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Rothenbächer 2012
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Medizin ohne Menschlichkeit?
"Wenn die
Klügeren immer nachgeben,
geschieht nur das, was die Dummen wollen!"
Der europäische Kommissar für Menschenrechte Thomas
Hammarberg hat 2009 in einem Aufsehen erregenden Themenpapier (s. Issue Paper )
wesentliche Menschenrechtsverletzungen transsexuelle Menschen betreffend
konkretisiert und auch die Rolle 'der Medizin' dabei kritisch beleuchtet:
Medizinerinnen sind aktiv beteiligt an umständlichen
Verfahren zu Geschlechtsanerkennung, psychiatrische, psychologische und
physische Untersuchungen ziehen "die Prozesse in die Länge"
Hammarberg erwähnt als Beispiel für Nichtachtung der
körperlichen Unversehrtheit Übergriffe von Psychiater_innen (wie z.B.
Genitaluntersuchungen)
beschreibt 'diskriminierende medizinische Verfahren',
'inadäquate Behandlungen'.
In der Mehrzahl der Europarat-Staaten muss eine transsexuelle Einzelperson für den
Geschlechtseintrag (in Dokumenten) nachweisen
dass er/sie einen medizinisch überwachten Prozess (!) der
Geschlechtsangleichung durchlaufen hat
dass er/sie dauerhaft unfruchtbar gemacht wurde
(Sterilisationszwang)
dass er/sie sich weiteren medizinischen Maßnahmen wie einer
Hormonbehandlung unterzogen hat.
Hammarberg kritisiert zurecht ("es ist zutiefst
beunruhigend"), dass transsexuelle Menschen "europaweit die einzige Gruppe zu sein scheinen, die sich
einer gesetzlich vorgeschriebenen und vom Staat aufgezwungenen Sterilisation
unterziehen müssen". Er verweist darauf, dass Mediziner_innen und
Psycholog_innen bei der Ausgestaltung dieses Systems eine bedeutsame Rolle
spielen.
Ebenfalls alarmierend
sind seiner Auffassung nach die Erfahrungen transsexueller Menschen
"in Bezug auf Ungleichbehandlung und Diskriminierung beim Zugang zu den
Gesundheitssystemen in Europa".
Transsexuelle Menschen werden von Psychiater_innen und
Psycholog_innen grundsätzlich als
psychisch gestört diagnostiziert: entsprechend dem Klassifikationssystem DSM-IV
als geschlechtsidentitätsgestört oder gemäß ICD-10 als verhaltens- und
geistesgestört. Dies wird nicht nicht nur von Hammarberg inzwischen sehr
kritisch gesehen. Eine Reihe von Mediziner_innen, Psycholog_innen und
Neurowissenschaftler_innen kann diese Sichtweise von psychisch gestörten
transsexuellen Menschen nicht akzeptieren. Bereits vor 13 Jahren stellte der
Psychologe und Sexualwissenschaftler Kurt Seikowski die Frage (s. Seikowski
Zitat)
"warum sich eine psychisch gesunde transsexuelle
Person, die selbständig Klarheit über die eigene Geschlechtsidentität erlangt
hat, 'in jedem Fall' psychotherapeutisch begleiten lassen 'muss'."
Selbst im eher 'sehr vorsichtigen' Deutschen Ärzteblatt war
bereits vor 2 Jahren zu lesen (s. Ärzteblattartikel):
"Sowohl der Krankheitsstatus als auch der Wunsch nach
Geschlechtsumwandlung als eines der Hauptsymptome der Transsexualität werden
heute von Experten immer stärker hinterfragt. So hat beispielsweise Prof. Dr.
Rauchfleisch, Klinischer Psychologe und Psychotherapeut an der Universität
Basel, bei seiner Arbeit mit Transsexuellen die Erfahrung gesammelt, dass es
unter transsexuellen Menschen sowohl psychisch völlig unauffällige als auch
psychisch erkrankte gibt – wie in der Normalbevölkerung auch ... Wir können
Transsexualismus nicht als eine Störung der Geschlechtsidentität betrachten,
sondern müssen ihn als Normvariante ansehen"
Seitens der Neurowissenschaften zeigen immer mehr
Studienergebnisse und Befunde, dass Transsexualität eine biologisch fundierte
Variation des Gehirns, d.h. gesunde Normvariante, darstellt: es gibt seriöse
Hinweise, dass genetische, (neuro)hormonelle und (neuro)anatomische angeborene
Besonderheiten des Gehirns die Basis von Transsexualität darstellen (über die
wichtigsten Studien werde ich in diesem Blog berichten). Bestimmte, besondere
Hirnstrukturen und -funktionen sind biologische Grundlage einer angeborenen
Geschlechtsidentität, in diesem Fall (Transsexualität) kontrastierend zu
anderen biologischen Geschlechtsaspekten (gonadal, chromosomal etc.) des
biologischen Individuums.
Es ist also nicht zutreffend, von einer z.B.
weiblichen Psyche in einem männlichen Körper zu sprechen: vielmehr
kontrastiert, als seltene Laune der Natur, biologisches Hirngeschlecht
(=angeborene Geschlechtsidentität) mit anderen biologischen Geschlechtsaspekten
im selben Körper.
Wie Milton Diamond treffend formulierte: Die Natur liebt
Vielfalt, die Gesellschaft hingegen nicht. Um es in der Sprache und mit Bildern
der Informatik auszudrücken: in der Hardware des Gehirns ist die (biologische
strukturelle und funktionelle) Geschlechtsidentität von Anfang an "fest
verdrahtet". Oder wie es der Psychologe Klaus Holzkamp formuliert hätte:
die Geschlechtsidentität ist fixer Bestandteil der biologischen
Funktionsgrundlage im Gehirn und daher durch psychische Entwicklungsprozesse in
gewissen Grenzen modifizierbar; aber entscheidend ist die biologische Basis.
Es ist meist etwas schwierig zu verstehen, dass
"Identität" hier ein wesentlich biologisches Phänomen sein soll, da
der Begriff psychologisch, soziologisch und kulturell-politisch reichlich
überfrachtet ist. Aber es geht hier um die biologisch formierte
Geschlechtsidentität.
Die mir vorliegenden Kasuistiken belegen eindeutig, dass die
Mehrzahl der Betroffenen psychisch kerngesund ist, allerdings - und hier schließt
sich der Kreis - eine kleinere Gruppe leidet massiv unter der Transfeindlichkeit
der Gesellschaft.
Menschenrechtsverletzungen wie Diskriminierung, sexuelle Belästigung,
Mobbing, Gewalt ... gehören leider oftmals zum Alltag transsexueller Männer und
Frauen. Es erzeugt naturgemäß innere Turbulenzen, Angst bis sogar Panik; wenn plötzlich vieles zusammen bricht, die Verarmung auf
einmal zum eigenen Thema wird, dann entwickeln sich (mitunter) depressive
Reaktionen.
Im Themenpaper von Thomas Hammarberg finden sich zudem auch
viele Hinweise auf
Menschenrechtsverletzungen
bezüglich familiäre Situation, Arbeitsplatz, Hass und Gewalt usw.
Angesichts dieser schwierigen und für transsexuelle Menschen
nicht einfachen gesellschaftlichen Situation wäre es doch Aufgabe der
Gesundheitssysteme/Therapeut_innen zu unterstützen, Kompetenzen zur Gegenwehr
zu vermitteln und Weiterentwicklung zu initiieren, also Gesundheitspotenziale
zu fördern.
Stattdessen beteiligt sich die Mehrheit der Behandler_innen an stigmatisierenden
Etikettierungsprozessen a la
Geschlechtsidentitätsstörung (Abkürzung "GID"), verbiegt
gesellschaftlich bedingtes psychisches Leid zu innerlichen psychischen
Prozessen, die nur noch in homöopathischen Dosen etwas mit der
gesellschaftlichen Situation zu tun haben. Die massive Diskriminierung und
Transfeindlichkeit samt ihren psychischen Auswirkungen wird also von
Therapeut_innen psychisiert und damit verharmlost.
Begünstigt werden solche Sichtweisen und Praxen durch die
eigentümliche Situation, dass eine sehr kleine Gruppe von
"Transexualitäts-Expert_innen" international den wissenschaftlichen
Diskurs bestimmt und die entsprechenden Gremien strategisch durchaus geschickt
besetzt. Es handelt sich um ein kleines internationales Netzwerk
psychoanalytischer Sexolog_innen, das nahezu starr an der Vorstellung einer
Geschlechtsidentitätsstörung und der Psychopathologie der Transsexualität
festhält (Groupthink ähnlich). Und auf die inzwischen doch arg in Misskredit
geratenen 'Theorien' von John Money rekurriert. Money vertrat ja das Paradigma
einer Geschlechtsidentitätsentwicklung nach der Geburt.
Zu fragen ist doch, in weit der GID-Diskurs überhaupt eine
ausreichende wissenschaftliche Fundierung und Bezüge aufweist (ich komme
ausführlich in diesem Blog darauf zurück). Eine Reihe von Expert_innen moniert
in diesem Zusammenhang eine unzureichende Anzahl entsprechender aktueller
Studien.
Die Etikettierung von transsexuellen Menschen - so Thomas
Hammarberg - dient auch als Mittel, den Zugang zu Leistungen der
Gesundheitsversorgung massiv einzuschränken. Psychiater_innen und
Psycholog_innen haben zu 'begutachten', in wie weit die individuelle
transsexuelle Person psychisch gestört ist und das GID-Etikett zutrifft, so
dass (ev.) Leistungen gewährt werden. Es bedurfte zahlreicher Anrufungen des
europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, um Krankenkassen und Gerichte in
europäischen Ländern zur Leistungsgewährung zu veranlassen. Aufgrund dieser
Diskriminierungen bezahlen 50% aller transsexuellen Menschen, die eine
Geschlechtsangleichung vornehmen lassen wollen, ihre Behandlung aus eigener Tasche.
Bedrückend auch, dass seitens des Menschenrechtskommissars
häufig negative Erfahrungen "mit den Gesundheitssystemen, mit nicht
informierten, voreingenommenen oder manchmal offen unverschämten medizinischen
Fachkräften" angeführt werden.
Eine Reihe von typischen Erfahrungen von transsexuellen
Menschen im Rahmen diskriminierender Begutachtungs- und Therapie-Rituale wird
von Hammarberg wie folgt beschrieben (Übersetzung s. TVT-Schriftenreihe Bd.2 im
Rahmen des TGEU-Projekts TRANSRESPECT versus TRANSPHOBIA):
"Hinzu kommt, dass der Zugang zu
geschlechtsangleichenden Operationen von so genannten 'Protokollen' und
Bedingungsvorgaben bezüglich Kindheit, sexueller Orientierung oder
Kleidungsgeschmack, die höchst problematisch sind, zusätzlich verkompliziert
und konditioniert wird. Es gibt Berichte von transgender Menschen, die sich von
Psychiatern_innen Genitaluntersuchungen gefallen lassen mussten, eine bestimmte
Standardgeschichte ihrer Kindheit erzählen mussten, die als die einzig
akzeptable gilt und manchmal wurde Anspruch darauf Patient_in zu sein nur als
genuin betrachtet, wenn sie zumindest einen nachgewiesenen Selbstmordversuch
verübt hatten. Andere transgender Menschen werden dazu gezwungen sich selbst in
extremen Stereotypisierungen des bevorzugten Geschlechts darzustellen, um den
Auswahlkriterien zu entsprechen, die sie im täglichen Leben der Lächerlichkeit
Preis geben. Die Beispiele sind zu häufig, um sie aufzuzählen, aber es kann mit
Sicherheit behauptet werden, dass der Großteil der Untersuchungen und Verfahren
wie sie in den meisten Ländern praktiziert werden für gewöhnlich Aspekte
beinhalten, die allenfalls als unverständlich bezeichnet werden können."
Mit diesem Blog möchte der als Psychiater und
Psychotherapeut einen Beitrag leisten, dass
Psychotherapie-Konzepte unter dem Gesichtspunkt
Menschenrechtssituation diskutiert und entsprechend revidiert werden. Sie
sollten sich an den Polen 'gesunde Transsexualität' und 'Transfeindlichkeit der
Gesellschaft' orientieren
entsprechendes gesellschaftliches Engagement für die
Menschenrechte von Transfrauen und Transmännern auch von Therapeut_innen
solidarisch unterstützt wird - etwa das Engagement der in Deutschland und der
Schweiz aktiven Menschenrechtsorganisation ATME (Aktion Transsexualität und
Menschenrecht), vor allem bezüglich
Stigmatisierung durch
psychiatrische Diagnosen, Pathologisierung von Transsexualität
Sterilisationszwang
Diskriminierende Praktiken von medizinischen und
psychologischen Fachpersonen
Einschränkungen des Zugangs zu medizinischen Leistungen
endlich ein (neuro)wissenschaftlich begründeter machtvoller
Gegendiskurs zu den psychoanalytisch-sexologischen Transsexualitäts-Diskursen
entwickelt wird.
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