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Bearbeitet von Nikita Noemi
Rothenbächer 2012
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Nicht jeder Bub, der ein Röckli trägt,
ist transsexuell. Langsam kommt die Medizin der Transidentität auf die Spur.
Für Kinder im «falschen» Körper gibts Hilfe.
Ein Mädchen aus Los Angeles sagte mit 18 Monaten: «Ich ein
Junge». An dieser Überzeugung hat sich bis heute nichts geändert, das Kind ist
mittlerweile acht Jahre alt. Es wollte nie Mädchenkleider tragen und besteht
seit dem Vorschulalter auf einen Bubennamen.
Für die Familie war die Geschlechtskrise zuerst ein Schock.
Die Mutter dachte, es sei eine Phase, das Mädchen vielleicht lesbisch. Doch nun
unterstützt sie den Wunsch ihres Kindes und zieht es als Junge auf. Die
Schulfreunde wissen nicht, dass ihr Gspänli biologisch gesehen ein Mädchen ist.
Beim ersten Anzeichen der Pubertät wird sie mit der Einnahme von Hormonen
beginnen, die aus ihr den Jungen machen sollen, als den sie sich fühlt.
Eine Hormonbehandlung mit zarten elf oder zwölf Jahren ist
keine leichte Kost. Für das betroffene Mädchen allerdings war es eine riesige
Erleichterung zu erfahren, dass es Medikamente gibt, die verhindern, dass ihm
Brüste wachsen, schreibt «Time». Den Körper dem gefühlten Geschlecht anzupassen
ist für das transidente Kind wertvoller als ein Leben ohne Medikamente.
Betroffenen trauen sich vermehrt Hilfe zu suchen
In den USA nimmt die Zahl der Behandlungen für Teenager und
Kinder, die sich im falschen Geschlecht fühlen, zu. Dabei geht es nicht um den
Jungen, der einfach gerne Röcke anprobiert oder das Mädchen, dass sich als
Huckelberry Finn ausgibt, sondern um Kinder, die sich sicher sind, im falschen
Körper zu stecken. Führend in dem Bereich ist das Kinderspital in Boston, das
seit 2007 eine Abteilung eigens für die Geschlechtsidentität bei Kleinkindern,
Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat. Jährlich werden etwa 19 Fälle
behandelt; das sind zwar immer noch sehr wenige, aber fast fünf Mal mehr, als
Ende der 1990er Jahre im Kinderspital dafür Hilfe suchten. «Time» berichtet
zudem von mehr Fällen in Los Angeles und Texas.
Auch in der Schweiz ist eine Zunahme feststellbar. Der
Psychotherapeut, Professor und Buchautor Udo Rauchfleisch beschäftigt sich seit
über 40 Jahren mit dem Thema Transidentität. Dass er in den letzten Jahren
vermehrt von Eltern mit Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang mit Geschlechtsidentitätsfragen
aufgesucht wurde, erklärt er sich damit, dass das Phänomen in der Bevölkerung
bekannter geworden ist, die Betroffenen ihre Identität eher wahr nehmen und
sich trauen, mit den Eltern darüber zu sprechen.
Die Pubertät vorzeitig stoppen
In den USA können Kinder unter 16 mit Hormonen behandelt
werden, um die Pubertät nach hinten zu verschieben. Die monatliche
Hormon-Injektion beginnt beim ersten Anzeichen der Pubertät, meist im Alter von
elf oder zwölf Jahren, und wird von The Endocrine Society, die sich seit 1969
mit der Hormonlehre beschäftigt, empfohlen.
Durch die frühzeitig eingesetzten Pubertätsblocker gewinnen
die Kinder einerseits Zeit, bevor sich ihr Körper zur Frau oder zum Mann
entwickelt. Wenn sie auch psychologisch und emotional in der Lage sind, sich
für ein Geschlecht zu entscheiden, kann durch eine weitere und wahrscheinlich
lebenslange Einnahme von gegengeschlechtlichen Hormonen das biologische
Geschlecht permanent verändert werden. Der Einsatz von Pubertätsblockern kann
vor späteren, operativen Eingriffen bewahren. Denn wenn die Brust oder der
Adamsapfel erst gar nicht wächst, müssen sie auch nicht später wieder entfernt
oder verändert werden.
In der Schweiz gibt es keine allgemein verbindlichen
Richtlinien für den Einsatz von pubertätsverzögernden Medikamenten. Udo
Rauchfleisch sieht zwar den Vorteil der Zeitgewinnung, doch für ihn steht die
intensive psychotherapeutische Begleitung im Vordergrund: «Auf diese Weise
lässt sich in den meisten Fällen innerhalb eines halben bis eines Jahres
entscheiden, ob es wirklich um Transidentität geht. Wenn dies klar ist, bin ich
für den Einsatz von gegengeschlechtlichen Hormonen.»
Frühe Behandlung für besseres Resultat
Auch für den Einsatz von gegengeschlechtlichen Hormonen
bestehen in der Schweiz keine verbindlichen Richtlinien. Die internationale
Endocrine Society mit Mitgliedern aus über 100 Ländern ihrerseits empfielt für
die Behandlung von minderjährigen Transsexuellen, die Pubertät zum gewünschten
anderen Geschlecht mit 16 Jahren einzuleiten und die Hormondosis langsam zu
steigern. Das Ergebnis sei deutlich besser, als wenn erst später damit begonnen
wird. Vor operativen Eingriffen bei Minderjährigen wird abgeraten, genaue
Überwachung und intensive psychologische Begleitung dagegen sind ein Muss.
Die Einnahme von Testosteron, Testosteronhemmern oder
Östrogenen ist nicht ungefährlich, sie birgt Risiken wie Thrombosen und Krebs.
In der kürzlich von Norman Spack, Direktor der Klinik in Boston,
veröffentlichten Studie über die Behandlung von Betroffenen in einem Zeitraum
von 12 Jahren sind keine Komplikationen eingetreten. Nach der Einnahme der
Pubertätsblocker hat sich nur eines der insgesamt 97 Kinder gegen die defintive
Umwandlung entschieden.
Andere Gehirnstruktur
Wie Rauchfleisch betont, muss vor einer Behandlung bei den
jungen Patienten die Frage geklärt werden, woher ihr Unwohlsein im eigenen
Körper kommt: «Geschlechtsidentitätskrisen können bei Jugendlichen im
Zusammenhang mit verschiedenen Problemen auftauchen. Transidentität hingegen
hat nichts mit dem Alter und der Entwicklungsphase eines Kindes zu tun. Sie
besteht, soweit wir wissen, schon von früh auf, möglicherweise schon seit
Geburt.»
Transidentität hat, wie der emeritierte Professor für
Klinische Psychologie an der Universität Basel sagt, selbst nichts mit
psychischen Störungen oder medizinischen Problemen zu tun. «Sie stellt eine
Variante der Identität dar.» Dennoch erhalten die betroffenen Kinder und
Menschen damit eine psychiatrische Diagnose, der Mensch wird damit als krank
etikettiert. Doch es gibt Ärzte, darunter auch Spack, die das ändern wollen.
Die Forschung deutet darauf hin, dass die Gehirne der transidenten Menschen dem
des anderen Geschlechts ähnlicher sind. Das komme schätzungsweise bei 0.01
Prozent vor.
Wer will das andere Geschlecht?
«Die Geschlechterrollen werden dann relevant, wenn es darum
geht, ob ein Kind in der weiblichen oder männlichen Rolle sozialisiert wird,
und wie es sich in der Öffentlichkeit zeigt», so Rauchfleisch. Es gibt auch
Kinder, die sich überhaupt nicht mit den vorherrschenden Geschlechterrollen
identifizieren können und mit den Konventionen, die ihnen aufgedrängt werden,
zu kämpfen haben. Auch die Rolle der Eltern muss genau untersucht werden. Die
Sexualität der Kinder könnte ein Auslöser für den Entscheid zur
Geschlechtsumwandlung sein. Möglicherweise können manche Eltern besser damit
umgehen, aus ihrem Sohn eine Tochter zu machen, als einen schwulen Sohn zu
haben, schildert «Time» die ethischen Vorbehalte von Margaret Moon, Mitglied des
Bioethik-Komitees der American Academiy of Pediatrics.
Spacks Studien zeigen, dass Kinder, die sich im falschen
Körper fühlen, sich zum Teil selber verstümmeln, um ihre Anatomie zu verändern.
Auch verbaler und psychischer Missbrauch kommt vor, und sie tendieren zu Stress
und Depressionen. Gemäss Spack verschwinden diese Probleme für gewöhnlich
wieder, wenn die Kinder behandelt werden und als das gewünschte Geschlecht
leben dürfen.
Mehr als zwei Möglichkeiten
Auch das Zwei-Geschlechter-Modell unserer Gesellschaft macht
es schwieriger für Individuen, deren Identität nicht der einen oder anderen
erwarteten Rolle entspricht. «Es wäre einfacher», so Rauchfleisch, «wenn es
Menschen möglich wäre, unabhängig von den Kategorien Frau und Mann, so zu
leben, wie sie sich fühlen».
Es gibt Gesellschaften, die andere Geschlechtsidentitäten
akzeptieren. So leben zum Beispiel die Hijras in Indien oder die Kathoeys in
Thailand als drittes Geschlecht. Die Ladyboys, glamouröse und attraktive
Männer, die sich in Frauen verwandelt haben, sind eine beliebte Attraktion für
Thai-Touristen. In der Kultur Polynesiens wiederum trifft man auf Fa'afafine,
biologische Männer, die sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale
haben und zumindest früher eine sehr angesehene Bevölkerungsgruppe waren.
Manche Kulturen definieren im Graubereich zwischen Mann und
Frau noch mehr Möglichkeiten. Die Lakota-Indianer kennen insgesamt vier
Geschlechter, die sich sprachlich als Mann, Frau, Mann-Frau und Frau-Mann
ausdrücken. So wird Raum geschaffen für eine vielschichtigere Identität, wo
Individuen, die nicht den klassischen Rollen entsprechen, aufgefangen werden.
Stellungnahme des Deutschen Ethikrats
Ein Umdenken ist – zwar langsam – im Gang. In seiner
Stellungnahme vom 23. Februar 2012 zur Situation intersexueller (Anm: nicht
dasselbe wie transsexuell) Menschen fordert der Deutsche Ethikrat, dass
Menschen, die sich aufgrund ihrer körperlichen Konstitution weder dem
Geschlecht «weiblich» noch «männlich» zuordnen können, im Personenstandsregister
auch die Option haben, sich als «anderes» einzutragen, beziehungsweise, dass
kein Eintrag erfolgen muss, bis die betroffene Person sich selbst entschieden
hat. In den USA ist dies schon möglich.
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