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Neu-Bearbeitet von Nikita Noemi
Rothenbächer 2012
Transsexualität als
gesellschaftliche Chance
Eine neue Sicht von
Transsexualität
Heute sprechen wir im Zusammenhang mit Heroinsüchtigen nicht
mehr von einem Drogenproblem, sondern von einem Suchtproblem, und die Junkies
betrachten und behandeln wir nicht nur als individuelle Suchtkranke, sondern
werten sie als sichtbaren Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen
Suchtproblematik, welche zur Hauptsache aus Millionen von Alkohol-, Nikotin-
und Medikamentensüchtigen mit Tausenden Toten jährlich und Milliardenschäden
für die Volkswirtschaft besteht.
Analog kann auch die gesellschaftliche Funktion der
Transsexuellen, als Sichtbarmachung einer grundlegenden, gesellschaftlichen
Sexismus-Problematik gedeutet werden. Dies bedeutet ein Abrücken von der
Definition des Transsexualismus als ein reines psychologisches Problem
einzelner Individuen, hin zu einer soziologischen und geschlechter-politischen
Deutung dieses Phänomens.
Transsexuelle machen -gesellschaftlich gesehen- auf eine
sehr spektakuläre Art das Unbehagen sichtbar, welches auch viele
nicht-transsexuelle Menschen bei der Erfüllung ihrer sozialen
Geschlechterrollen empfinden.
Körperbilder und Körpermodifikation
Transsexualität, so wie sie sich in den meisten Fällen äußert,
und wie sie in den Medien immer wieder dargestellt wird ("im falschen
Körper") ist ein Produkt des Sexismus. Die tiefe Sehnsucht vieler
Transsexueller, ihren Körper mit chemischen (Hormonen) und operativen Maßnahmen
dem anderen Geschlecht anzupassen, entspringt der Überzeugung, dass man erst
dann eine "richtige Frau" oder ein "richtiger Mann" ist,
wenn der Körper auch dementsprechend geformt ist und die entsprechenden
Merkmale aufweist. Denn Transsexuelle unterliegen den gleichen
gesellschaftlichen Körperidealen wie Nicht-Transsexuelle.
Auch unter Nicht-Transsexuellen ist es weit verbreitet, den
Körper gemäß den gängigen Körperbildern zu gestalten:
Frauen gehen ins Solarium
und zum Friseur, epilieren sich Oberlippe, Beine und Bikinizone, lassen sich
Permanent-Make-Up stechen, künstliche Fingernägel applizieren, machen Diät,
hungern, lassen sich Fett absaugen, das Gesicht liften und die Brüste Vergrößern
oder verkleinern. Männer machen Sport, Bodybuilding, nehmen Anabolika und
Designer-Food, um den Muskelaufbau zu beschleunigen, lassen sich die
ausgefallenen Haare auf dem Kopf re-implantieren. Es gibt auch mehr oder
weniger zweifelhafte Methoden zur Penisvergrösserung und Viagra stellt
–wenigsten vorübergehend- das verlorene Körperideal wieder her. Weitere sehr
populäre Körpermodifikationen für beide Geschlechter sind Tätowierungen und
Piercings. Nur in bestimmten Subkulturen sind Implantate (Stahlprofile,
Stahlkügelchen) und Amputationen üblich. Die Beschneidung der Knaben ist
integraler kultureller Bestandteil des Judentums und des Islams. Außereuropäische
und historische Kulturen kennen für unser Verständnis kaum nachvollziehbare
Formen von geschlechtlichen Körper-Modifikationen, wie das Einbinden der Füße
der Frauen im alten China, die "Giraffenhals-Frauen" in Burma oder
die Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen in weiten Teilen Afrikas.
Alle diese Beispiele sollen aufzeigen, wie stark bzw. wie ausschließlich
die Wahrnehmung von Ästhetik und Bedeutung des menschlichen Körpers kulturell
bestimmt ist. In keiner Kultur und in keiner historischen Epoche wird und wurde
der menschliche Körper so hingenommen, wie ihn die Natur geschaffen hat,
sondern immer wird und wurde er aufgrund von kulturell bestimmten Körperbildern
und nach bestimmten Idealen und Bedeutungs-Normen gestaltet.
Denken wir daran, wie stark Menschen darunter leiden, wenn
ihr Körper nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. Die Frau mit kleinen,
erschlafften oder in einer Krebsoperation entfernten Brüsten fühlt sich nicht
als richtige Frau. Bulimie und Anorexie sind die pathologischen Folgen des
Schlankheitswahns. Männer von kleiner Körpergröße, mit einem kleinen Penis oder
mit Erektionsstörungen leiden und Minderwertigkeitskomplexen. Und zu was allem
wären nicht-transsexuelle Menschen nicht bereit, um ihren abweichenden Körper
wieder mit dem gesellschaftlichen Körperbild in Einklang zu bringen.
Dieses Leiden Nicht-Transsexueller an ihrem unadäquaten
Körpers kann durchaus mit dem Leiden der Transsexuellen an ihrem geschlechtlich
verkehrten Körper verglichen werden. So gesehen sind die von Transsexuellen
gewünschten Hormontherapien und Genitaloperationen nur weitere –zugegeben sehr
tiefgreifende- Maßnahmen im Katalog der unendlichen Möglichkeiten der
Körpermodifikationen.
Eine Chance des Transsexualismus besteht darin, uns
drastisch vor Augen zu führen, wie stark Körperbilder unsere Selbstwahrnehmung
und unser Wohlbefinden in und mit unserem Körper beeinflussen.
Biologie ist nicht Schicksal
"Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu
gemacht", schrieb Simone de Beauvoir 1949 und legte damit den Grundstein
für die moderne Konzeption der Geschlechter. Die feministische
Geschlechterforschung hat gezeigt, wie Geschlecht als eine soziale Konstruktion
etabliert wird, als ein künstliches Konglomerat von Körperbildern,
Rollenvorschriften, Bedeutungen, Wertigkeiten, Rechten und Pflichten. Zum
sozial konstruierten Geschlecht gehört auch dessen Naturalisierung, also die
künstlich hergestellte Überzeugung dass die Geschlechter natürlich und
biologischen Ursprungs sind.
Als prominenteste Vertreterin der post-modernen
Geschlechtertheorie gilt wohl die amerikanische Philosophin Judith Butler,
Professorin an der Berkley Universität und Ikone der Queer-Bewegung. Um die
soziale Produktion von Geschlecht zu erklären, hat Butler den Begriff der
"Performanz" geprägt. Performanz ist die Darstellung von Geschlecht,
und zwar nicht als Ausdruck eines inneren Geschlechterkerns, sondern umgekehrt,
als ritualisierte Wiederholung von Verhaltensvorschriften, welche auf die Dauer
die Illusion einer Geschlechtsidentität erzeugt.
Butler bestreitet die Existenz einer essentiellen, dh. von
Geburt an und natürlich gegebenen Geschlechtsidentität, welche sich in den
Handlungen, Gesten und Sprache der Menschen, je nach Mann oder Frau
unterschiedlich, ausdrückt. Vielmehr beschreibt sie, wie als allererstes bei
der Geburt des Kindes seine Geschlechtszugehörigkeit durch die logische
Zuordnung zu einer der beiden Geschlechtskategorien anhand seines anatomischen
Geschlechts initiiert wird: "Ist es ein Junge oder ein Mädchen?", der
Blick zwischen die Beine liefert die Antwort. Im Verlaufe des Lebens wird das
Gefühl der Geschlechtszugehörigigkeit durch ritualisierte Wiederholung von
Konventionen erzeugt. Die fortdauernde Performanz der Geschlechtszugehörigkeit,
auch "doing gender" genannt, erzeugt rückwirkend die Illusion einer
natürlich gegebenen Geschlechtsidentität als Mann oder Frau.
Butler unterscheidet nicht zwischen echter und imitierter
Geschlechterperformanz. Die Inszenierung des Transvestiten, also des
biologischen Mannes, der eine Frau darstellt, ist genau so echt bzw. kopiert,
wie die "normale" Frau-Darstellung der biologischen Frau. Jede
Darstellung von Geschlecht ist immer nur eine individuell interpretierte
Nachahmung einer Fiktion. Die Vorlagen sind, durch gesellschaftliche Diskurse
erzeugte, normative Bilder von Mann und Frau, die von Instanzen und
Institutionen wie Staat, Wirtschaft, Kirche, Kultur, Familie etc. hergestellt
und zB. über Medien verbreitet werden.
Sprache als Mittel zur geschlechtlichen Selbstbestimmung
Die Sprache strukturiert unser Denken. Die sogenannte
"Sapir-Whorf-These" vom linguistischen Determinismus geht davon aus,
dass die Art und Weise, wie wir über die Wirklichkeit sprechen, nicht nur
unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit verändert, sondern die Wirklichkeit selber.
Was wir mit einem Wort bezeichnen, erhält eine kulturelle
Relevanz. Was nicht bezeichnet wird, kann nicht gedacht werden und existiert
deshalb nicht bewusst. Beispielsweise benennen Kartoffelbauern in den Anden bis
zu 70 Kartoffelsorten und kennen deren Eigenschaften, wo wir gerademal noch
zwischen Raclette Kartoffeln, Frühkartoffelen und Bintje unterscheiden. Durch
die differenzierte Benennung einer Einheit wird diese Einheit in ihrer
Differenziertheit sichtbar gemacht und wird aufgespalten in neue
Bedeutungseinheiten.
Übertragen auf die sprachliche Repräsentation und Produktion
von Geschlecht heißt dies: solange wir als Bezeichnung für die Geschlechter nur
Mann und Frau kennen und benutzen, können neue Geschlechter nicht gedacht und
nicht gelebt werden, und das weit verbreitete geschlechtliche Unbehagen wird
anhalten.
Deshalb ist es nötig, neue Bezeichnungen zu finden, um neue
geschlechtliche Existenzweisen zu schaffen. Die Worte Lesbe und Schwuler sind Schritte
in dieser Richtung. Weil die Begriffe Frau und Mann die Hetero-Sexualität
implizieren, war es nötig, die homosexuelle Frau und den homosexuellen Mann neu
zu bezeichnen.
Das Wort Transfrau bezeichnet eine Frau mit Penis, also eine
Frau mit einem biologisch männlichen Körper, die aber trotzdem eine
"richtige" Frau ist. Das Wort Frau kann eine Frau mit biologisch
weiblichen oder biologische männlichen Körper bezeichnen. Wenn explizit eine
biologische Frau bezeichnet werden soll, so muss dies ausgedrückt werden mit
biologische Frau, Bio-Frau oder Cisfrau. Das gleiche gilt analog bei den
Männern.
Wenn das Wort Transfrau mit der Bedeutung "Frau mit
Penis, also eine 'richtige Frau', genauso wie die Frau mit Vagina", in der
Sprache verankert ist, so entfällt die Notwendigkeit zur Genitaloperation bei
Transsexuellen. Anstatt die Anatomie operativ anzupassen wird der scheinbare
Widerspruch zwischen sex und gender, zwischen Körper und Geschlecht, durch
Sprache normalisiert, indem ein Ort in der Sprache geschaffen wird, wo
Transsexuelle sich daheim fühlen.
Das im Zusammenhang mit der Behandlung von Transsexuellen
sehr oft verwendete Wort "Geschlechtsanpassungsoperation" oder gar
"Geschlechtsumwandlungsoperation" suggeriert die Option, das
Geschlecht mittels Operation zu wechseln. Das ist nicht möglich, denn
Geschlecht ist eine soziale Konstruktion und kann nur mittels sozialer
Prozesse, in denen Sprache eine zentrale Rolle spielt, rekonstruiert werden.
Dabei ist ein wichtiges Element der Vorname, der immer auch Geschlechtsbezeichner
ist. Die Schweizerische Gesetzgebung lässt es nicht zu, einen Vornamen
anzunehmen, der ein anderes als das biologische Geschlecht markiert. Erst nach
erfolgter Genitaloperation, sind die Personenstandsänderung und der
Namenswechsel möglich. Diese Praxis ist wiederum sexistisch, denn sie
suggeriert, dass das –durch den Vornamen bezeichnete- Geschlecht dem Körper
folgt, und dass es möglich sei, das biologische Geschlecht eines Menschen
mittels eines vergleichsweise simplen kosmetischen Eingriffs am Genital zu
wechseln. Dies ist jedoch nur eine männlich-arrogante Allmachtsfantasie, denn
das biologische Geschlecht ist primär das genetische (oder chromosomale)
Geschlecht (xx / xy) und ist unveränderlich.
Transsexuelle als Avantgarde für die geschlechtliche
Befreiung der Nicht-Transsexuellen?
Das Ziel der "Heilung" von Transsexualität kann
letztendlich nur darin bestehen, den inneren Frieden zu finden.
Ich plädiere
für eine geschlechtliche Selbstbestimmung, welche den Menschen ermöglicht, unabhängig
von gesellschaftlichen Normen und Zwängen sich selbst zu finden
Ob und mit
welchen Körpermodifikationen diese Selbstfindung einhergeht, soll jeder Person
selbst überlassen werden. Zentral ist jedoch, dass wir uns nicht behandeln und
operieren lassen, weil es die Kultur, das Gesetz oder die Gesellschaft
verlangt, sondern weil wir es wollen und aus freiem Willen so wählen. Die große
Herausforderung besteht darin, das echte Eigene aus den tief ins
Unterbewusstsein eingeprägten gesellschaftlichen Normen und Bildern
herauszufiltern. Der erste Schritt dazu ist, sich immer wieder bewusst zu
machen, wie Sexismus in unseren Gesellschaften wirkt, und selbstkritisch zu
beobachten, wie wir davon beeinflusst werden.
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„Wenn man den Geist nicht so verändern kann, dass er zum
Körper passt, dann sollten wir uns vielleicht dazu
entschließen,
den Körper so zu verändern, dass er dem Geist entspricht.“
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