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Rothenbächer 2012
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Transsexuellensysteme
„Der einzige Weg …diesem Drillsystem zu entkommen, ist die
kollektive Aktion, die politische Organisierung, die Rebellion.“
Menschenrechtsverletzungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die
Geschichte der Psychiatrie seit ihrer Entstehung als medizinischem Fachgebiet
im 17. Jahrhundert.
Angesichts der Praktiken der Anstaltspsychiatrie (bis in die 1970er
Jahre hinein), der Militärpsychiatrie (z.B. Folterähnliche 'Behandlung' sog. 'Krieg
Neurotiker' im ersten Weltkrieg) und der NS-Psychiatrie, ließen sich –
historisch betrachtet – bei Psychiater_innen im wesentlichen vier Muster des
kognitiv-emotionalen und praktischen Umgangs mit den psychiatrischen
Menschenrechtsverletzungen erkennen williges Vollstrecken: aktive Beteiligung
an Menschenrechtsverletzungen, z.B. NS-Psychiater wie Werner Heyde.
Sich Anpassen und Mitmachen: eher 'Mitschwimmen' im System,
befangen in der Illusion, Verschärfungen und Auswüchse individuell verhindern
zu können, mit der Tendenz sich in einer Nische einzurichten und
Alibihandlungen zu setzen, um das eigene Gewissen zu beruhigen.
Sich Unterwerfen: Angstvoll versuchen zu funktionieren, um
ja nicht den Eindruck von Widerständigkeit zu erwecken und sich damit eventuell
zu gefährden.
Expliziter Widerstand gegen diesen psychiatrischen Ungeist und die
Praktiken, Zusammenschluss mit anderen Psychiater_innen und
Menschenrechtsaktivist_innen, um gemeinsam gegen die Menschenrechtsverletzungen
zu kämpfen. Beispiele sind der italienische Psychiater Franco Basaglia, der die
demokratische Psychiatrie begründete oder Psychiater wie Ronald Laing, David Cooper und Thomas
Szasz (typische Vertreter der Antipsychiatrie).
Die historische Analyse belegt aber auch, dass insbesondere
die kritischen Psychiatriebewegungen (siehe o. Punkt 4) in der Vergangenheit
bedeutsame Erfolge erzielen konnten. Die grundlegenden Reformen und
Veränderungen der 1970er Jahre, die partiell zum „Ende der Anstalt“ (wie es der
bekannte Sozialpsychiater Asmus Finzen einmal formuliert hat) führten, sind ein
direkter Erfolg und historischer Verdienst dieser psychiatriekritischen
Bewegungen.
Zu diesen vier Grundtypen gab es viele Varianten: die
Grundtypen sind eher als Eckpfeiler eines Spektrums von Möglichkeiten
aufzufassen - mit vielen Zwischenformen und Mischtypen. Sie unterliegen auch
der historischen Veränderung, sind Bestandteile der diskursiven Entwicklung.
Im diesem und den folgenden Postings möchte ich ableiten,
dass die vier Grundtypen auch heute noch dem Prinzip nach, wenn gleich auch in
neuen veränderten Formen durchaus Relevanz und heuristischen Wert besitzen,
will man den subjektiven Umgang mit Menschenrechtsverletzungen analysieren.
Insbesondere der vierte Grundtyp scheint, so meine These (in Anlehnung an die
Kritische Psychologie von Klaus Holzkamp), sowohl für transsexuelle Menschen
wie auch für Therapeut_innen die gesündeste Alternative darzustellen, um gegen
diesbezügliche Menschenrechtsverletzungen adäquat vorzugehen und angesichts der
massiven Transfeindlichkeit die eigene Handlungsfähigkeit zu erweitern.
Transsexuellensysteme
In vielen europäischen Ländern wurden
medizinisch-juristische Systeme installiert, um transsexuelle Menschen bei
ihrem Wechsel des juristischen Geschlechts zu überwachen, zu kontrollieren und
gegebenenfalls zu sanktionieren. Diese Systeme sind Ausdruck
menschenrechtsverletzender Diskurse und Praktiken (s. Posting „Medizin ohne
Menschlichkeit?“) und stellen transsexuelle Menschen wie auch Berater_innen in
ein Feld von zunächst unauflösbaren grundlegenden Widersprüchen. Jede Beratung
und Therapie erhält durch diese "Maschinerie" im Hintergrund
unausweichlich ihr Gepräge, ihre Machteffekte dringen in die Ritzen jeder Beratungssituation
(auch bei Beratungen, die explizit nicht direkter Bestandteil des
Transsexuellensystems sind, sich also bewusst über eine kritische Distanz zur
herkömmlichen 'Therapie' im Rahmen der Transsexuellensysteme zu definieren).
Sie beeinflussen in der Tiefe jeden transsexuellen Diskurs (auch im Alltag) und
formieren grundsätzlich jede Alltagspraxis von transsexuellen Menschen. Das
Transsexuellensystem hat die Bedeutung einer unhintergehbaren Tatsache für jede
Beratungs- und Therapiesequenz (ich werde aus Gründen der Vereinfachung im
Folgenden das Wort 'Transsexuellensystem' mit 'TSS' abkürzen).
Daher muss am Anfang jeder Überlegung über die Möglichkeiten
einer bedürfnisgerechten Beratung transsexueller Menschen eine kritische
Auseinandersetzung mit dem TSS stehen. Dies sei am Beispiel des
'paradigmatischen' deutschen Transsexuellengesetzes (TSG) und der deutschen
Standards of 'Care' näher beleuchtet. Ausgangspunkt für meine Überlegungen sind
die Diskursanalyse von Foucault (vor allem seines Werks "Überwachen und
Strafen") und die Kritisch-Psychologischen Ausführungen von Wiebke Ramm
("Transsexualität als Problem interdisziplinärer Produktion
'authentischer' Geschlechtlichkeit", FU-Berlin, Dipl.-Arb. 2002).
Transsexuelle Menschen stellen noch immer für die
Gesellschaft – schon alleine durch ihre Existenz und später ihre 'geoutete'
Lebensweise, eine ungeheure Provokation dar. Sie 'verstoßen' nämlich gegen
einen 'heiligen' bzw. 'natürlichen' Grundsatz, entsprechend dem in dieser
Gesellschaft gedacht und gehandelt wird: nämlich gegen das Prinzip, dass es ausschließlich
von Natur aus Männer und/oder Frauen gibt (Diskurs der binären
Geschlechtlichkeit). Dieser Mythos ist ganze 300 Jahre alt, hat sich aber in
der modernen bürgerlichen Gesellschaft machtvoll durchgesetzt. Der Mythos wird
energisch verteidigt, denn er ist ein wichtiger Kitt, um eine widersprüchliche
und auseinanderdriftende Gesellschaft zusammenzuhalten ("Was immer mir in
meinem armseligen Leben zustoßen mag - Arbeitslosigkeit, Armut - ich bin in
jedem Fall ein richtiger Mann" - "Was immer mir zustößt, das Lächeln
meines Kindes wiegt es auf"). Der Mythos wird, da enorm wichtig für das
Funktionieren der Gesellschaft, mit 'Klauen und Zähnen verteidigt': und alle
dazu konträren Lebensweisen begegnen einer Feindlichkeit in der Gesellschaft.
Insbesondere transsexuelle Menschen sind mit dieser Feindlichkeit konfrontiert,
ihr Alltag ist häufig von Gewaltdrohungen, Hass, Diskriminierung, Mobbing usw.
durchsetzt.
Die faschistische 'Lösung' - die Alternativen
"Kastration oder Eliminierung im Konzentrationsslager" - wurde
allerdings durch 'modernere' Varianten des Umgangs mit Transsexualität ersetzt
(auf die Kastration mag man jedoch immer noch nicht verzichten). Mit dem
'Wegtherapieren' ist man auch nicht weiter gekommen, transsexuelle Menschen
widerstehen solchen Versuchen.
Was man nicht eliminieren kann, sollte man zumindest
kontrollieren und 'im Griff haben': Heute dürfen sich transsexuelle Menschen
einer genormten Prozedur freiwillig unterwerfen, nämlich einem von den
staatlichen Instanzen/Expert_innen abgesegneten und genau reglementierten
Prozess des 'Geschlechtswechsels' - mit dem Ergebnis, dass dabei möglichst
normale, echte Frauen oder Männer 'herauskommen' sollen (authentische Männer oder
Frauen).
Wichtiger Baustein der "Umwandlungsprozeduren"
sind die 'Behandlungsstufen', die es zu erklimmen gilt: Diagnosestellung -
Hormonindikation - Gutachten zur Vornamensänderung - Operationsindikation -
Gutachten zur Personenstandsänderung. Dazu gibt es einen genauen Zeitplan, ab
wann die Beförderung/Versetzung auf eine höhere Stufe erfolgen kann. Die
Beförderung wird durch ein Zeugnis von Expert_innen ermöglicht, denn als
geistig- und verhaltensgestörte Individuen (s. ICD) kann und darf transsexuellen
Menschen auf keinen Fall die Verantwortung für ihren eigenen Körper überlassen werden.
Am Anfang des Prozesses steht die Selektion: zunächst steht
die strenge und genaue Prüfung der Echtheit und Authenzität der Zugehörigkeit
zum 'anderen' Geschlecht an. 'Wirklich' transsexuell sind nur Personen, die den
Wunsch äußern, sich operativen Eingriffen unterziehen zu wollen. Dies ist
notwendig, um die echten Transsexuellen aus einem Meer von Transvestiten und
effeminierten Homosexuellen 'herauszufischen'. Die erste Hürde/Stufe gilt als
bestanden, wenn die Diagnose "Transsexualität" feststeht, also die
Gestörtheit des transsexuellen Individuums etikettiert worden ist.
Eine weitere Hürde gilt es zu nehmen: den Alltagstest. Die
Standards fordern, dass transsexuelle Menschen ein Jahr 24 Stunden täglich
"sich in der angestrebten Geschlechtsrolle in allen Bereichen des Alltags
erproben". Dies soll ohne Einnahme von Hormonen erfolgen (die gibt's erst
danach); weniger begüterte transsexuelle Frauen können sich zudem auch keine
kostenintensive Epilation leisten, die Prozedur findet ohne eingeleitete
somatische Maßnahmen statt. Angesichts der Transfeindlichkeit können hier die
Betroffenen im Alltag reichlich Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen
sammeln. Dies wird von den Schöpfern der Standards offenbar bewusst in Kauf
genommen, denn es gilt ja noch einmal unverfälscht zu überprüfen, wie echt der
Wunsch denn nun ist. Solche Praktiken machen klein und demütig. Und sie
verweisen auf den Zynismus ihrer Konstrukteure.
Die normierte Abrichtung nimmt ihren Lauf. Wichtig ist das
Prinzip der stetigen Überwachung: Unter dem strengen, überwachenden Blicken von
Therapeut_innen und Gutachter_innen, den sog. Transsexuellen-Spezialisten. Dazu
sind Bekenntnisse und Geständnisse abzulegen, auf der Basis des unhinterfragten
Mythos der binären Geschlechtlichkeit. Vor den 'Experten' hat sich 'der
Patient' zu bewähren. Dabei ist stetes Misstrauen wichtig: "Die Heftigkeit
des Geschlechtsumwandlungswunsches und die Selbstdiagnose allein können nicht
als zuverlässige Indikatoren für das Vorliegen einer Transsexualität gewertet
werden". Unter solchen Bedingungen werden 'Therapeut_innen' zu
"Bewährungshelfern" (Hirschauer). Kurz gesagt: von
gleichberechtigten, vertragsähnlichen, kooperativen Beziehungen kann im TSS
nicht die Rede sein, es dominieren Unterwerfungsverhältnisse. Auch der sog.
Alltagstest dient der Überwachung. Man gibt sich modern: in die
Überwachungsaktivitäten werden auch andere transsexuelle Menschen und
Selbsthilfegruppen einbezogen. Kockott, einer der bekannten
Standardisierungs-'Experten', meint:
"Zu Beginn des Alltagstests beobachten wir häufig, dass
der Transsexuelle die spezifischen Verhaltensweisen des angestrebten
Geschlechts überzeichnet. Andere Transsexuelle oder Angehörige des gewünschten
Geschlechts können korrigierend helfen" (Zit. nach Ramm ebda. S. 88).
Auch Therapeut_innen und Gutachter_innen werden genau
überwacht. Im Transsexuellensystem überwachen und kontrollieren sich die
Expert_innen gegenseitig (interdisziplinär). Beispielsweise wird bei uns in der
Schweiz dieses System von wechselseitigen Überwachern durch
"interdisziplinäre universitäre Kompetenzzentren" exekutiert und als
Leistung von "Kompetenzteams" verklärt.
Das TSS dient dazu, die Norm der ausschließenden
Zweigeschlechtlichkeit durchzusetzen. Um die Durchsetzung auch wirklich
abzusichern, wurde der Normierungsprozess der 'Umwandlung' in möglichst echte
Männer oder Frauen mit der Macht eines Gesetzes fixiert (TSG). Danach gibt es
uniform eine große und eine kleine Lösung, die für alle transsexuellen Subjekte
pauschal zu passen hat. Der Behandlungs-, Begutachtungs- und juristische
Entscheidungsapparat hat nur das durch- bzw. umzusetzen. Juristisch relevant
für den 'Geschlechtswechsel' ist ausschließlich, ob sich jemand exakt den
vorgeschriebenen Prozeduren unterwirft, nur dann erhält er/sie uniform die
kleine oder große Lösung.
Die Disziplinierung von transsexuellen Menschen auf die Norm
hin hat vor allem über den Status eines Operationskandidaten zu erfolgen. Ein
Widersetzen oder Ausbrechen aus dem Behandlungsprogramm wird mit Ausschluss
sanktioniert, dadurch verbleibt dann die transsexuelle Person im Rahmen des
zugewiesenen Geschlechts. Es besteht in diesem Sinne ein Zwang zur Konformität.
Bei dieser Zurichtung und Disziplinierung ist auch die Kastration obligatorisch:
Transsexuelle Männer sind für eine Änderung ihres
Personenstandes zu einer operativen Brustverkleinerung und einer Entfernung von
Gebärmutter, Eileitern und Eierstöcken verpflichtet
transsexuelle Frauen werden juristisch als 'weiblich'
anerkannt, wenn die Keimdrüsen und das Genital entfernt worden sind und die
Anlage eines äußeren weiblichen Genitals durch die Bildung einer Neovagina
durch Implantation der invertierten Penishaut erfolgt ist. Dabei ist darauf zu
achten, dass eine ausreichende Tiefe der Vagina erreicht wird.
Eine besondere Machttechnik hilft die Überwachung und
normierende Sanktionierung zu perfektionieren: die TSS-Prozeduren sind von
Prüfungen durchsetzt. Angesichts der Tatsache, dass sich viele transsexuelle
Menschen nicht als krank erleben, werden Diagnostik und Begutachtung zum
Prüfungsritual. Der prüfende Blick nimmt die gesamte Biographie ins Visier:
"Die Begutachtung dient dazu, 'DIE ENTWICKLUNG DER
GESCHICHTE DER GESCHLECHTSIDENTITÄT UND IHRER STÖRUNG [...] IM PSYCHOSOZIALEN
UMFELD MIT SEINEN JEWEILIGEN EINFLUSSFAKTOREN IN DEN AUFEINANDERFOLGENDEN
LEBENSPHASEN NACHZUZEICHNEN.' (Becker). Das gesamte bisherige Leben hat
innerhalb des therapeutischen Kontextes zu einer kohärenten, nach spezifischen
Ereignissen gegliederten, chronologischen Entwicklung zu werden, die der
Biographie eines ,Transsexuellen´ zu entsprechen hat: 'Die Gutachtenbiographie
ist eine gewissermaßen zu Entscheidungszwecken 'eingefrorene' Geschichte, die
auch auf bestimmte Merkmale hin getrimmt wird' (Hirschauer ...). Entscheidend
ist daher auch zur Identifikation eines, Transsexuellen´ nicht, was in seinem
Leben tatsächlich passiert ist, sondern 'was passiert sein muss, damit das
jetzige Phänomen entstehen konnte (ebd.). Wesentlich sind demnach für die
Erstellung von Diagnosen und Gutachten sozusagen 'symptomatische' Ereignisse,
so dass die Biographie bereits als 'Fall von' Transsexualität erfragt wird:
'DIE BIOGRAPHISCHE ANAMNESE SOLL MIT SCHWERPUNKT AUF DEM INDIVIDUELLEN
GESAMTVERLAUF DER TRANSSEXUELLEN ENTWICKLUNG UND DEN IHN BEEINFLUSSENDEN
FAKTOREN IN DEN WESENTLICHEN ASPEKTEN DARGESTELLT WERDEN.' (Becker)'"
(Zit. n. Ramm ebda. S.98).
Der sich den Ritualen unterwerfende transsexuelle Mensch ist
dazu angehalten, im Sinne einer echten Geschlechtlichkeit normgerecht und
regelkonform gelebt und empfunden zu haben.
Das TSS führt also summa summarum zur Entmündigung
transsexueller Menschen. Dabei interessiert primär, inwieweit der
Anpassungsprozess der 'Selbstnormalisierung' vorangeschritten ist. Die
subjektive Befindlichkeit und die Lebenswirklichkeit spielen beim Hinsteuern
auf die kleine oder große Lösung eine eher untergeordnete Rolle. Als Ergebnis
der Prozeduren erscheint
"Ein geschlechtlich transformierter Mensch .... gewissermaßen
als ein Produkt dessen, was andere zum Standard erklärt haben, als ein vom
Behandlungsapparat verfertigtes Individuum, dessen Geschlechtlichkeit nach
vorgegebenem Maß normiert und normalisiert wurde." (Ramm ebda. S.103)
Insbesondere wird transsexuellen Menschen das Recht
abgesprochen, über ihren Körper selbstbestimmt zu verfügen.
Das TSS pathologisiert transsexuelle Menschen. Auch dadurch
wie die Subjektivität transsexueller Menschen innerhalb des 'therapeutischen'
Geschehens ignoriert. Ein gesunder Mensch wird pathologisiert, damit
gesellschaftliche transfeindliche Bedingungen im System nicht vorkommen müssen
und verdrängt werden können. Die Therapeut_innen können sich so als Heiler,
Helfer und Geburtshelfer zur "Normalität" gerieren.
Unter solchen Machtverhältnissen wird echte
"Verständigung" in der Beratungs- und Therapiesituation enorm
erschwert. Im Vordergrund können Verdächtigungen stehen, der/die jeweils andere
wolle täuschen. Strategisch-instrumentalisierendes Verhalten ist an der
Tagesordnung: "Wie komme ich ihm/ihr auf die Schliche?" oder
"Was muss ich ihm/ihr erzählen, damit ich grünes Licht zur OP
bekomme?".
Beratung I: Herumdeuten und erste Selbstmanagement-Versuche
Angesichts der massiven Transfeindlichkeit in der
Gesellschaft und dem zunächst naturhaft vorgegeben erscheinenden
Transsexualitätssystem mit seinen noch undurchschauten Vorschriften, Ritualen
kommt ein transsexuelles Subjekt sich reichlich verloren und defensiv vor. Wenn
es dann noch auf Berater_innen / Therapeut_innen stößt, welche sich als
verlängerten Arm des Systems sprich als Transsexualitäts-Spezialisten verstehen
(und das ist wohl die Regel), dann werden in der Regel zunächst kognitive
Muster des Deutens (ein)geübt. Holzkamp stellt die Muster des Deutens und
Begreifens einander gegenüber (Holzkamp, K.: Grundlegung der Psychologie,
Frankfurt/M 1985 S.383 ff.).
Deutendes Denken ist für ein Subjekt immer dann
'interessant', wenn Passivität, Ohnmacht und Defensive beim Handeln auf der
Tagesordnung stehen. Das ist beim Einstieg in die Trans-Beratung meistens der
Fall. Wenige transsexuelle Menschen kommen selbstbewusst - strotzend voller
TransPride - in die erste Beratungssitzung. Meist sind sie verschüchtert bzw.
eingeschüchtert, aber zu Bekenntnissen und Geständnissen 'bereit'. Um die
Misere und Unsicherheit erträglich zu halten, wird zunächst 'gedeutet' und
weniger 'begriffen'. Dabei haben 'Therapeut_innen zunächst die Definitionsmacht
inne, es zählt also vor allem, was sie denken und wie sie über Transsexualität
reden. Einige typische Deutungsmuster von Therapeut_innen sind
Faktizität: geistige Orientierung am Faktischen: "das
ist einfach so, das kann man nicht verändern!". Transfeindlichkeit wird
als unabänderlich hingenommen.
Naturalismus: gesellschaftliche Interessen, Widersprüche und
Machtverhältnisse werden als natürlich-unveränderbar deklariert.
Neigung zur Mystifizierung, also zum 'Hineingeheimnissen':
transsexuelle Gesundheit wird zur Identitätsstörung mystifiziert.
Individualisierendes Denken: Tendenz z.B. übergreifende
gesellschaftlich bedingte
Diskriminierung zum lediglich individuellen Problem von Einzelnen
herunter zu stilisieren, mit dem die Einzelnen angeblich nicht zurechtkommen.
Interaktionsverkürzung: Probleme und Widersprüche, die in
gesellschaftlichen vorgeformten Machtverhältnissen begründet sind (z.B.
Gutachter-, Therapeuten-Macht) werden verkürzt auf die persönliche
Interaktionsebene (" ... es ist wichtig zu helfen und zu unterstützen")
("man muss nur miteinander vernünftig reden ...").
Unmittelbarkeitsverhaftetheit: Fehlen einer
(gesellschaftlichen) Metaebene (Background) beim Denken, alles erscheint
unmittelbar aus der momentanen Situation im Hier zu entspringen: "Wie
fühlen Sie sich im Moment?". Nichts hat mit dahinter stehenden
gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun. .
Operationalismus: menschliche Handlungen werden auf
Operationen verkürzt, Geschlechtsangleichung erscheint dann beispielsweise nur
als Problem, das Verfahren entsprechend den Standards 'korrekt' abzuwickeln,
der gesellschaftlich-historische Hintergrund solcher Prozesse wird
ausgeblendet. Die Lösungen erscheinen immer ganz einfach.
Oberflächenbezug: übergreifende Strukturen oder Hintergründe
werden negiert, die Dinge 'sind', wie sie unmittelbar an der Oberfläche
wahrgenommen werden. Der 'Patient' wird nach Äußerlichkeiten beurteilt (z.B.
Erwartung einer überbetonten 'weiblichen Performance').
Statisches Denken: Vergangenheit und Zukunft sind
ausrechenbar, logische Ausläufer der Gegenwart. Entwicklungssprünge,
revolutionäre Umbrüche, Krisen und Zusammenbrüche kommen nicht vor und können
auch nicht kollektiv herbeigeführt werden. "Die Transition verläuft ohne große
Probleme“.
Standpunkt außerhalb: "Als Therapeut bin ich
neutral"
Personalisierendes Denken: Gesellschaftliche Hintergründe /
Widersprüche werden ignoriert, die Patienten haben lediglich persönliche
Probleme.
Fokussierung auf Instrumentalbeziehungen: z.B. Einstellungen
wie „es ist wichtig, sich in der Therapie vom Patienten nicht hinters Licht
führen zu lassen und entsprechend aufmerksam zu sein“.
Verinnerlichung und Psychisierung: Objektiv bedingte
Schwierigkeiten, etwa gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse (z.B.
Transfeindschaft) und ihre psychischen Auswirkungen werden umgebogen zu einem
der Psyche 'des Patienten' innewohnenden Identitätskonflikts. Oder es liegt an
seiner unangemessenen 'Einstellung'
Im Rahmen dieser deutenden Denkweisen von Therapeut_innen
und der Defensivität / Ängstlichkeit werden zaghafte defensive Handlungsmuster
thematisiert und versuchend realisiert. Dabei spielen als Handlungsmatrix die
Vorgaben des Transsexuellensystems und der Standards eine große Rolle: erste
tastende Versuche z.B. sich 'en femme' in der angstvoll erlebten
transfeindlichen Gesellschaft zu bewegen, 'en-femme'-Realisierungsversuche
(z.B. am Passing feilen, Schminken lernen usw.) in häuslichen und anderen
Nischen (falls nicht durch Partner_in sanktioniert), Besuch von geschützten
Räumen wie Selbsthilfegruppen, kommunikative Forenteilnahme und
Internetrecherche, um den Informationshunger zu stillen, Bios von
transsexuellen Frauen und Männern lesen, die es bereits 'geschafft' haben
...
Je nach individueller
Position/Lebenslage, kann sich der Prozess im weiteren in unterschiedliche
Richtungen entwickeln: es kann einen Unterschied bedeuten, ob eine gut
verdienende transsexuelle Frau mit unternehmerischer Attitüde das Reglement
'souverän' umschifft und einfach die OPs z.B. in Thailand durchführen lässt ("Suporn
ist zwar teuer, aber er ist der Beste") oder eine weniger begüterte
transsexuelle Frau / Mann auf das TSS und die Krankenkassen (inkl. MDK)
angewiesen ist.
Wesentlich für die weitere Entwicklung sind Voraussetzungen
wie erlerntes Handeln-Können, erworbenes Wissen, Erfahrungen mit theoretischen
Begrifflichkeiten, Gewohnheiten wie kritisches Denken und bereits bestehende
gesellschaftsverändernde Handlungsbereitschaften, aber auch praktische
Erfahrungen mit Widerstand und kollektiven Widerstandskulturen.
Nicht zuletzt kann es bedeutsam sein, ob der/die
Therapeut_in sich als verlängerten Arm des TSS versteht (und damit die
Herumdeuterei eher bekräftigt bzw. vorexerziert) oder eine
kritisch-emanzipatorische Perspektive einbringt (wenn dies die zu beratende
transsexuelle Person wichtig findet).
Die möglichen weiteren Richtungen / Ergebnisse des
Beratungsprozesses könnten sein:
Sich schließlich dem TSS zu unterwerfen und dabei Krisen in
Kauf zu nehmen oder
die Handlungsfähigkeit relativ zu erweitern durch aktive
engagierte Anpassung (z.B. unter Zuhilfenahme geschickter unternehmerischer
Attitüden) oder
Zusammenschluss mit anderen transsexuellen Personen, um eine
kollektive Bedingungsverfügung zu antizipieren, sprich Entwicklung einer
kollektiven (politischen) Widerstandskultur gegen Transfeindlichkeit und TSS,
damit Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit und Förderung der eigenen
Gesundheit/Entwicklung trotz (zunächst) widriger Bedingungen.
Dies sind Möglichkeiten, Richtungen, die eingeschlagen
werden können.
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