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Bearbeitet von Nikita Noemi
Rothenbächer 2012
Ein Traum von Mädchen
Mit Hilfe von Hormonen darf ein 13-Jähriger sein Geschlecht
wechseln. Die Behandlung ist umstritten – und unumkehrbar
Jeden Abend nimmt Johanna das braune Fläschchen und zählt
die Tropfen. Zwölf Stück darf sie zurzeit nehmen. Bald werden es sechzehn, dann
zwanzig sein. Sie lässt die Tropfen in einen kleinen Becher fallen und trinkt
vorsichtig die durchsichtige Flüssigkeit. Dann legt sie sich schlafen in der
Hoffnung, beim Aufwachen ein bisschen mehr Mädchen zu sein.
Wer Johanna Below (Name von d. Red. geändert) sieht, hat
keinen Zweifel daran, dass sie ihrem Ziel sehr nahe ist. Die Haare sind lang
und dunkelblond, über der schlanken, noch kindlichen Figur trägt sie eine blaue
Jacke, dazu einen kurzen Rock und Turnschuhe. Wenn Johanna lächelt, blitzt eine
Zahnspange. Wenn sie sich schnäuzt, führt sie das Taschentuch mit beiden Händen
behutsam zur Nase. Ein Junge würde das nicht so machen. Ein 14-jähriges Mädchen
schon, eines das in Bravo und Jam am liebsten die Fotoromane liest, das in der
Schule Mathe hasst und später einmal Floristin werden möchte oder
Schauspielerin. „Andere Rollen zu spielen“, das gefalle ihr, sagt sie, „und
wenn die Leute klatschen“.
Mit anderen Rollen hat Johanna Erfahrung, solange sie denken
kann. Doch jetzt hat sie begonnen, ihr ganzes Leben unwiderruflich zu
verändern. Das hängt mit den Tropfen zusammen. Es sind Östrogene, Hormone, die
aus einem Mädchen eine Frau werden lassen und die Johanna fehlen. Denn sie kam
als Junge zur Welt, 1990, und bis heute quält sie das, was „der kleine
Unterschied“ genannt wird und in Wirklichkeit die Menschheit teilt wie nichts
anderes. Das wissen insbesondere diejenigen, die auf der einen Seite geboren
wurden, doch fühlen, dass sie auf die andere Seite gehören. Rund 6000
medizinisch betreute Transsexuelle gibt es laut Schätzungen in Deutschland.
Wenn sie erwachsen sind, können sie, nachdem sie längere
Zeit im neuen Geschlecht gelebt haben, mit Hormonen behandelt und schließlich
operiert werden: von Mann zu Frau, von Frau zu Mann. Sind sie jedoch noch
Teenager oder gar Kinder, wird es schwieriger, sehr viel schwieriger. Bei
Johanna wagen Hamburger Ärzte und Psychologen den Versuch. „Wir haben es uns
nicht leicht gemacht“, sagt Achim Wüsthof von der Hamburger Universitätsklinik,
der Johanna die Hormone verschreibt. Weltweit gibt es kaum einen Patienten, der
zu einem früheren Zeitpunkt hormonell therapiert wurde. Monatelang hatte der
Psychiater Wilhelm Preuss aus der Abteilung für Sexualforschung Johanna
beobachtet. Er hatte nach Freunden und Hobbys gefragt, nach Ängsten und
Träumen. Die Ärzte haben geschaut, wie sie spricht und sich bewegt, und im
Beisein der Mutter ihr Leben aufgerollt. Am Ende musste eine vielköpfige
Ethikkommission die heikle Frage beantworten: Ist eine 13Jährige reif genug, zu
entscheiden, in welchem Körper sie in Zukunft leben möchte? Darf man einem
Teenager geschlechtsumwandelnde Medikamente geben, deren Folgen nicht mehr
rückgängig gemacht werden können? Soll man warten, ob die Pubertät Johanna vom
Wunsch, ein Mädchen zu sein, noch abbringt? Oder soll die Therapie eben gerade
vor der Pubertät beginnen, weil sich danach Johannas Körper so sehr verändert
haben wird, dass immer sichtbar sein wird, dass sie einst ein Mann war. Jeder
Weg birgt das Risiko einer späteren Katastrophe. Nur wenige ärztliche
Entscheidungen sind so folgenschwer und beruhen gleichzeitig auf so unsicheren
medizinischen Indizien wie die zur Behandlung eines Minderjährigen, der meint,
im falschen Körper zu stecken. Denn bislang hat die Wissenschaft keine
verlässlichen genetischen oder körperlichen Besonderheiten entdeckt, an denen
man transsexuelle Menschen erkennen könnte. Johanna hat die genetische
Ausstattung eines Jungen, sie trägt die Geschlechtsteile eines Jungen, in ihr
wirken die Hormone eines Jungen. Die Ärzte müssen mit dem vorlieb nehmen, was
Johanna erzählt und wie sie sich gibt.
„Geh doch zu den Mädchen“
In diesem Punkt scheint ihr bisheriges Leben kaum Zweifel
zuzulassen. Johanna wünschte, ein Mädchen zu sein, seitdem sie wusste, was
Mädchen und Jungen sind, erzählt ihre Mutter. Mit Vorliebe verkleidete sie sich
und wollte die Kleider und Röcke auch dann nicht ausziehen, wenn anderen
Kindern das Spiel längst langweilig geworden war. Im Kindergarten hielt sie
sich an die Mädchen. Wurden die Jungen aufgerufen, blieb sie sitzen. Jeder
Friseurbesuch wurde zum Kampf. „Sie wehrte sich, als würde man ihr sonst etwas
abschneiden“, erinnert sich die Mutter. Schon bald habe sie es aufgegeben,
gegen den Willen ihres damaligen Sohnes anzugehen: „Johanna war so. Es hat
alles nichts genutzt.“ Für eine Zeit lang fanden Mutter und Kind einen
Kompromiss: Zu Hause darfst du dich wie ein Mädchen kleiden, draußen auf der
Straße ziehst du dich wie ein Junge an.
Schwieriger wurde es, als Johanna in die Schule kam. Die
Jungen wunderten sich, dass ihr Klassenkamerad nie mit ihnen spielte.
Irgendwann beim Sport warfen sie ihn aus der Umkleidekabine: „Geh doch zu den
Mädchen.“ Das tat sie. In den Ferien, vor dem Beginn der zweiten Klasse, fiel
die Entscheidung: Vom kommenden Schuljahr an kannst du in Mädchenkleidern
gehen. Am ersten Tag traute sich Johanna nicht. Am zweiten fasste sie sich ein Herz
und setzte sich im Kleid auf ihren Platz. Das Leben als Junge war beendet. Als
sie drei Jahre später die Schule wechselte, wusste außer den Lehrern und den
Klassenkameraden kaum jemand, dass Johanna einst Johannes hieß.
Eine derart ausgeprägte Rebellion gegen das angeborene
Geschlecht, in der Fachsprache Cross-Gender-Verhalten, kommt bei Kindern selten
vor. Die Ausbildung ihrer Geschlechtsidentität beginnt früh und bleibt in der
Regel stabil. Bereits mit neun Monaten unterscheiden Säuglinge die Gesichter
von Männern und Frauen, mit 28 Monaten können sie Männer und Frauen benennen,
wenig später den Geschlechtern Stereotype zuordnen (stark-schwach, laut-leise).
Im Kindergarten spielen sie häufiger mit ihresgleichen. Und spätestens zum
Schulbeginn wissen sie, dass das Geschlecht etwas Dauerhaftes ist, das sich
nicht mehr verändert. Zwar kommt es nicht selten vor, dass Jungen lieber mit
Mädchen spielen, Mädchen sich wie Jungen kleiden. Solch geschlechtsatypisches
Verhalten gehe jedoch „mit wachsendem Alter auf Druck der Peergroup meist rasch
zurück“, sagt der Kinderpsychologe Bernd Meyenburg.
Ist das nicht der Fall, tauchen sie in Meyenburgs
Sprechstunde in der Frankfurter Universitätsklinik für Kinder und
Jugendpsychiatrie auf. Die meisten seiner kleinen Patienten sind männlich. Der
Grund: Ein Mädchen, das kurze Haare trägt, nur Hosen anzieht und mit Autos
spielt, fällt nicht so sehr auf wie ein Junge, der mit einem Rock herumläuft.
Vorrangiges Ziel der Gespräche ist nicht, betont Meyenburg, dass das Kind sein
Geschlecht unbedingt akzeptiert. Vielmehr versuche man gemeinsam
herauszufinden, wo die Ursachen der Störung liegen. So berichtet Meyenburg von
einem Mädchen, das unter seinem Geschlecht litt und jahrelang als Junge
auftrat. In der Therapie kam heraus, dass der Vater das Kind missbraucht hatte
und es sich deshalb sicher war, als Mädchen nur unglücklich werden zu können.
Solche Beispiele haben Meyenburg gegenüber dem frühen Beginn einer
geschlechtsverändernden Behandlung skeptisch gemacht: „Gerade in der Pubertät
kann so viel geschehen. Man sollte sie abwarten.“
Doch genau die machte Johanna panische Angst. Was ihr blühen
würde, wenn ihre Mannwerdung einsetzt, hat sie an ihren Brüdern sehen können.
Plötzlich beginnen Haare im Gesicht zu sprießen, die Figur schießt in die Höhe
und die Breite, die Stimme bricht. „Das wollte ich auf keinen Fall“, sagt
Johanna. Dann würde es unmöglich, weiter unerkannt als Mädchen durchzugehen.
Die bösen Hänseleien in der Schule, die jetzt nur sporadisch auftauchten
(„Zwitter, verpiss dich“), würden häufiger werden. Dann sähe sie später aus wie
jene erwachsene Transsexuelle, die sie getroffen hatte. „Sie lebte als Frau,
doch man sah ihr an, dass sie mal ein Mann gewesen war.“
Die Angst vor der Pubertät
Als sie zwölf war und die Hoden wuchsen, beschlossen die
Hamburger Ärzte nach Rücksprache mit den Psychologen, Johannas Pubertät
künstlich aufzuhalten. Sie spritzten einen Wirkstoff, der die Ausschüttung von
Sexualhormonen in der Hirnanhangdrüse unterdrückt. Doch das war nur der erste
Schritt. Denn allzu lange darf man keinen Heranwachsenden hormonell
neutralisieren. Die Therapie steht im Verdacht, den Knochenaufbau zu
beeinträchtigen. Zudem laufen die Patienten Gefahr, unnatürlich in die Höhe zu
schießen, weil die Sexualhormone auch dazu dienen, das Größenwachstum zu
regulieren. Zudem wuchs der Druck auf Johanna, als ihre Freundinnen begannen,
sich körperlich zu entwickeln – bei ihr jedoch nichts passierte.
„In der Pubertät gehen einige Mädchen und Jungen durch die
Hölle“, sagt Margaret Griffiths von Mermaids, einer englischen Selbsthilfegruppe.
Vielen betroffenen Teenagern fehlen die Freunde, berichtet Griffiths. Sie seien
schlecht in der Schule, weil sie sich auf nichts konzentrieren können. Einige
hegen Selbstmordgedanken.
So verzweifelt fühlte sich Johanna nicht. Sie hat Freunde und
leidet nicht an psychischen Begleitstörungen. Doch als sie vor die
Ethikkommission trat, die zu entscheiden hatte, ob sie die Hormone bekommen
sollte, die sie zum Mädchen reifen lassen, fühlte sich Johanna wie vor einem
Gericht, das ein lebenslanges Urteil sprechen wird. Einstimmig kamen die
Experten zum Schluss, dass Johanna transsexuell sei und die ersehnten Tropfen
bekommen dürfe. Dennoch wollten sich die Ärzte absichern. Mutter und Tochter
mussten unterschreiben, dass alle kommenden Schritte – etwa das Wachsen einer
Brust – nicht mehr rückgängig zu machen sind.
Kann sie verstehen, dass die Ärzte vorsichtig sind? „Nein“,
Johanna schüttelt energisch den Kopf. „Es gibt doch viele erwachsene
Transsexuelle“, ergänzt ihre Mutter. „Warum hat man die nicht alle früher
behandelt?“
Auch aus diesem Grund sind sie und ihre Tochter an die
Medien gegangen – um anderen Eltern Mut zu machen, eine frühere Therapie für
ihre Kinder zu fordern. Fragt man operierte Transsexuelle, hört man tatsächlich
neben Bewunderung für den Mut auch Neid, dass der jungen Schicksalsgenossin
viele Leidensjahre erspart bleiben. „Sie hat Glück, dass der Kelch an ihr
vorübergehen wird“, sagt Lena Clausen von Hansetrans, einer Hamburger
Selbsthilfegruppe transidenter Menschen. Doch längst nicht alle Transsexuelle
wissen bereits als Kind, dass Körper und Seele bei ihnen nicht zusammenpassen.
Umgekehrt entscheidet sich nur ein kleiner Teil der Kinder mit einer Störung
der Geschlechtsidentität später für eine Operation. Mitunter können sich hinter
dem Missbehagen am eigenen Körper auch erste Anzeichen einer Homosexualität
verbergen. Europaweit über die meisten Erfahrungen verfügt die Kinderabteilung
der Universitätsklinik Amsterdam.
Transsexuelle Kinder und Jugendliche aus den ganzen
Niederlanden werden hier nach strikten Regeln betreut. „Alle unsere Patienten
müssen die Pubertät zumindest gespürt haben“, sagt die Hormonspezialistin
Henrietta Delemarre. In der Regel werden geschlechtsverändernde Hormone erst
den 16-Jährigen verabreicht. Die Holländer haben Erfolg, bislang musste keine
Behandlung abgebrochen werden, weil ein Jugendlicher es sich während der
Therapie anders überlegt hätte.
Ihre große Patientenzahl soll den niederländischen Ärzten
nun ermöglichen, die biologische Basis der Transsexualität zu ergründen. Die
heißeste Spur führt die Forscher ins menschliche Hirn. Hier hat Delemarres
Kollege, der Endokrinologe Louis Gooren, bereits vor einigen Jahren auffällig
vergrößerte Nervenknoten bei Männern entdeckt, die im Laufe ihres Lebens zur
Frau geworden waren. Das Problem der Studie: Gooren hatte nur sechs (tote)
Patienten untersucht – eine zu kleine Gruppe, um allgemeingültige Aussagen
machen zu können. Mit modernen Verfahren wie der
Positronen-Emissions-Tomografie (PET) oder dem Magnetresonanzverfahren (MRI)
wollen die Amsterdamer Experten nun im Hirn junger Patienten nach
Besonderheiten suchen.
Vielleicht lässt sich irgendwann aufgrund anatomischer
Besonderheiten eine Art „cerebralen Zwittertums“ feststellen. Während das
Gehirn dem einen Geschlecht angehört, tendiert der Rest des Körpers zum
anderen. Ein solches Merkmal könnte den Ärzten helfen, mit größerer Gewissheit
schon früh eine Transsexualität zu diagnostizieren.
Auf den letzten Schritt jedoch müssten die betroffenen
Kinder und Jugendlichen auch dann noch warten. Die Geschlechtsangleichung mit
Skalpell und Messer wird ihnen aus gesetzlichen Gründen verwehrt, bis sie
volljährig sind. So lange muss auch Johanna ausharren. Bis dahin wird sie bei
jedem Toilettengang daran erinnert, dass sie anders ist. Sie muss beim
Schwimmen eine enge Hose unter der Bikinihose tragen und beim Shopping darauf
achten, dass sie Kleidung kauft, die „das da unten“ nicht allzu sichtbar werden
lässt.
Zumindest ihren Vornamen kann sie bereits offiziell ändern,
damit auch der letzte Lehrer in ihrer Schule sie nicht mehr mit Johannes
anreden darf. Das Verfahren läuft gerade. Wenn sie Bilder vom kleinen Jungen
mit diesem Namen heute sieht, erkennt sie sich längst nicht mehr wieder. „Ich
denke dann immer, das ist mein Bruder.“
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