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Bearbeitet von Nikita Noemi
Rothenbächer 2012
TRANSSEXUALITÄT
Der Raum
zwischen den Geschlechtern...
Ärzte und Soziologen rätseln über die Bedeutung
winziger Zellknötchen im Hirn Transsexueller
Ihre ersten Frauenkleider kaufte sich Nicole mit 16. Bis
dahin hatte sie versucht, betont männlich aufzutreten – ebenso, wie der Vater
es sich von seinem Sohn wünschte. Doch etwas in Nicole sträubte sich gegen die
Rolle eines Jungen. Erst als sie in einer Illustrierten einen Artikel über
Transsexuelle las, ahnte sie, dass auch sie zu jenen Menschen gehört, die „im
falschen Körper stecken“: äußerlich ein heranreifender Mann, empfand sie sich
selbst als Frau.
Zwei Jahrzehnte später hat Nicole fast vollendet, was der
Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch „eine gigantische
Neuschöpfung“ nennt: Lange Haare, hochhackige Schuhe, kurzer Rock und Make-up
signalisieren heute unzweideutig Nicoles Weiblichkeit.
Doch die Veränderungen reichen tiefer: Hohe Dosen weiblicher
Sexualhormone haben den Körper gerundet und einen Busen wachsen lassen. Im Lauf
dieses Jahres hat Nicole dann auch die „geschlechtsangleichenden“ Operationen
durchführen lassen: Was Hodensack und Penis an Haut hergaben, hat ein Chirurg
zur Kreation einer Scheide verwendet. Eine Kehlkopfoperation hat Nicoles Stimme
aufgehellt und den verräterischen Adamsapfel beseitigt.
Zwischen14000 und 16000 Transsexuelle leben nach Schätzungen
in Deutschland. Meist sind sie alle zu einer ähnlichen
medizinisch-bürokratischen Odyssee durch Arztpraxen und Operationssäle,
Behörden und Gerichte gezwungen, bevor sie ein Leben nach ihren eigenen
Vorstellungen führen können.
Ob die Probleme Transsexueller eine biologische Ursache haben
oder ob die Wurzel allen Übels eher in gesellschaftlichen Strukturen zu finden
ist, darüber streiten Wissenschaftler weltweit seit Jahren.
Neuen Zündstoff liefert Dick Swaab, Neurobiologe am niederländischen
Institut für Hirnforschung in Amsterdam. In der aktuellen Ausgabe des
Wissenschaftsmagazins „Nature“ beschreibt Swaab eine anatomische Besonderheit,
die er in den Gehirnen sechs verstorbener Transsexueller gefunden hat:
Nach der Größe bestimmter, kaum stecknadelkopfgroßer Nervenknötchen zu urteilen,
stammten alle sechs Gehirne von Frauen. Allerdings waren alle sechs mit einem
männlichen Körper zur Welt gekommen. Erst später hatten sie eine
Geschlechtsumwandlung durchführen lassen, weil sie sich selbst als Frau
erlebten.
Ist das der lange gesuchte Beweis dafür, dass Transsexualität eine
biologische Basis hat? Bislang verlief die Fahndung nach genetischen,
hormonellen oder biochemischen Besonderheiten nämlich ebenso unbefriedigend wie
das Studium der Familien von Transsexuellen, um etwa typische soziale Faktoren
aufzuspüren. „Es kann jeden treffen“, glaubt Louis Gooren. Gooren,
Hormonspezialist an der Freien Universität Amsterdam, gilt als einer der
weltweit erfahrensten Transsexuellen-Ärzte.
Zusammen mit einem Team von Psychotherapeuten und Chirurgen hat er
mehr als 1500 holländische Transsexuelle während der Geschlechtsumwandlung
betreut. Auch die sechs, deren Gehirne Swaab jetzt untersucht hat, waren zu
Lebzeiten Goorens Patientinnen gewesen.
In der Tat haben Forscher in den letzten
Jahren eine Reihe kleiner Nervenknötchen im Gehirn entdeckt, die sich bei
Männern und Frauen in Größe und Aufbau deutlich unterscheiden (siehe FOCUS
14/95). Über die Funktionen dieser Kerne wissen die Forscher kaum etwas.
Allerdings liegen die meisten im Hypothalamus, einer Region von der Größe einer
Walnuss, der unter anderem eine entscheidende Rolle in der Steuerung des
Sexualverhaltens zugeschrieben wird.
Im Hypothalamus befindet sich auch der von Swaab untersuchte dreiteilige
BST-Kern: Dessen mittlerer Teil, BSTc, ist bei Männern im Durchschnitt mehr als
doppelt so groß wie bei Frauen. Auch für Gooren ließ der Vergleich des BSTc der
sechs Transsexuellen-Gehirne mit denen von zwölf heterosexuellen Männern und
elf Frauen „keinen Zweifel zu“: Die Größe der Kerne entspreche eindeutig dem
Geschlecht ihrer (weiblichen) Identität, nicht dem des (männlichen) Körpers.
Transsexualität, eine Laune der Natur, eine „Krankheit“? Stephan
Hirschauer, Soziologe an der Universität Bielefeld, ist da ganz anderer
Ansicht. Auf dem „14. Harry Benjamin International Gender Dysphoria Symposium“
im Kloster Irsee provozierte er Internisten, Chirurgen und Psychotherapeuten
mit der These, Transsexualität sei keine Krankheit, sondern ein kulturelles Phänomen.
Dass man die Lösung der Probleme Transsexueller in die Hände von
Hormonspezialisten und Chirurgen lege, sei etwa so, als würde „man Hautärzten
die Lösung des Rassenproblems übertragen“.
Hirschauers Schlag gegen das ärztliche
Selbstverständnis ist eine moderne Variante des uralten Streits, inwieweit der
Unterschied der Geschlechter biologisch oder sozial begründet ist. Für die eine
Seite ist „Geschlecht“ das Resultat eines bereits in der Gebärmutter
beginnenden genetisch festgelegten Entwicklungsprozesses, für die andere das
Ergebnis eines permanenten sozialen Einordnungsprozesses.
Auch Gooren ist sehr zurückhaltend bei der Interpretation seiner
Befunde. „Bevor in der Wissenschaft etwas als bewiesen gilt, müssen andere es
wiederholt haben“, sagt er. Dass man diesen Leitsatz ernst nehmen
sollte, zeigen die Untersuchungen, auf deren Basis Simon LeVay vom
Salk-Institut in San Diego vor vier Jahren behauptet hatte, in den Gehirnen von
Homosexuellen gäbe es „weibliche Strukturen“. Seine umstrittenen Schlussfolgerungen
konnten nie bestätigt werden. Auch Swaab hat homosexuelle Männer untersucht,
jedoch keinerlei Unterschied zu heterosexuellen Männern gefunden.
Die Aussagekraft solcher Studien ist wegen der kleinen Fallzahlen
extrem von der Auswahl der Vergleichsgruppen abhängig: Verschärft wird das
Problem bei den untersuchten Mann-zu-Frau-Transsexuellen noch dadurch, dass sie
jahrelang hochdosierte weibliche Sexualhormone erhalten. Zwar
versucht Swaab dies zu berücksichtigen, indem er in die Vergleichsgruppen Männer
und Frauen eingeschlossen hat, die wegen anderer Krankheiten unter
Hormonbehandlung standen. Dennoch kann die Möglichkeit, dass auch
die massive Hormontherapie die Größe der Hirnkerne beeinflusst haben könnte,
nicht völlig ausgeschlossen werden.
Selbst wenn der in Verdacht geratene Nervenknoten
tatsächlich eine Rolle in der Festlegung der Geschlechtsidentität spielen
sollte, ist damit die Diskussion über Biologie oder Umwelt längst nicht
entschieden. Die nächste Frage liegt auf der Hand: Wann
entwickelt sich der Größenunterschied des Kerns – vor oder nach der Geburt?
Tatsächlich gibt es Hinweise, dass Teile des menschlichen
Gehirns ihre geschlechtstypische Differenzierung erst Jahre nach der Geburt
abschließen. Belegt ist das durch einen weiteren Kern im
Hypothalamus, dem „sexually-dimorphic-nucleus“: Dieser Zellhaufen ist bei
Jugendlichen und Männern mittleren Alters im Durchschnitt doppelt so groß wie
bei gleich alten Frauen.
Das Verblüffende: Bei neugeborenen Mädchen
und Jungen ist das winzige Nervenknötchen noch gleich groß entwickelt, erst
zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr stirbt bei den Mädchen die
Hälfte dieser Nervenzellen. Möglicherweise bestimmen also nicht nur chemische
Signale wie Sexualhormone die Ausprägung von Geschlechtsunterschieden im
Gehirn. Auch soziale Erfahrungen in den ersten Lebensjahren könnten eine Rolle
spielen.
Internationale Vergleiche belegen den kulturellen Einfluss auf das
Phänomen der Transsexualität. Bemerkenswert ist besonders das
Geschlechterverhältnis: In vielen westlichen Ländern sind Männer, die sich als
Frau empfinden, zwei- bis dreimal häufiger als der umgekehrte Fall der
Frau-zu-Mann-Transsexuellen.
In der Türkei aber, wo völlig andere Begriffe von Mann und Frau
herrschen, ist dieses Geschlechterverhältnis genau umgekehrt: Die im Westen
selteneren Frau-zu-Mann-Transsexuellen sind dort sogar achtmal häufiger als die
andere Geschlechtsvariante. Auch in den osteuropäischen Ländern überwiegen
Frau-zu-Mann-Transsexuelle.
„In diesen Ländern findet sich damit ein Geschlechterverhältnis“, sagt
Hirschauer, „wie es auch bei uns im letzten Jahrhundert typisch war.“ Ein starkes Argument für die Vermutung, dass erst das soziale
Geschlechtsverständnis der westlichen Gesellschaften einen Großteil des
Psychodrucks erzeugt, der viele Transsexuelle zur Geschlechtsumwandlung treibt.
Von Geburt an erfahren Kinder die herrschende Einteilung der
Geschlechter: Und die sieht in westlichen Gesellschaften eben nur zwei fest an
den Körper gebundene Kategorien vor. „Der Raum zwischen den Geschlechtern“,
sagt Hirschauer, „ist kaum bewohnbar.“
Dieses krasse
„Entweder-Oder“ wird für Transsexuelle gleich zweifach zur Falle. Zum einen ist
es die Quelle der Intoleranz, der Transsexuelle meist in der Öffentlichkeit
begegnen, weil sie nicht in das zweigeschlechtliche Schema passen. Da sie zum
anderen aber auch selbst dieses Klischee von den eindeutig definierten
Geschlechtern verinnerlicht haben, können die Betroffenen nicht einmal ihren
eigenen Normen entsprechen.
Die Spaltung reicht
tief: Leben sie der sozialen Bedeutung ihres Körpers entsprechend, empfinden
sie eine tiefe innere Unzufriedenheit, leben sie nach ihrer inneren Identität,
setzen sie sich dem Angriff der Umgebung aus. Die meisten brauchen Jahre, bis
sie den Mut finden, aus dem Dilemma auszubrechen. Erst als „die innere Not
größer war als die Angst vor den Folgen“, sagt Nicole, „habe ich mich als Frau
in die Öffentlichkeit getraut.“
Das Experiment zur
Hypothese, dass Toleranz Transsexuellen das Skalpell ersparen könnte, ist
bereits im Gang. Allein der öffentliche Diskurs über sie hat das Klima
verändert. Noch vor 30 Jahren als Perverse oder Verrückte geächtet, hat eine
Vielzahl von Porträts und Reportagen die Öffentlichkeit mit dem Phänomen der
Transsexualität und den damit verbundenen Schicksalen bekanntgemacht. Zeichen
des wachsenden Selbstbewusstseins sind auch die Selbsthilfegruppen die sich
mittlerweile in fast jeder Großstadt etabliert haben. Transsexualität erfahre
eine gewisse Verbürgerlichung, sagt Gooren: „Es wird zu etwas, woran man leiden
kann.“
Auch die Ärzte spüren, dass sich der Raum zwischen den Geschlechtern
zu öffnen beginnt. „Die Behandlung“, beobachtet der Psychotherapeut Walter
Bockting von der University of Minnesota, „ist nicht länger darauf beschränkt,
den Betroffenen bei der Rollenfindung zu helfen. Jetzt haben wir auch die
Möglichkeit, Transsexuelle in ihrer eigenen Identität zu bestätigen.“ Ein
drittes Geschlecht als Lösung aller Probleme? Trotz der wachsenden Toleranz ist
Nicole sicher: „Ich will als Frau unter Frauen leben,
nicht als Transsexuelle unter Transsexuellen.“
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