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Rothenbächer 2012
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TRANSSEXUALITÄT
Kopf oder Körper
Alex wurde als Junge geboren und lebt als Mädchen. Jetzt
eskaliert der Streit zwischen den Eltern darüber, welches Geschlecht ihr
zwölfjähriges Kind haben soll. Richter, Ärzte und Jugendamt müssen klären, ob
Alex zur Frau werden darf.
Ein Kind spielt im Park. Es schnappt sich einen Stock,
schlägt auf Baumstämmen herum, ruft "bam, bam, bam". Schmutz klebt an
seinen Schuhen. Das Kind entdeckt in den Büschen eine Höhle, rennt zwischen
Ästen und Zweigen umher - wie Jungs eben spielen.
Dann setzt sich das Kind auf eine Bank und greift nach
seiner Handtasche. Es zieht ein kleines Etui heraus und klappt es auf. Alex(*)
betrachtet sich im Spiegel: Ihr glattes, langes Haar ist zu einem Pferdeschwanz
gebunden. Sie trägt ein enges Kapuzenshirt, schwarze Leggins, darüber knappe
Shorts. Sie ordnet sich die Haare, zupft ihr Oberteil zurecht. Dann springt sie
auf und ruft: "Hola chicas!" Sie wirft die Hände in die Hüften. Alex
spielt Topmodel. Der Parkweg
ist ihr Laufsteg. Sie singt: "Touch me, come on and turn me on." Sie
setzt ein Bein vor das andere, ihr Körper wippt im Takt des Lieds.
Alex ist als Junge geboren. Doch seit dem fünften Lebensjahr
lebt sie als Mädchen. Seit der Grundschule trägt Alex einen weiblichen Namen,
lange Haare, Kleider, Röcke. Freunde und Lehrer akzeptieren das, aber sie ließ
ihnen auch keine Wahl. Fragt man sie, weshalb, sagt Alex nicht: "Weil ich
ein Mädchen sein will." Sondern: "Weil ich ein Mädchen bin."
Die Mutter, bei der Alex lebt, sagt, sie habe oft probiert,
an dem Kind etwas zu ändern. Es habe nie geklappt. Das Problem ihres Kindes,
meint die Mutter, sei vor allem sein Körper.
Wenn der Vater von seinem Kind spricht, dann nennt er es
"mein Sohn". Er will sich zu dem Fall nicht äußern. Die Eltern sind
seit zehn Jahren getrennt. Der Vater möchte, dass von einem Psychiater geprüft
wird, ob die Mutter dem Kind den Rollenwechsel eingeredet hat, bewusst oder
unbewusst. Für den Vater liegen Alex' Probleme nicht im Körper, sondern im Kopf
des Kindes.
In Deutschland gibt es nur eine Handvoll Ärzte, die sich auf
dem Gebiet kindlicher Geschlechtsidentitätsstörungen auskennen.
Kinderpsychiater, Sexualmediziner, Hormonexperten. Und in einigen wichtigen
Fragen sind sie sich nicht einig: Wie früh kann man feststellen, ob ein
Jugendlicher im falschen Geschlecht geboren wurde? Darf man mit Hormonen die
Pubertät aufhalten und, falls ja, ab wann? Oder hilft gerade die Pubertät
dabei, den eigenen Körper zu akzeptieren?
Alex' Vater und Mutter streiten schon so lange, dass man
ihnen 2007 das Recht genommen hat, über die medizinische Behandlung ihres
Kindes zu bestimmen. Nun müssen Richter, Mediziner, Sachverständige darüber
entscheiden, ob Alex'
Körper zum Mann oder zur Frau werden wird. Sie müssen bald
entscheiden, Alex ist vor kurzem zwölf geworden. "Wenn ich morgens
aufwache", sagt sie, "ist meine Stimme manchmal schon ganz
tief."
Ein Schultag im Frühling, auf dem Herd steht ein Topf
Hähnchencurry. "Zeig die Fotos, Mama", ruft Alex. Sie steht in der
Tür, den Rucksack noch im Arm. Die Mutter deckt den Tisch: "Jetzt setz
dich erst mal."
Alex' Mutter, Anna Kaminski(*), ist eine große Frau mit
braunem, lockigem Haar. Sie ist 41, arbeitete früher als Erzieherin in einem
Kinderladen. Kaminski hat eine erwachsene Tochter aus erster Ehe.
Während Alex isst, holt Kaminski eine Schachtel Fotos aus
dem Wohnzimmer. Sie nimmt einen Stapel Bilder, blättert, hält inne. Sie sagt:
"Mein Junge." Auf dem Bild ist Alex etwa drei, trägt Jeans, einen grauen
Sweater, die Haare sind braun und kurz. Das Kind hält ein Lego-Auto in der
Hand.
Dann kommt dieses Foto, das Alex, noch immer mit kurzem
Haar, aber im rosa Prinzessinnenkleid zeigt. "Das pinke Ornat", sagt
die Mutter, und Alex, die jetzt neben ihr steht, lacht. "Nicht schreiben,
wie Alex auf den Bildern geguckt hat", sagt die Mutter. Ob ihr Kind auf
solchen Fotos lacht oder nicht, das werde vor Gericht wie ein Beweismittel
behandelt. Sie sagt: "Auch der Vater hat Fotos."
Wer Alex' Fall betrachtet, der beschäftigt sich vor allem
mit Rekonstruktionen. Mit Kinderfotos, mit Erinnerungen, mit den Gefühlen der
Vergangenheit. Alex' Fall, das ist der Versuch Erwachsener herauszufinden, wann
das Kind sich wohl, wann es sich unwohl gefühlt hat in seiner Haut. Wie echt
sein Wunsch sein kann, ein Mädchen zu werden.
Mit Alex' Vater, einem Maschinenbauingenieur, hat Anna
Kaminski im Jahr 2000 zunächst Alex bekommen, eineinhalb Jahre später kam noch
eine Schwester auf die Welt.
Als Alex zweieinhalb war, erzählt die Mutter, saß er mit
seiner Schwester in der Badewanne. "Alex sagte: ,Ich bin auch ein
Mädchen.'" Die Mutter antwortete: "Nein, bist du nicht", und
deutete zwischen seine Beine, "bei dir sieht das ganz anders aus da
unten." Das Kind sagte: "Ich bin eben ein anderes Mädchen."
Als Alex vier war, rutschte ein Spielplatzfreund beim
Spielen auf einer Stange ab. Er quetschte sich, ein Hoden musste abgenommen
werden. Alex habe die Mutter damals gefragt: "Geht das bei mir auch?"
Kaminski sagt, allmählich habe sie sich Sorgen gemacht.
Zu dieser Zeit habe Alex auch begonnen, sich Perücken zu
basteln. An einen Haarreif der großen Schwester band sie rosa Zöpfe. "Ein
Jahr vor der Schule", erzählt die Mutter, "habe ich gesagt: So wird
das nichts. Die nehmen dich auseinander mit deinen Klamotten." Sie habe
Alex die Haare noch kürzer geschnitten, ihr neutrale Kleidung angezogen, ging
Ball spielen. "Alex hat sich nicht gewehrt. Ich dachte: Wow, so einfach
ist das."
Nach einem knappen halben Jahr habe sich der Kinderladen
gemeldet. Die Erzieherin berichtete, Alex rede kaum mehr. Die Mutter ging zu
einer Psychologin. Die habe geraten: "Machen Sie die Mädchenkiste wieder
auf." Nach einer Woche, sagt Kaminski, hatte sie ihr altes Kind wieder.
Über den Vater will Anna Kaminski nur sagen, dass er
intelligent sei, aber auch perfektionistisch. Nach der Trennung im Jahr 2002
besuchten ihn die Kinder etwa alle zwei Wochen. Die Mutter berichtet, er habe
Alex immer neue Kleidung zurechtgelegt, das Kind gebeten, sich umzuziehen, sobald
es die Wohnung betrat. Kleider und Kettchen musste Alex abstreifen. Die Mutter
fand das sehr streng, aber auch sie wusste nicht recht, wie es mit Alex
weitergehen sollte.
Im dritten Lebensjahr weiß ein Kind normalerweise, ob es ein
Junge oder ein Mädchen ist. Passt diese Gewissheit nicht zum biologischen
Geschlecht, spricht man von einer "Geschlechtsidentitätsstörung"
(Gis). In Deutschland sind davon in jedem Geburtsjahrgang schätzungsweise 280
Kinder betroffen. Es gibt dazu nur wenige Studien, die aber sagen, bei vielen
wachse sich die Störung aus. Etwa drei Viertel entwickelten eine homo- oder
bisexuelle Orientierung. Einige Kinder aber, die Schätzungen schwanken zwischen
fünf und zwanzig Prozent, blieben bei dem Wunsch, in das andere Geschlecht zu
wechseln. Das Problem ist, herauszufinden, bei welchen Kindern das der Fall
sein wird. Und zu welchem Zeitpunkt man diese Diagnose stellen kann.
Im Jahr 2006 standen die Eltern mit ihrer Tochter auf dem
Campus der Charité in Berlin. Die Institutsgebäude sind in Reihen angeordnet,
ein Parkweg führt daran entlang. Eine "Sprechstunde zur
Geschlechtsidentitätsstörung bei Kindern" gibt es nur in Frankfurt am
Main, in Hamburg und Berlin. Psychiater, Sexualmediziner, Hormonärzte haben
sich zusammengeschlossen. Die Eltern waren froh, ein solches Angebot in ihrer
Stadt zu finden.
Die Ärzte sprachen mit Alex, mit der Mutter, mit dem Vater.
Anna Kaminski erzählt, sie habe die Beratung anfangs als hilfreich empfunden.
Ihr Kind wurde als klug und aufgeschlossen beschrieben.
Dann aber redete ein Kinderpsychiater plötzlich davon, dass
Alex unter Depressionen leide, sie solle einige Zeit auf die psychiatrische
Station kommen. "Man hat mir gesagt, es wäre besser für mich, wenn ich
einwillige", erinnert sich die Mutter. Kaminski fragte, wie die Diagnose
zustande gekommen sei. Sie wollte wissen, wie man Alex auf der Station helfen
wolle. Antworten, sagt sie, habe sie nicht bekommen: "Ich hatte kein
Vertrauen in die Ärzte. Ich habe nein gesagt."
Die Wissenschaft kann nicht erklären, wie Transsexualität
entsteht. Es gibt Vermutungen, der Fötus könne im Mutterleib hormonell
beeinflusst werden. Dabei träten Störungen bei den Testosteron-Rezeptoren auf,
das Gehirn wehrt sich gegen das männliche Hormon. Der Körper entwickelt sich
derweil zum Mann. Experten nennen es das Harry-Benjamin-Syndrom.
Andere räumen der Psyche eine wichtige Rolle ein. Wie stehen
die Eltern zum eigenen, zum anderen Geschlecht? Hasst der Vater Frauen? Die
Mutter Männer? Gibt es Probleme, beim Kind eine Homosexualität zu akzeptieren?
2011 treffen sich die Eltern vor Gericht. Eine Richterin
fragt: "Haben Sie eigentlich den Bericht?" Kaminski verneint. Die
Richterin bittet den Vater, ihn ihr zu geben. Kaminski bekommt einen Stapel
Papier in die Hände, 170 Seiten, gebunden.
Anna Kaminski kann jetzt zum ersten Mal nachlesen, worauf,
wie sie vermutet, Ärzte, Jugendamt, Pfleger und Richter jahrelang ihr Urteil
über sie gestützt haben. Alex' Vater hat den Bericht geschrieben, als er 2006
von einem Psychiater der Charité gebeten worden war, seine Eindrücke
aufzuschreiben. Auf dem Deckblatt steht: "Beobachtungen aus
Vatersicht".
Der Bericht ist aufgebaut wie eine wissenschaftliche Arbeit.
Mit einem Vorwort, dreiseitiger Inhaltsangabe, sieben Kapiteln und einem
Literaturanhang. Eingefügt sind farbig kopierte Kinderzeichnungen,
Familienfotos, die der Vater kommentiert. Mit sechs Jahren zum Beispiel hat
Alex einen Rockmusiker gemalt, der Kussmünder seiner Fans auf den Wangen trägt.
Ist das ein erstes Anzeichen dafür, dass das Kind mit mehreren Zungen sprechen
wird?, fragt sich der Vater. Weiter hinten hat er Symbolbilder in den Bericht
kopiert: eine Uhr, deren Zeiger auf fünf vor zwölf stehen, oder einen Eisberg,
dessen Ausdehnung unter Wasser für die seelischen Abgründe steht. Es ist viel
von Unbewusstem und Verdrängtem die Rede.
Der Vater schreibt auch über das eheliche Liebesleben, geht
auf die Kindheit seiner Ex-Frau ein. Kaminski hat in ihrer Familie sexuellen
Missbrauch erfahren, hat sich ihrem Mann damit anvertraut. Sie hat sich
deswegen therapieren lassen. Als erstmals der Verdacht aufkam, sie könne Alex
deswegen beeinflusst haben, ging die Mutter erneut zu einem Psychologen.
Manipuliert sie das Kind? "Die Therapeutin konnte nichts
feststellen", sagt Kaminski.
Klaus Beier ist einer jener Experten, die dem Kopf in dieser
Frage viel Platz einräumen. Als Facharzt für psychosomatische Medizin und
Psychoanalytiker hat er das Unterbewusste, das Verdrängte im Blick. An der
Berliner Charité ist Beier, 50, Professor für Sexualmedizin und einer der
Ärzte, die in der Sprechstunde, die Alex' Eltern besuchten, zu Rate gezogen
werden. Dort hat man bis heute etwa 25 Fälle von Gis bei Kindern und
Jugendlichen gesehen. Anna Kaminski sagt, Beier habe damals mit ihr gesprochen.
Beier steht unter ärztlicher Schweigepflicht, er äußert sich nicht zu dem Fall.
Worüber er spricht, das sind seine Erfahrungen mit Gis.
Beier sagt, dass es Menschen gebe, die von früher Kindheit
an kein Zugehörigkeitsgefühl für ihr Geschlecht entwickeln könnten. Dass dieses
Unbehagen eine eigene Stärke aufweise, die durch nichts zu beeinflussen sei. Er
glaubt nur nicht, dass sich vor der Pubertät Gewissheit darüber erlangen lässt.
Die Diagnose "Transsexualität" lasse sich bisher nur aus dem Verlauf
selbst erschließen. "Es gibt kein Merkmal, das anzeigt, dass diese
Entwicklung so eintreten wird."
Nach internationalen Klassifikationssystemen ist das auch
nicht vorgesehen. Gemäß den Leitlinien der deutschen Kinder- und
Jugendpsychiater darf ein Arzt erst nach vollendeter Pubertät des Patienten die
Diagnose "Transsexualität" stellen. Wer allerdings derzeit nach
diesen Leitlinien fragt, erhält sie mit einem roten Warnhinweis versehen.
Darauf steht: "Gültigkeit abgelaufen. Wird z. Zt. überprüft." Wie weit
die Pubertät vor einer Diagnose durchlaufen werden muss, ist umstritten.
Beier fürchtet, dass ein Jugendlicher, dessen Pubertät durch
Hormone aufgehalten wird, keine Chance habe zu erleben, wie sich sein Körper
angefühlt, wie er auf andere gewirkt hätte. In der Pubertät entstehe das
wichtige Gefühl, zu erfahren, dass man akzeptiert werden kann, so wie man ist.
Für Beier ist es deshalb wichtig auszuschließen, dass ein
Jugendlicher sich nur deshalb einen anderen Körper wünscht, weil er die eigene
Homosexualität verleugnet. Er erzählt von einem 14-Jährigen, der in Begleitung
seiner Oma in die Sprechstunde der Charité kam. Der sei intelligent, musisch
begabt gewesen. Er habe zu masturbieren begonnen, in seinen Phantasien mit
jungen Männern geschlafen. Für die Oma aber habe offensichtlich gegolten: bloß
nicht schwul werden. Der Bericht einer Jugendzeitschrift über einen
gleichaltrigen Jungen, der als Mädchen lebt und bereits weibliche Hormone
erhielt, schien dem Jungen wie ein Ausweg aus seinem Dilemma. "Gucken Sie,
Herr Professor: Das geht doch!", sagte er zu Beier. Was, fragt sich Beier,
wenn man sich in einem solchen Fall irrt?
In Berlin hat sich nun eine Bezirksstadträtin eingeschaltet.
Christa Markl-Vieto ist das Jugendamt unterstellt, das den Fall Alex
verantwortet. Sie schlägt vor, Alex in einer Pflegefamilie unterzubringen und
den Kontakt zwischen Mutter und Kind zu unterbinden. Sie möchte Bedingungen
schaffen, unter denen das Kind ohne den Einfluss der Mutter klinisch
begutachtet werden kann. Falls notwendig, ist sie bereit, der Mutter das
Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Tochter zu entziehen. Der Stadträtin
scheint das ein guter Kompromiss zu sein. Anna Kaminski sagt: "Das ist ein
Menschenexperiment." Sie wünsche sich seit Jahren zwei unabhängige
Gutachten, eine ambulante Therapie für Alex. Sie ist bereit, deren Ergebnisse
zu akzeptieren. Eine Pflegefamilie, eine Kontaktsperre aber komme für sie nicht
in Frage.
Bernd Meyenburg, 62, ist Oberarzt in der Klinik für Kinder-
und Jugendpsychiatrie in Frankfurt am Main. Seit fast 40 Jahren beschäftigt er
sich mit Transsexuellen, seit 30 Jahren arbeitet er mit Kindern. 1987 hat er
eine Sprechstunde in Frankfurt am Main eröffnet und seither rund 300 junge
Patienten untersucht. Wie sicher kann man sein, ob ein Kind transsexuell werden
wird? Meyenburg sagt: "Man kann das herausfinden, und zwar schon
früh."
Auch Meyenburg kennt Patienten, die lieber zur Frau gemacht
würden, als homosexuell zu sein. Nach seinen Erfahrungen aber könne man das
sehr gut von einer transsexuellen Entwicklung trennen. Den Jungen, der bereits
masturbierte, hätte Meyenburg wohl genau wie Beier eingeschätzt.
"Homosexuelle lehnen ihre Genitalien nicht ab",
sagt Meyenburg. "Transsexuelle Patienten aber wollen nichts lieber, als
sie loszuwerden." Diese Jugendlichen scheuten sexuelle Erfahrungen. Sie
wollten ungern berührt werden, ihren Körper, den sie ablehnten, lieber ganz aus
dem Spiel lassen.
Kann es in der Pubertät noch zum Sinneswandel kommen?
Meyenburg hat Jugendliche gesehen, die sich auf die Probe gestellt haben, die
zurückkamen und sagten: "Nein, ich bin nicht schwul", oder:
"Nein, ich bin nicht lesbisch." Aber einen Patienten, der durch das
Erleben der Pubertät Gefallen am eigenen Körper gefunden hätte? Nein, das hat
Meyenburg in den 40 Jahren seiner Praxis noch nie gesehen.
Die Experten in Frankfurt, Hamburg oder Berlin tauschen sich
aus über schwierige Fälle. Die Mediziner schicken sich wechselseitig Patienten,
wenn sie eine zweite Meinung hören wollen. Bernd Meyenburg hat Alex untersucht,
als sie acht Jahre alt war. Er sagt, über die Diagnose Gis habe Einigkeit
bestanden. Nicht aber über die Entstehung.
Meyenburg hält die Idee, dass die Mutter das Kind
beeinflusst haben könnte, für abwegig. Er kenne frühe psychoanalytische
Theorien, wonach sich männliche Kinder über das Weiblichwerden besonders eng an
die Mutter binden wollen. "Aber diese These gilt als widerlegt." In
der Wissenschaft sei kein Fall bekannt, in dem Eltern ihr Kind dauerhaft dazu
hätten bringen können, das Geschlecht wechseln zu wollen.
"Transsexualität bildet sich aus, egal wie
konfliktreich oder konfliktarm die Familie ist", sagt Meyenburg. Alex habe
in ihrem Leben ein eindeutig transsexuelles Verhalten gezeigt, gegen alle
Widerstände, daran werde auch eine Trennung von Mutter und Kind nichts ändern.
"Bei einem so klaren Fall lege ich meine Hand ins Feuer", sagt er. Er
findet es nicht vertretbar, dass das Jugendamt Alex aus ihrer Familie nehmen
will.
Alex steht in der Küche und wird ein wenig rot um die
Wangen. Was sie fühlt, wenn sie daran denkt, dass sich ihr Körper bald
verändern wird? "Horror", sagt sie und verschwindet in ihrem Zimmer.
Die ersten Härchen sprießen, die Stimme ist manchmal
dunkler. "Tanner 2" nennen die Ärzte das Pubertätsstadium, in dem sie
sich gerade befindet. Bald wird der Rest folgen: Stimmbruch, Adamsapfel,
Wachstum von Penis und Hoden. "Tanner 3", "Tanner 4": Die
Schultern werden breiter, das Gesicht wird kantig, härter. Bei "Tanner
5" ist der Mann biologisch erwachsen. Die Spuren dieser Entwicklung lassen
sich später nicht mehr tilgen.
Meyenburg ist der Meinung, dass Transsexuelle diese
Entwicklung nicht ganz durchlaufen müssen. Ab "Tanner 2", nach dem
"ersten Biss der Pubertät", wie die Mediziner sagen, bekäme Alex von
Ärzten wie Meyenburg Hormone empfohlen, die die Pubertät aufhalten. Später
würden weibliche Hormone folgen. Mit der Volljährigkeit Operationen der
Geschlechtsteile und der Brust.
In den Niederlanden ist eine Studie erschienen. Dort hat man
162 Patienten, die eine Hormonbehandlung erhalten hatten, über lange Zeit
beobachtet. 160 von ihnen fühlten sich dauerhaft wohl in ihrem neuen
Geschlecht. Nur zwei bereuten die Behandlung später.
Alex und ihre Mutter, beide lieben das Foto von Alex im rosa
Prinzessinnenkleid. Und doch sind sie sich nicht ganz einig. Alex deutet auf
das Foto und sagt zu ihrer Mutter: "Ich sehe da ein Mädchen, ganz
klar." Die Mutter antwortet: "Nein, tut mir leid, ich sehe da meinen
alten Alex."
"Du kannst dich bis heute nicht daran gewöhnen,
oder?", fragt Alex. Die Mutter schüttelt den Kopf. "Nein. Wenn ich
ehrlich bin, nicht."
Bei Transsexualität handelt sich nicht um den Wunsch, in
einer anderen Geschlechtsrolle leben zu wollen, sondern lediglich um eine
geschlechtliche Normvariante. Ein Mädchen, das äussert "Ich bin ein
Mädchen", ist kein "Junge, der sich als Mädchen fühlt", sondern
einfach nur das, was es äussert. Wir sollten lernen, Kindern zuzuhören.
Hier wäre ein Platz dafür:
Wir sind jedes mal auf's neue geschockt, wie Menschen so
taub und blind sein können, einen Satz, den ein Kind äussert nicht als wahr
anerkennen zu können. Wir glauben, dass ein Mensch, der nicht zuhören kann,
wenig in der Lage ist, mit Kindern umzugehen. Wir glauben, dass jemand, der mit
Kindern nicht umgehen kann, kein Recht hat, über Kinder Entscheidungen treffen
zu dürfen.
Sollte jemand ähnliche Erfahrungen gemacht haben, so meldet
euch bitte. Wir behandeln alle Informationen streng vertraulich. Es ist wichtig
aufzuzeigen, dass es sich hierbei um keinen Einzelfall handelt. ATME weist seit
2009 auf die menschenverachtenden Umpolungsversuche an transsexuellen Menschen
hin. Doch bisher hat sich nichts getan. Wie viele solcher Schicksale soll es
noch geben? Transsexuelle Kinder müssen ein normales Leben haben können. Die
als „Therapien“ getarnten Misshandlungen an Kindern müssen untersucht werden.
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