Mittwoch, 15. August 2012

TRANSSEXUALITÄT Der Raum zwischen den Geschlechtern...


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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2012

TRANSSEXUALITÄT

Der Raum zwischen den Geschlechtern...

Ärzte und Soziologen rätseln über die Bedeutung winziger Zellknötchen im Hirn Transsexueller

Ihre ersten Frauenkleider kaufte sich Nicole mit 16. Bis dahin hatte sie versucht, betont männlich aufzutreten – ebenso, wie der Vater es sich von seinem Sohn wünschte. Doch etwas in Nicole sträubte sich gegen die Rolle eines Jungen. Erst als sie in einer Illustrierten einen Artikel über Transsexuelle las, ahnte sie, dass auch sie zu jenen Menschen gehört, die „im falschen Körper stecken“: äußerlich ein heranreifender Mann, empfand sie sich selbst als Frau.

Zwei Jahrzehnte später hat Nicole fast vollendet, was der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch „eine gigantische Neuschöpfung“ nennt: Lange Haare, hochhackige Schuhe, kurzer Rock und Make-up signalisieren heute unzweideutig Nicoles Weiblichkeit.

Doch die Veränderungen reichen tiefer: Hohe Dosen weiblicher Sexualhormone haben den Körper gerundet und einen Busen wachsen lassen. Im Lauf dieses Jahres hat Nicole dann auch die „geschlechtsangleichenden“ Operationen durchführen lassen: Was Hodensack und Penis an Haut hergaben, hat ein Chirurg zur Kreation einer Scheide verwendet. Eine Kehlkopfoperation hat Nicoles Stimme aufgehellt und den verräterischen Adamsapfel beseitigt.

Zwischen14000 und 16000 Transsexuelle leben nach Schätzungen in Deutschland. Meist sind sie alle zu einer ähnlichen medizinisch-bürokratischen Odyssee durch Arztpraxen und Operationssäle, Behörden und Gerichte gezwungen, bevor sie ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen können.
Ob die Probleme Transsexueller eine biologische Ursache haben oder ob die Wurzel allen Übels eher in gesellschaftlichen Strukturen zu finden ist, darüber streiten Wissenschaftler weltweit seit Jahren.

Neuen Zündstoff liefert Dick Swaab, Neurobiologe am niederländischen Institut für Hirnforschung in Amsterdam. In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Nature“ beschreibt Swaab eine anatomische Besonderheit, die er in den Gehirnen sechs verstorbener Transsexueller gefunden hat: Nach der Größe bestimmter, kaum stecknadelkopfgroßer Nervenknötchen zu urteilen, stammten alle sechs Gehirne von Frauen. Allerdings waren alle sechs mit einem männlichen Körper zur Welt gekommen. Erst später hatten sie eine Geschlechtsumwandlung durchführen lassen, weil sie sich selbst als Frau erlebten.

Ist das der lange gesuchte Beweis dafür, dass Transsexualität eine biologische Basis hat? Bislang verlief die Fahndung nach genetischen, hormonellen oder biochemischen Besonderheiten nämlich ebenso unbefriedigend wie das Studium der Familien von Transsexuellen, um etwa typische soziale Faktoren aufzuspüren. „Es kann jeden treffen“, glaubt Louis Gooren. Gooren, Hormonspezialist an der Freien Universität Amsterdam, gilt als einer der weltweit erfahrensten Transsexuellen-Ärzte.

Zusammen mit einem Team von Psychotherapeuten und Chirurgen hat er mehr als 1500 holländische Transsexuelle während der Geschlechtsumwandlung betreut. Auch die sechs, deren Gehirne Swaab jetzt untersucht hat, waren zu Lebzeiten Goorens Patientinnen gewesen.

In der Tat haben Forscher in den letzten Jahren eine Reihe kleiner Nervenknötchen im Gehirn entdeckt, die sich bei Männern und Frauen in Größe und Aufbau deutlich unterscheiden (siehe FOCUS 14/95). Über die Funktionen dieser Kerne wissen die Forscher kaum etwas. Allerdings liegen die meisten im Hypothalamus, einer Region von der Größe einer Walnuss, der unter anderem eine entscheidende Rolle in der Steuerung des Sexualverhaltens zugeschrieben wird.

Im Hypothalamus befindet sich auch der von Swaab untersuchte dreiteilige BST-Kern: Dessen mittlerer Teil, BSTc, ist bei Männern im Durchschnitt mehr als doppelt so groß wie bei Frauen. Auch für Gooren ließ der Vergleich des BSTc der sechs Transsexuellen-Gehirne mit denen von zwölf heterosexuellen Männern und elf Frauen „keinen Zweifel zu“: Die Größe der Kerne entspreche eindeutig dem Geschlecht ihrer (weiblichen) Identität, nicht dem des (männlichen) Körpers.

Transsexualität, eine Laune der Natur, eine „Krankheit“? Stephan Hirschauer, Soziologe an der Universität Bielefeld, ist da ganz anderer Ansicht. Auf dem „14. Harry Benjamin International Gender Dysphoria Symposium“ im Kloster Irsee provozierte er Internisten, Chirurgen und Psychotherapeuten mit der These, Transsexualität sei keine Krankheit, sondern ein kulturelles Phänomen. Dass man die Lösung der Probleme Transsexueller in die Hände von Hormonspezialisten und Chirurgen lege, sei etwa so, als würde „man Hautärzten die Lösung des Rassenproblems übertragen“.

Hirschauers Schlag gegen das ärztliche Selbstverständnis ist eine moderne Variante des uralten Streits, inwieweit der Unterschied der Geschlechter biologisch oder sozial begründet ist. Für die eine Seite ist „Geschlecht“ das Resultat eines bereits in der Gebärmutter beginnenden genetisch festgelegten Entwicklungsprozesses, für die andere das Ergebnis eines permanenten sozialen Einordnungsprozesses.

Auch Gooren ist sehr zurückhaltend bei der Interpretation seiner Befunde. „Bevor in der Wissenschaft etwas als bewiesen gilt, müssen andere es wiederholt haben“, sagt er. Dass man diesen Leitsatz ernst nehmen sollte, zeigen die Untersuchungen, auf deren Basis Simon LeVay vom Salk-Institut in San Diego vor vier Jahren behauptet hatte, in den Gehirnen von Homosexuellen gäbe es „weibliche Strukturen“. Seine umstrittenen Schlussfolgerungen konnten nie bestätigt werden. Auch Swaab hat homosexuelle Männer untersucht, jedoch keinerlei Unterschied zu heterosexuellen Männern gefunden.
Die Aussagekraft solcher Studien ist wegen der kleinen Fallzahlen extrem von der Auswahl der Vergleichsgruppen abhängig: Verschärft wird das Problem bei den untersuchten Mann-zu-Frau-Transsexuellen noch dadurch, dass sie jahrelang hochdosierte weibliche Sexualhormone erhalten. Zwar versucht Swaab dies zu berücksichtigen, indem er in die Vergleichsgruppen Männer und Frauen eingeschlossen hat, die wegen anderer Krankheiten unter Hormonbehandlung standen. Dennoch kann die Möglichkeit, dass auch die massive Hormontherapie die Größe der Hirnkerne beeinflusst haben könnte, nicht völlig ausgeschlossen werden.

Selbst wenn der in Verdacht geratene Nervenknoten tatsächlich eine Rolle in der Festlegung der Geschlechtsidentität spielen sollte, ist damit die Diskussion über Biologie oder Umwelt längst nicht entschieden. Die nächste Frage liegt auf der Hand: Wann entwickelt sich der Größenunterschied des Kerns – vor oder nach der Geburt?

Tatsächlich gibt es Hinweise, dass Teile des menschlichen Gehirns ihre geschlechtstypische Differenzierung erst Jahre nach der Geburt abschließen. Belegt ist das durch einen weiteren Kern im Hypothalamus, dem „sexually-dimorphic-nucleus“: Dieser Zellhaufen ist bei Jugendlichen und Männern mittleren Alters im Durchschnitt doppelt so groß wie bei gleich alten Frauen.
Das Verblüffende: Bei neugeborenen Mädchen und Jungen ist das winzige Nervenknötchen noch gleich groß entwickelt, erst zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr stirbt bei den Mädchen die Hälfte dieser Nervenzellen. Möglicherweise bestimmen also nicht nur chemische Signale wie Sexualhormone die Ausprägung von Geschlechtsunterschieden im Gehirn. Auch soziale Erfahrungen in den ersten Lebensjahren könnten eine Rolle spielen.

Internationale Vergleiche belegen den kulturellen Einfluss auf das Phänomen der Transsexualität. Bemerkenswert ist besonders das Geschlechterverhältnis: In vielen westlichen Ländern sind Männer, die sich als Frau empfinden, zwei- bis dreimal häufiger als der umgekehrte Fall der Frau-zu-Mann-Transsexuellen.

In der Türkei aber, wo völlig andere Begriffe von Mann und Frau herrschen, ist dieses Geschlechterverhältnis genau umgekehrt: Die im Westen selteneren Frau-zu-Mann-Transsexuellen sind dort sogar achtmal häufiger als die andere Geschlechtsvariante. Auch in den osteuropäischen Ländern überwiegen Frau-zu-Mann-Transsexuelle.

„In diesen Ländern findet sich damit ein Geschlechterverhältnis“, sagt Hirschauer, „wie es auch bei uns im letzten Jahrhundert typisch war.“ Ein starkes Argument für die Vermutung, dass erst das soziale Geschlechtsverständnis der westlichen Gesellschaften einen Großteil des Psychodrucks erzeugt, der viele Transsexuelle zur Geschlechtsumwandlung treibt.

Von Geburt an erfahren Kinder die herrschende Einteilung der Geschlechter: Und die sieht in westlichen Gesellschaften eben nur zwei fest an den Körper gebundene Kategorien vor. „Der Raum zwischen den Geschlechtern“, sagt Hirschauer, „ist kaum bewohnbar.“

Dieses krasse „Entweder-Oder“ wird für Transsexuelle gleich zweifach zur Falle. Zum einen ist es die Quelle der Intoleranz, der Transsexuelle meist in der Öffentlichkeit begegnen, weil sie nicht in das zweigeschlechtliche Schema passen. Da sie zum anderen aber auch selbst dieses Klischee von den eindeutig definierten Geschlechtern verinnerlicht haben, können die Betroffenen nicht einmal ihren eigenen Normen entsprechen.

Die Spaltung reicht tief: Leben sie der sozialen Bedeutung ihres Körpers entsprechend, empfinden sie eine tiefe innere Unzufriedenheit, leben sie nach ihrer inneren Identität, setzen sie sich dem Angriff der Umgebung aus. Die meisten brauchen Jahre, bis sie den Mut finden, aus dem Dilemma auszubrechen. Erst als „die innere Not größer war als die Angst vor den Folgen“, sagt Nicole, „habe ich mich als Frau in die Öffentlichkeit getraut.“

Das Experiment zur Hypothese, dass Toleranz Transsexuellen das Skalpell ersparen könnte, ist bereits im Gang. Allein der öffentliche Diskurs über sie hat das Klima verändert. Noch vor 30 Jahren als Perverse oder Verrückte geächtet, hat eine Vielzahl von Porträts und Reportagen die Öffentlichkeit mit dem Phänomen der Transsexualität und den damit verbundenen Schicksalen bekanntgemacht. Zeichen des wachsenden Selbstbewusstseins sind auch die Selbsthilfegruppen die sich mittlerweile in fast jeder Großstadt etabliert haben. Transsexualität erfahre eine gewisse Verbürgerlichung, sagt Gooren: „Es wird zu etwas, woran man leiden kann.“

Auch die Ärzte spüren, dass sich der Raum zwischen den Geschlechtern zu öffnen beginnt. „Die Behandlung“, beobachtet der Psychotherapeut Walter Bockting von der University of Minnesota, „ist nicht länger darauf beschränkt, den Betroffenen bei der Rollenfindung zu helfen. Jetzt haben wir auch die Möglichkeit, Transsexuelle in ihrer eigenen Identität zu bestätigen.“ Ein drittes Geschlecht als Lösung aller Probleme? Trotz der wachsenden Toleranz ist Nicole sicher: „Ich will als Frau unter Frauen leben, nicht als Transsexuelle unter Transsexuellen.“

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