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Bearbeitet von Nikita Noemi
Rothenbächer 2012
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Der dritte Weg
Mehr als 40 Jahre lebt Silke im Körper eines Mannes. Dann
wird ihr klar: Sie ist schon immer eine Frau. Was folgt, ist ein zähes Ringen
um die eigene Identität, das noch lange nicht abgeschlossen ist.
Klar hat sie ein Foto. Silke zückt ihr Handy und tippt
darauf herum, bis sie das Bild von Sven findet. Es ist ein Bewerbungsfoto. Sven
im blauen Jackett, mit weißem Hemd und Krawatte. Ein Mann Mitte vierzig, graues
Haar, grauer Bart. Der Blick ernst, man könnte auch sagen: elend. Der ganze
Ausdruck wirkt gequält. »Na freilich«, sagt Silke. »Das war ja auch ne arme
Sau.« Sie muss es wissen. Denn Sven, das war sie.
Was immer einem beim Begriff »transsexuell« für Bilder durch
den Kopf schießen mögen, Silke entspricht ihnen herzlich wenig. Sie ist eine
kleine Frau, schlicht gekleidet in Jeans und violetter Bluse. Das braune Haar
trägt sie im Nacken gebunden. Stimme und Gesichtszüge lassen noch Reste von
Sven erahnen. Aber das wird schon. Die Hormontherapie, begonnnen vor sechs
Monaten, schlägt erst langsam an.
Etwa 6000 transsexuelle Menschen gibt es in Deutschland. Vielleicht
sind es auch 50 000, so genau weiß das niemand. Die Dunkelziffer ist sehr hoch.
Wie die Diskrepanz zwischen dem äußeren, biologischen und dem empfundenen
Geschlecht entsteht, weiß bislang niemand. »Geschlechtsidentitätsstörung«
lautet der Fachbegriff. Einige vermuten die Ursachen im Gehirn, andere machen
die Hormone verantwortlich. Den Betroffenen selbst bringt die Suche nach den Gründen nur
wenig. Sie sprechen auch lieber von »Transidentität«. Weil das Ganze nichts mit
Sex zu tun hat, sondern mit dem Selbstbild.
Silke führt den Besuch ins Wohnzimmer. Sie lebt jetzt wieder
in ihrem Elternhaus, zusammen mit der Mutter. Es ist ein brauner Klinkerbau aus
den siebziger Jahren, helle Möbel, Wintergarten. Hier hat sie, damals noch
Sven, ihre Kindheit verbracht. Keine idyllische Kindheit, der Stiefvater ist
ein Despot, seine Meinung ist Gesetz. Ein Mensch ist für ihn ein Mann, besser:
ein studierter Mann. Der Sohn, obwohl geschickt und der geborene Handwerker,
soll Akademiker werden. Folgsam macht Sven sein Diplom als Betriebswirt,
arbeitet mehr als zwanzig Jahre in einem ungeliebten Beruf.
Alles fühlt sich falsch an
Und Silke? Eigentlich war sie immer schon da. Ein Mädchen,
das gerne mit anderen Mädchen spielt. Aber alle anderen sehen nur Sven. »Da war
immer dieses Unbehagen«, sagt Silke heute.
Sie ist eine gute Schauspielerin. Sven trägt einen
Schnurrbart, schafft sich einen Panzer aus Bauch. Als junger Mann zieht er mit
Kumpels um die Häuser. Aber die Rituale der Partnersuche – das Schauen, das
Flirten, das Abschleppen – bleiben ihm fremd. Ein bisschen Knutschen, mehr Nähe
lässt er nicht zu. Lange Jahre bleibt er allein. 1991 trifft er schließlich
eine alte Schulfreundin wieder, Eva, man war sich immer sympathisch. Wenn nicht
die, wer dann? Die beiden heiraten, ziehen zusammen, bekommen zwei Kinder. Fotos
der Kinder hängen heute über dem Wohnzimmertisch, daneben ein Hochzeitsbild.
Sven, bullig, verlegen, steht auf einer Sommerwiese. Vor ihm im Gras, ganz in
Weiß, Eva. Silke hat das Bild nicht abgenommen. Wie ist das, im falschen Körper
zu stecken? »Seien Sie froh und danken Sie Ihrem Schöpfer oder wem auch immer,
dass Sie es nicht nachempfinden können«, sagt Silke und blickt kurz auf. »Es
ist kein Spaß«. Wie soll man so ein Leben beschreiben? Die vorherrschende
Empfindung: Alles fühlt sich falsch an. Nur genau lokalisieren lässt sich das
nicht.
Frauenkleider sind kein Fetisch
War sie denn glücklich in ihrer Ehe? Silke überlegt. Ja, es
war so etwas Ähnliches wie Glück. Zumindest am Anfang. Aber es kommt viel
zusammen. Das Leiden an der Arbeit, das Leiden am Selbst. Sven wird erst
depressiv, dann cholerisch. Brüllt oft herum. Auf der Arbeit bricht er eines
Tages zusammen, muss mehrere Monate pausieren. 2003 kehrt dann das alte
»Unbehagen« zurück. Anzug und Krawatte werden Sven widerlich. Werden eigentlich
Silke widerlich, denn sie ist wieder da, aufgetaucht aus der Versenkung. Es ist
wie im Film: Sven kauft sich tagsüber Frauenkleider, die Silke nachts heimlich
trägt. Mit Fetisch hat das nichts zu tun, sondern mit dem Gefühl: Das bin ich.
2009 geht schließlich gar nichts mehr. Silke zieht sich
immer mehr zurück, sie hat kaum noch Kraft und sucht endlich einen Psychologen
auf. Im Internet hat sie viel über Transsexualität gelesen, trotzdem hofft sie
noch, das Ganze könnte ein Irrtum sein und »in ein paar Jahren nur noch eine
merkwürdige Erinnerung«. Doch nach einem halben Jahr Therapie steht fest: Es
stimmt wohl doch – sie ist transidentisch.
Im Prinzip, sagt sie heute, gab es von da an nur drei
Möglichkeiten: Verdrängung, Suizid oder »Offenbarung«. Da die Verdrängung nicht
mehr funktionierte und Selbstmord »richtig blöd« gewesen wäre, blieb ihr nur
der dritte Weg. Aber es ist eher eine Odyssee. Eine, die gerade erst beginnt.
Hormontherapie, alle vier Wochen eine Spritze Testosteronhemmer in den Bauch.
Dann die Änderung des Vornamens. Zwei psychiatrische Gutachter müssen darüber
entscheiden, ob Sven wirklich Silke ist. Der Antrag läuft. Ganz am Ende steht
irgendwann das, woran Außenstehende meist als Erstes denken: Die
»geschlechtsangleichende Operation«. Silke hat keine Angst davor, im Gegenteil.
Sie kann es kaum erwarten.
Bereits die Diagnose lässt 2009 eine Last von ihr abfallen.
Im wahrsten Sinne des Wortes, sie verliert mehr als 15 Kilo. Sie weiht Freunde
und Familie ein. Die Kinder nehmen die Erklärung »super auf«. Auch Silkes
Schwester und Mutter akzeptieren nach dem ersten Schrecken ihre neue Identität.
Die Brüder haben da schon eher ein Problem. »Toll finden sie es nicht«, sagt
Silke trocken. Und Eva, die Ehefrau? Silke schaut auf ihre Hände. »Sie ist dem
traditionellen Rollenbild sehr verhaftet.« Als die Wahrheit endlich heraus ist,
wird schnell klar: Eva ist nicht bereit, Sven gegen Silke zu tauschen.
Inzwischen läuft die Scheidung und beide versuchen, den Weg der anderen zu
akzeptieren.
Probleme mit der Außenwelt
Ist sie denn glücklich, als Silke, hier im Einfamilienhaus,
mit den Kindern am Wochenende? »Mit dem Glück ist es so eine Sache«, sagt
Silke. Wenn du weißt, dass du mit der Lüge niemals glücklich werden kannst, ist
die Offenbarung letztlich die einzige Möglichkeit. »Sie ist keine Garantie für
Glückseligkeit. Aber die gibt es nirgendwo.«
Probleme mit der Außenwelt, ja, die gibt es schon. Letztes
Jahr erst hat es eine Bekannte aus der Selbsthilfe erwischt. Sie wurde
»verdroschen«, von einer Gruppe junger Männer. Silke selbst hat wenig Angst.
Eher ärgert sie sich, über verständnislose Krankenkassenmitarbeiter zum
Beispiel. Mühsam muss Silke ihnen immer wieder erläutern, warum bestimmte
Behandlungen notwendig sind. Eine dauerhafte Entfernung der Gesichtshaare zum
Beispiel. Dann heißt es: Rasieren Sie sich doch. Kompetente Ansprechpartner bei
Ämtern und Kassen, das würde schon helfen.
Momentan freut Silke sich über kleine Dinge: Ihr Haar, das
durch die Östrogene wieder üppig wächst und schon bis zu den Schultern reicht.
Den Ansatz von Dekolleté. Neulich wollte die Kassiererin ihre EC-Karte nicht
annehmen. »Die gehört wohl ihrem Mann.« Silke grinst. »Das geht runter wie Öl.«
Aber sie ist realistisch. In der Stadt sieht sie junge Frauen in schönen
Kleidern und weiß: »So werde ich nie aussehen.« Zu breit die Schultern, zu grob
die Hände. Sie weiß auch: »Die Zeit gibt mir niemand zurück.« Vierzig Jahre
lang war sie im Grunde nicht sie selbst. Nun kann sie es ausprobieren. Silke
hat gekündigt, macht jetzt das, was ihr Freude macht. Mit einem Bekannten
betreibt sie eine Werkstatt, baut Möbel, Uhren und Kunsthandwerk. Sie hat
Talent, es hat sich bereits herumgesprochen. Die Schultern werden von der
harten Arbeit nicht schmaler, aber das ist egal, die Freude an der Arbeit
zählt.
Überhaupt: Der Mensch ist nicht nur Geschlecht. Der Wechsel
ihrer Identität hat Silke viel Kraft gekostet, daneben soll der Alltag nicht
verloren gehen. Ihre Freunde sind ihr wichtig, die gemeinsamen Hobbys und
Feste. Und die Liebe? Silke lächelt verhalten. Irgendwann eine neue Beziehung,
schön wäre das schon. Wie die denn aussehen könnte, das weiß sie noch nicht.
Erst mal muss sie ganz Silke werden. Bis dahin ist ja auch noch Mutter Gitti
da. Die beiden Frauen wohnen zusammen. Nein, es ist keine Flucht zurück in
Mamas Nest, eher eine WG. »Zu zweit ist es einfach lustiger«, sagt Silke, und
Gitti nickt bestätigend.
Gleich geht es los zur Geburtstagsfeier von Silkes Ältestem.
Ab und zu rutscht Gitti noch ein »er« heraus, wenn es um die Tochter geht.
Silke nimmt es ihr nicht übel. Momentan ist sie sowieso mit der Suche nach
ihrer Tasche beschäftigt. »Kommst du?«, ruft Gitti und schüttelt den Kopf.
»Dass Mädels immer so lange brauchen.
Hormontherapie
Die Hormontherapie im Rahmen einer Geschlechtsangleichung
funktioniert zweifach: Die Betroffenen nehmen sowohl Sexualhormone des
erwünschten Geschlechts ein als auch Mittel, die die körpereigene Produktion
der Sexualhormone unterdrücken. Bei einer Mann-zu-Frau-Behandlung sind das
Estrogene, Gestagene und Antiandrogene. Nach der geschlechtsangleichenden
Operation produziert der Körper keine Androgene mehr. Diese werden dann häufig
in niedrigen Dosen wieder zugeführt, um Antriebslosigkeit und psychischen
Beschwerden entgegenzuwirken. Bei einer Frau-zu-Mann-Behandlung erhalten
Betroffene einerseits das männliche Sexualhormon Testosteron, andererseits
Antiestrogene.
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