663, 665↩
BVerfG, Beschluss vom 11.01.2011 – 1 BvR 3295/07↩↩↩
vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.10.2011 – 1 BvR 2027/11↩
BSG, Urteil vom 06.08.1987 – 3 RK 15/86↩↩
BSG, Urteil vom 10.02.1993 – 1 RK 14/92; Beschluss vom
20.06.2005 – B 1 KR 28/04 B↩
Begutachtungsanleitung 2.4↩
BSG, Urteil vom 28.09.2010- B 1 KR 5/10 R↩
unter Hinweis auf § 8 Abs. 1 Nr. 4 TSG und Sächsisches LSG,
Urteil vom 03.02.1999 – L 1 KR 31/98↩
Schneider, Zur Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit
nach dem Transsexuellengesetz, NJW 1992, S. 2940; vgl. zu den aus § 8 Abs. 1
Nr. 4 TSG abgeleiteten Voraussetzungen auch BayOLG, Beschluss vom 14.06.1995 –
1Z BR 95/94, NJW 1996, 791; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 24.06.1991 – 3 W
17/91, NJW 1992, 760; OLG Hamm, Beschluss vom 15.02.1983 – 15 W 384/82, FamRZ
1983, 491↩
vgl. BayOLG; OLG Zweibrücken; OLG Hamm a.a.O.↩
vgl. BVerfG a.a.O.↩
a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.02.2011 – L 1 KR
243/09↩
vgl. BVerfG a.a.O. m.N.↩
BSG, Urteil vom 28.09.2010 – B 1 KR 5/10 R↩
vgl. zuletzt BSG, Urt. v. 28.02.2008, – B 1 KR 19/07 R,
m.w.N.; auch Urt. v. 19.10.2004, – B 1 KR 3/03 R↩
BSG, Urt. v. 28.02.2008, – B 1 KR 19/07 R↩
A. Petzold, W. Distler, Klinik und Poliklinik für
Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus
Dresden, Entwicklungsanomalien der adoleszenten Mamma und ihre operative
Korrektur, in: Der Gynäkologe, 2004, S. 791↩
vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2004 – B 1 KR 9/04 R; Urteil vom
28.02.2008 – B 1 KR 19/07 R↩
vgl. im Ergebnis auch LSG Hamburg, Urteil vom 02.02.2011 – L
1 KR 46/09 zur erneuten Brustkorrektur bei einem Transsexuellen Frau-zu-Mann↩
Jinekomasti Türkei auch billiger im Vergleich zu den Kosten der Gynäkomastie Chirurgie europäischer Länder.
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