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Bearbeitet von Nikita Noemi
Rothenbächer 2012
Von Zwitterwesen und traurigen Monstern
Intersexualität wird seit den 1990er-Jahren in Medizin und
Genderstudies verstärkt diskutiert - Auch die Literaturwissenschaft beschäftigt
sich mit dem lange tabuisierten Thema
Wir sind alle Zwitter - zumindest bis zur sechsten Woche als
Fötus. Erst danach bilden männliche und weibliche Chromosomenpaare das
Geschlecht aus. Bei dieser Wandlung kann es passieren, dass Chromosome, Hormone
und Enzyme durcheinandergeraten. Mit der Folge, dass eine eindeutige Zuordnung
zum männlichen oder weiblichen Geschlecht nicht möglich ist.
In der griechischen Mythologie galten zweigeschlechtliche
Wesen wie Hermaphroditos noch als Sinnbild von Ganzheit und Harmonie. Heute
tritt der Hermaphrodit dagegen meist als tragische Figur in Erscheinung.
"Oft geht es um das Gefühl einer quälenden Gespaltenheit", erklärt
die Germanistin Angelika Baier von der Uni Wien, die sich unter der Leitung von
Susanne Hochreiter in ihrem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt mit
Hermaphroditismus in der neueren deutschsprachigen Literatur beschäftigt.
"Meist oszillieren die Protagonisten zwischen den beiden Polen, ohne die
Mitte anzustreben."
In einer strikten Zweigeschlechtergesellschaft wie der
unseren sei das antike Ideal nicht lebbar. Ein Befund, der sich in der
Literatur ebenso widerspiegelt wie die Kritik am Umgang der Medizin mit
Intersexuellen. "Ab den 1950er-Jahren begegneten die Ärzte dem
Hermaphroditismus verstärkt mit geschlechtsvereindeutigenden Operationen",
sagt Baier. "Später zeigte sich, dass diese Eingriffe, die den betroffenen
Kindern meist verschwiegen wurden, oft verheerende psychische Folgen für sie
hatten."
Eine breite Diskussion über diese Praxis bewirkte vor allem
der im Jahr 2000 von US-Journalist John Colapinto verfasste Tatsachenbericht
"As Nature Made Him: The Boy Who Was Raised As A Girl", in dem er
über die tragische Geschichte eines männlichen Zwillings berichtet, der durch
einen medizinischen Kunstfehler Mitte der 1960er-Jahre als Baby seinen Penis
verliert und nach mehreren Operationen als Mädchen aufgezogen wird. Nach einer
unglücklichen Jugend entschließt er sich, wieder als Mann zu leben und begeht
schließlich Selbstmord.
Middlesex und Medizin
Neben der öffentlichen Diskussion solcher Fälle erschienen
ab den 1990er-Jahren auch zahlreiche theoretische Arbeiten über
Geschlechterkonzeptionen und ihren Einfluss auf die medizinische Praxis. Auf
der literarischen Ebene brachte der 2002 erschienene Roman
"Middlesex" einiges ins Rollen. Jeffrey Eugenides erzählt darin die
Geschichte des Hermaphroditen Cal, der als Mädchen aufgezogen wird, in der
Pubertät aber zunehmend vermännlicht. Als Cal in einer Gender Identity Clinic
wieder zum Mädchen gemacht werden soll, ergreift er die Flucht und entscheidet
sich für ein Leben als Mann. Der Roman wurde zum Bestseller und hatte auch auf
den medizinischen Diskurs Auswirkungen.
In "Middlesex" werden viele Themen und Motive
aufgegriffen, die sich auch in der deutschsprachigen Literatur über Intersexualität
finden. So zum Beispiel der Begriff des Monsters, der schon in der Antike für
zweigeschlechtliche Menschen gebraucht wurde. "Während der Hermaphrodit in
der Götterwelt für das Perfekte stand, galt er in der Menschenwelt als
Warnzeichen der Götter", erklärt Angelika Baier. Allerdings war der
Begriff "Monster" damals noch nicht so negativ besetzt, wie die
etymologische Herkunft von "monstrare", also auf etwas hinweisen,
deutlich macht.
Schrecken und Spaltung
Vom Christentum wurde der Begriff immer stärker mit
moralischer Schuld in Verbindung gebracht. Wenn sich die Protagonisten in den
Texten als Monster bezeichnen, spiegeln sich darin nur noch der eigene und der
fremde Schrecken über das Unerhörte. "Was mir geschah, war ungeheuerlich.
Und genauso fühlte ich mich auch. Wie ein Ungeheuer, ein Monster",
schreibt etwa Christiane Völling in ihrer 2010 erschienenen Autobiografie
"Ich war Mann und Frau. Mein Leben als Intersexuelle". In ihrem
Kriminalroman "Fremdkörper" aus 2005 schreibt Renate Kampmann:
"Ich bin ihr Familiengeheimnis, das Monster im Keller."
Ein wiederkehrendes Motiv in den Texten ist auch jenes der
Spaltung. So etwa im Roman "Mitgift" (2002) von Ulrike Draesner:
"Mir geht es um eine Möglichkeit, die in mir angelegt war. Sie will ich
endlich auch verwirklichen. Sonst lebe ich doch immer an einer Hälfte von mir
vorbei, verstehst du?"
Wurde der Begriff des Hermaphroditismus in der Medizin
Anfang des 20. Jahrhunderts vom Terminus Intersexualität abgelöst, so spricht
man seit 2005 offiziell von DSD (disorders of sex development). "Darin
spiegelt sich eine erneute Pathologisierung, die bei vielen Betroffenen
Widerstand hervorruft", weiß Angelika Baier.
Heikle Geschlechtsanpassung
Mittlerweile haben sich auch die Behandlungsmethoden
geändert. Heute arbeiten Ärzte- und Psychologenteams zusammen und unterstützen
die meist überforderten Eltern. "Wir haben lange dazu tendiert, das
äußerliche Geschlecht eines Intersex-Babys möglichst noch vor seinem ersten
Lebensjahr an sein genetisches Geschlecht bzw. das von den Eltern gewünschte
Geschlecht anzupassen", erklärt der Leiter der Abteilung für
Kinderchirurgie am Wiener AKH, Ernst Horcher.
"Heute wissen wir, dass diese Kinder in der Pubertät
oft ganz anders empfinden, als es das durch die Operation festgelegte
Geschlecht nahelegt." Deshalb sei man dazu übergegangen, eine definitive
Geschlechtszuordnung so lange hinauszuzögern, bis das Kind selbst entscheiden
kann, in welche Richtung der Eingriff gehen soll. Allerdings birgt auch dieser
jahrelange Schwebezustand enorme Belastungen für das Kind. "Zudem ergeben
sich auch rechtliche Probleme, denn ein Mensch muss laut Geburtsurkunde
entweder männlich oder weiblich sein. Hier herrscht dringender
Handlungsbedarf", sagt der Mediziner.
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