Mittwoch, 5. September 2012

Vielfalt der Transsexualitäten – Von der Transsexualität zum Transgenderismus



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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2012

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Vielfalt der Transsexualitäten – Von der Transsexualität zum Transgenderismus

Die Eindeutigkeit und das ‚Immer-schon‘ der gegengeschlechtlichen Identität von Transsexuellen – ihre total und dauerhaft transponierte Geschlechtsidentität – war eine Konstruktion mit strategischem Charakter, die Psychiater und Transsexuelle in einem Wechselverhältnis entwickelten, um den medizinisch bewerkstelligten Geschlechtswechsel zu legitimieren.

Der Eindeutigkeit der behaupteten Identität entsprachen die deterministischen Atiologiespekulationen sowie die eindeutigen Symptome dieser Identität.
Und ihr entsprach das idealisierte Therapieziel des ‚passing‘, des unauffälligen Aufgehens im anderen Geschlecht. Die Operation erscheint im medizinischen Diskurs als der krönende Abschluss einer jeden echten Transsexuellenkarriere.

Das transportiert schon die Sprache: nicht operierte werden zu präoperierten Transsexuellen, eine Sichtweise, die von vielen Transsexuellen selbstnormalisierend übernommen wird. Alternativen zur Geschlechtsumwandlung werden entwertet. Die Geschlechtsumwandlung wird „durch die (diagnostischen) Zugangskontrollen zu einer Auszeichnung“ aufgewertet.
Doch die Biographien und die Lebenssituationen Transsexueller sahen schon immer vielfältiger aus  notgedrungen oder freiwillig. Vielfalt kennzeichnete sowohl die Wege und die Motivation, die zum Wunsch, das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht zu verlassen, führten, wie auch die Art und Weise der Realisierung dieses Wunsches.

Nur ein Teil der Personen, die mit Psychiatern oder Therapeuten wegen ihrer Geschlechtsidentitätsstörung Kontakt aufnahmen, wurde geschlechtsumwandelnd operiert. Gründe dafür mögen zunächst eine verbreitete skeptische, abwartende oder die Patienten hinhaltende Haltung seitens der Psychiater oder Resignation oder mangelnde finanzielle Möglichkeiten seitens der Transsexuellen gewesen sein, sich die Behandlung in Deutschland oder im Ausland leisten zu können.

Auch wenn heute Geschlechtsumwandlungen leichter verfügbar sind und in einigen Ländern die Behandlungskosten von der Sozialversicherung übernommen werden und sich so vermutlich der Anteil der Geschlechtsumwandlungen  bei dieser Patientengruppe erhöht hat, hat sich an dem Sachverhalt grundsätzlich nichts geändert, dass nur ein Teil der Wünsche eines Geschlechtswechsels auch medizinisch realisiert wird. Das muss nicht unbedingt etwas mit einer Verweigerungshaltung der behandelnden Ärzte zu tun haben.

Manche Transsexuelle kommen im Laufe der psychologischen Begutachtung wieder von ihrem Wunsch nach Geschlechtsumwandlung ab und entwickeln eine Lebensperspektive ohne medizinischen Eingriff.

Andere wollen von Anfang an keinen chirurgischen Eingriff oder lassen sich nur hormonell behandeln oder leben ihren Geschlechtswechsel ganz ohne medizinische Mittel, wechseln etwa nur ihren Vornamen, wie es z. B. das Transsexuellengesetz in der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht.                                                   
Vielfältig und geschlechtlich uneindeutig ist auch die Phase des Geschlechtswechsels derjenigen, die eine operative Geschlechtsumwandlung durchführen lassen. Die Zeitspanne zwischen den Medizinischen Eingriffen hat sich zwar verkürzt.

In der Weimarer Republik vergingen manchmal Jahre zwischen der Kastration,  der Penisamputation und der scheidenplastischen Operation, wohingegen heute die Durchführung dieser Eingriffe in einer Operation Behandlungsstandard sein sollte. Doch leben Transsexuelle in der Phase des sogenannten Alltagstests und der Hormonbehandlung manchmal Jahre mit einem Körper, der sich auf verschiedenen Stufen der Metamorphose befindet. Subjektive Leibwahrnehmung, objektive Körpergestalt sowie das Begehren sind verwickelt und vielschichtig und lassen sich nicht immer den Kategorien Frau oder Mann bzw. homo- oder heterosexuell zuordnen.

Und die immer noch mangelhaften Ergebnisse einer phallopastischen Operation lassen Frau-zu-MannTranssexuelle in der Regel davon Abstand nehmen, so dass ihre Körpertransformation nicht im männlichen ‚Normkörper‘ ankommt. Dafür wirkt ihr Körper aber durch die Hormonbehandlung meist überzeugend vermännlicht, wohingegen Mann-zu-Frau-Transsexuelle trotz Hormonbehandlung die pubertären Folgen wie Stimmbruch oder Körperbehaarung nicht bzw. nur zum Teil rückgängig machen können.

Dafür bietet ihnen die Genitalchirurgie mittlerweile optisch wie funktional gute Produkte an. Diese geschlechtsspezifischen Möglichkeiten und Grenzen der Körpertransformation bedingen eine Vielfalt ‚transsexueller Körper‘, die jedoch nur mittelbar die soziale Geschlechtsdarstellung und damit die Geschlechtswahrnehmung bestimmt, denn für die Wahrnehmung des in der Regel bekleideten Körpers sind außer der Körperstatur noch andere Faktoren wie Habitus, Gestus und Mimik relevant. 
Dass diese Vielfalt von Transsexualitäten im medizinischen Diskurs und insbesondere bei der Symptomatologie und Diagnostik – schematisch gesagt – in den 1960er Jahren negiert, in den 1970er Jahren typologisiert und in den 1980er Jahren flexibilisiert worden ist, charakterisiere ich mit Kategorien von Jürgen Link als Übergang von einer protonormalistischen Strategie zu einer flexibel-normalistischen Strategie, wobei sich die protonormalistischen Strategien noch stark an Mechanismen der Normativität anlehnen.

 D. h., Geschlechterrollen und Geschlechtsidentität waren bis Ende der 1960er Jahre noch Orientierungsnormen und Charakter binärer Erfüllungsnormen, waren nicht  bloß dem Handeln postexistente deskriptive ‚Grenznormen‘, die Link als einen durch Normalitätsgrenzen  bestimmten Bereich um den Durchschnitt versteht, sondern hatten auch den Charakter von dem  Handeln präexistenten präskriptiven imperativen ‚Punktnormen‘, denen das Individuum entspricht oder nicht. In diese Phase fallen die legitimierenden biologistischen, lerntheoretischen und ichpsychologischen Hypothesen einer angeborenen oder frühkindlichen konfliktfreien Genese der Transsexualität und damit  die Konstruktion transsexueller ‚Lehrbuchfälle‘. Wie der restriktive Charakter der Konstruktion der Transsexualität auf die Normativität der Geschlechternormen verweist, so wird das ‚typisch Weibliche‘ und ‚typisch Männliche‘ normalisierend über Abweichungen bestimmt, z. B. durch das, was an einem Frau-zu-Mann-Transsexuellen nicht dem männlichen Durchschnitt entspricht. 

Vielleicht ist das unterschiedliche Verhältnis von operierten Transsexuellen zu nicht medizinisierten Geschlechtswechslern auch eine Erklärung für die höchst unterschiedlichen epidemiologischen Angaben zur Häufigkeit von Transsexualität in einzelnen Ländern.

Eine andere Erklärung ist, dass unter problematischen statistischen Bedingungen und mit diskurspolitischen Absichten Häufigkeiten eher geschätzt als errechnet worden zu sein scheinen. Die bei Osburg / Weitze (1993) genannten Statistiken einzelner Länder geben im Mittel eine Häufigkeit um 1:50000 an. Die niedrigste Häufigkeit nennt Pauly 1968: 1:100000 bei Mann-zuFrau-Transsexuellen, 1:400000 bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen. Die größte Häufigkeit wurde 1988 für Singapur ermittelt mit 35,2 Mann-zu-Frau- und 12 Frau-zu-Mann-Transsexuellen pro 100000 Einwohner.
Für die Niederlande wurde 1992 die zweithöchste Häufigkeit von Transsexualität ermittelt. (Osburg / Weitze (1993), S. 103.)

Ich beziehe mich auf Jürgen Links Monographie „Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird“ (1999a), insb. S. 75-82, sowie auf dessen Aufsatz „Normativ“ oder „Normal“? (1999b), insbesondere auf die dortige Gegenüberstellung von Normativität und Normalität (a.a.O., S. 32).

Erst im Rückschluss vom Anormalen erschließt sich das Normale, das als ‚blinder Fleck‘ die Klassifizierungen des Anormalen regiert. Der Durchschnitt als Norm der normalisierenden Subjektivierung ist, so Link, qua Definition eine imaginäre Größe, eine Leerstelle, die die Abweichungen brauche. Für das Funktionieren der Normalisierung sei es wichtig, dass die Norm im Kern gerade nicht definiert ist.
So sei die Grenze normal - anormal beliebig verschiebbar – im Gegensatz zu den starren aus der Natur abgeleiteten anthropologischen Geschlechtscharakteren der Aufklärung.
Dem tradierten bipolaren Bild von Männern  und Frauen entsprach  das eindimensionale Bild des ‚echten‘ Transsexuellen. Auch die typologisierende Binnendifferenzierung, z. B. die Unterscheidung von primären und sekundären Transsexuellen in den 1970er Jahren, deute ich noch als protonormalistische Strategie der Subjektivierung; ebenfalls die durch Leitsymptome markierten harten Normalitätsgrenzen und die Tatsache, dass einzelne Normalfelder wie Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung isomorph aneinander gekoppelt waren, denn ‚echte‘ oder primäre Transsexuelle hatten postoperativ heterosexuell zu sein. Als die dazu gehörigen Subjekttaktiken der Transsexuellen identifiziere ich einen an den ‚Lehrbuchfällen‘ orientierten Konformismus und  eine „Fassaden-Normalität“: Transsexuelle wussten, wie sie zu sein hatten.

In den 1980er Jahren setzte sich die flexibel-normalistische Strategie durch. Das lag zum einen daran, dass sich der medizinische Geschlechtswechsel nach der offiziellen Klassifikation der Transsexualität als Krankheit langsam als ‚Behandlung  der Wahl‘ durchsetzte. Zum anderen auch am allmählichen Aufbrechen der tradierten Geschlechterrollen, gewissermaßen als mit 15-jähriger Verzögerung eingetretene Spätfolge der so genannten Sexuellen Revolution. Die Normalitätsgrenzen wurden weicher, an die Stelle transsexueller Typologien trat eine fein graduierte Binnendifferenzierung, die individuelle Besonderheiten zuließ.

Die Kopplung der Normalfelder Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung wurde gelockert. An die Stelle des außengelenkten Konformismus trat als Subjekttaktik ein selbständiges Kalkül. Das konnte zwar auch selbst-normalisierenden Charakter haben, bot aber meiner Einschätzung nach auch die Chance der Authentizität.

Doch die medizinische Konstruktion des Phänomens setzt aller Flexibilisierung und Anerkennung der Vielfalt der Wege zur Transsexualität ihre Grenze. Auch die in den Klassifikati-537  onen der WHO und der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft vergleichsweise offen formulierten Symptome definieren Transsexualität als Krankheit,  als ein Zwangsphänomen.

D. h., auch wenn die Diagnose ‚transsexuell‘ nicht von einer bruchlosen ‚Immer-schon‘-Biographie abhängt, wäre eine  mit freiem Willen getroffene  Entscheidung für eine Geschlechtsumwandlung nicht mit der medizinischen Definition des Phänomens vereinbar.

Deswegen halte ich Siguschs Versuch, Transsexualität nicht als Krankheit und Transsexuelle als geschlechtlich-sexuelle Minderheit zu verstehen, für problematisch.

Homosexuelle haben eine kollektive emanzipatorische Identität entwickelt, um gegen soziale Diskriminierung und strafrechtliche Verfolgung anzugehen und um sich von der Pathologisierung durch die Medizin zu emanzipieren.
Anders Transsexuelle. Transsexuelle können sich nur mit Hilfe der Medizin emanzipieren und ihre Wünsche realisieren.

Die Frage ist, ob die Flexibilisierung der Normalitätsgrenzen des Weiblichen und Männlichen Konsequenzen hat für das Phänomen Transsexualität. Eine mögliche Konsequenz wäre, dass die Nachfrage nach einer operativen Herstellung des anderen Geschlechts allmählich zurückgeht, eine andere, dass sich das Phänomen Transsexualität in Richtung Transgenderismus  transformiert, was umgekehrt zu einer Medizinisierung von subkulturellen Kontexten und Formen des Geschlechtswechsels führen würde.
Letztlich geht es dabei um die Machtfrage: ist die Medizin bereit, ihre Souveränität des Diagnostischen Wissens und der Entscheidung zum operativen Eingriff aufzugeben und mit den  Geschlechtswechslern in einen nicht nur latenten, sondern manifesten offenen Aushandlungsprozess zu treten, der zu einer ‚operationon-demand-Situation‘ führen könnte? Und inwieweit sind Transgenderists bereit, die Souveränität ihres Lebensentwurfs aufzugeben, um medizinische Eingriffe zu bekommen?

Die Frage, ob das Aufbrechen der tradierten bipolaren Geschlechterrollen dazu führen könnte, dass Menschen diesen Zwang zur Geschlechtsumwandlung nicht mehr entwickeln würden, ist bereits ab den 1970er Jahren diskutiert worden. Die einen meinten, dass auch eine größere Flexibilität der Geschlechterrollen Transsexualität nicht zum Verschwinden bringen würde, denn diese Flexibilität impliziere nicht die Gleichheit der Körper, so dass Transsexuelle weiterhin einen spannungsreichen Identitätssinn hätten: „The loosening of definitions would probably affect the transsexual not at all, in terms of the persistent feeling of ‚wrong

Sigusch (1991a und b). Sigusch versteht Transsexuelle als ‚transitorische‘ Minderheit. Das ist ein wichtiger Unterschied zur Transgender-Bewegung.

Vergleichbar dem Versuch von Homosexuellengruppen, die in den USA in den 1960er Jahren versuchten, mit progressiven Ärzten die Streichung der Homosexualität als psychische Krankheit zu erreichen, waren Strukturen einer Selbstorganisation von Transsexuellen, die ab Ende der 1960er Jahre in den USA bestanden und letztlich auf Benjamins Initiative zurückgingen. Ende der 1970er Jahren lösten sich diese Strukturen wieder auf. (Meyerowitz (2002), S. 226-241, 255) Diese Form der Selbstorganisation entsprach der Strategie der Emanzipation mit Hilfe der Medizin im Sinne der medizinischen Konstruktion der Transsexualität.

Ich benutze den Begriff ‚transgender‘, um eine Überschreitung der Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit zu bezeichnen. Ekins / King (2006) benutzen ihn dagegen als Oberbegriff, um nicht nur Formen der Transgression, sondern auch des „Crossing“ (Transsexualtiät) und der „Transformation“ (dauerhaften Transvestitismus) der Geschlechterordnung zu bezeichnen.

Der Titel der Monographie von Ekins / King – The Transgender Phenomenon – spielt auf Benjamins Standardwerk – The Transsexual Phenomenon  - an. 538  body‘.“

 Äußerungen der gegenteiligen Meinung sind beispielsweise die Verwunderung eines OP-kritischen Psychiaters darüber, dass sich gerade in einer Zeit, „in der Geschlechterrollenstereotype fragwürdig gemacht wurden,“ die Transsexuellen vermehrt hätten.
Oder die feministische Kritik, die meint, dass die rigiden Geschlechterrollen als soziale Pathologie behandelt werden sollten, anstatt Transsexualität als individuelle Pathologie und Effekt dieser Rollen zu korrigieren, und prognostiziert: “Were the notions of masculinity and femininity less rigid, sex change operations should be unnecessary.”

Statistiken von durchgeführten Geschlechtsumwandlungen legen nahe, dass Männer häufiger den ‘Zwang’ verspürt haben, eine Frau zu sein, als umgekehrt. Ist das männliche Rollenmodell also rigider als das weibliche? Oder finden Frauen andere Wege als die Operation, um mit dem Rollendruck umzugehen, obwohl sie laut Umfragen viel häufiger lieber ein Mann wären als umgekehrt Männer eine Frau?
Vielleicht konnten Männer aber auch nur ihren Wunsch häufiger umsetzen als Frauen oder haben ihn konsequenter verfolgt, weil die Möglichkeiten der Genitaltransformation weiter entwickelt sind?

Oder weil die Massenmedien hauptsächlich Mann-zu-Frau-Transsexuelle als Vorbilder angeboten haben?

Oder weil die diagnostischen Hürden für einen Wechsel zum  privilegierten männlichen Geschlecht höher liegen als beim umgekehrten Geschlechtswechsel?

Das Verhältnis von Mann-zu-Frau Transsexuellen zu Frau-zu-Mann-Transsexuellen hat sich zwar bis in die 1980er Jahre mehr und mehr angeglichen, jedoch nicht ausgeglichen.

 Verschiedene zwischen 1967 und 1993 durchgeführte statistische Erhebungen stellen durchweg ein unterschiedlich deutliches Übergewicht der Mann-zu-Frau-Transsexuellen fest.
Doch der ‚transsexuelle Zwang’ basiert nur mittelbar auf den gesellschaftlichen Geschlechterrollen, unmittelbar jedoch auf der imaginären Qualität, die die Geschlechtsidentität für das Individuum in unserer Gesellschaft hat, sowie auf der leiblich-affektiven Dimension des Geschlechts.                                                        
Feinbloom (1976), S. 249. Vgl. auch die Position von Doctor, dass eine größere Androgynie bezüglich der Geschlechtsrollen nicht notwendig eine Unterstützung einer Art männlich-weiblich gemischten Geschlechtsidentität bedeuten würde. (Docter (1988), S. 83.)
  Langer (1985), S. 69.   Eichler (1980), S. 75.   Benjamin zeigte sich 1966 überrascht, dass Frau-zu-Mann-Transsexuelle seltener waren, wo doch laut einer Gallup-Umfrage zwölfmal mehr Frauen lieber ein Mann wären als umgekehrt (Benjamin (1966), S. 148.) Halberstam meinte, aufgrund der mit Männlichkeit verbundenen sozialen Macht würde auch noch in den 1990er Jahren „female masculinity“ für abstoßender und pathologischer gehalten als „male femininity“.

Benjamin hatte 1966 in seinem Sample das extreme Verhältnis von 8:1 festgestellt. Doch er vermutete, dass ein Verhältnis von 3:1 signifikanter sei. Dies war das Verhältnis der Briefzuschriften selbst diagnostizierter Transsexueller, die Hamburger nach der Publikation des Jorgensen-Falles bekommen hatte. (Benjamin (1966), S. 147f.) Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association gibt in seinen unterschiedlichen Ausgaben das von Klinikern genannte Verhältnis von Mann-zu Frau-Transsexuellen zu Frau-zu-Mann-Transsexuellen wie folgt an: von 8:1 bis 2:1 (DSM-III (1980), S.263), von 8:1 bis 1:1 (DSM-III-R (1987), S. 75), bei Kindern 5:1, bei Erwachsenen 2:1 bis 3:1. (DSM-IV (1994), S. 535.)

Die Extreme des Übergewichts von Mann-zu-Frau-Transsexuellen im Verhältnis zu den Frau-zu-MannTranssexuellen: für Australien wurde ein Verhältnis von 6,1:1 ermittelt, für die Bundesrepublik Deutschland dagegen nur ein Verhältnis von 2,3:1. (Osburg / Weitze (1993), S. 103. 539 Geschlechts.
So deutet sich – diskursiv wie in der gesellschaftlichen Praxis – als Konsequenz der Flexibilisierung der Normalitätsgrenzen des Weiblichen und Männlichen kein Verschwinden des Geschlechtswechsels, sondern eine Flexibilisierung seiner Formen an: neben die Transsexualität – als medizinischer Konstruktion geschlechtlicher Eindeutigkeit auf der Grundlage eines diagnostizierten Zwangs – tritt der Transgenderismus – als soziale und/oder medizinische Konstruktion vielfältiger, auch ambiger Geschlechtlichkeiten auf der Grundlage einer mehr oder minder freien Entscheidung.

Der Hinweis, dass traditionell z. B. dem männlichen Geschlecht zugeschriebene Attribute heute in ein Leben in der weiblichen Geschlechtsrolle integrierbar sind, wird, so meine ich, der Person nicht weiterhelfen, für die – warum auch immer – eine männliche Geschlechtsidentität zur Funktionsbedingung ihrer Existenz geworden ist und die so ihren Leib als ‚falsch‘ empfindet. Die kognitive Dissonanz zwischen dem Wissen um die eigene Körpermorphologie und der Geschlechtsidentität kann in vielen sozialen Kontexten überspielt werden, wird aber insbesondere beim Sex virulent – trotz der berichteten Fähigkeit vieler Transsexueller, sich beim Sex als das andere Geschlecht zu phantasieren oder mit hochgradiger Beteiligung der Imagination Rollen zu spielen.

 „Teilweise besteht die Strategie des Begehrens gerade in der Verwandlung des begehrenden Körpers selbst“.

Mit Butler ist zu betonen, dass es notwendig sein kann und für Transsexuelle notwendig ist, „an ein alteriertes KörperIch zu glauben, das den Anforderungen eines Körpers (...) gemäß den durch die Geschlechtsidentität bestimmten Regeln des Imaginären (gendered rules of imaginary) entspricht“, um überhaupt zu begehren. An dieser subjektiven Notwendigkeit ändert auch die Tatsache nichts, dass „das Geschlecht keine vordiskursive anatomische Gegebenheit“ ist und dass es so „keinen Rückgriff auf den Körper [gibt], der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist“.

Die Bemerkung von Sulcov, dass “the level of sex drive reported by transexuals and the availability of surgical techniques to construct a vagina were apparently closely related”,und die Bemerkung von Lothstein, dass Frau-zu-Mann-Transsexuelle nach einer phalloplastischen Operation feststellen könnten, dass „her real penis was not as powerful as her imaginary one“, weisen auf den Zusammenhang von medizinisch-technischen Möglichkeiten, Geschlechtsidentität und Körperbild hin, auf den Zusammenhang dessen, was allgemein möglich und was individuell nötig ist.
Inwieweit eine operative Geschlechtsumwandlung die kognitive Dissonanz reduzieren oder auflösen kann, ist individuell verschieden.
 
1995 erwähnt Sophinette Becker, Sexualwissenschaftlerin und Psychologin aus Frankfurt, die an Behandlungsstandards für Transsexuelle mitgearbeitet hat, in einem Interview nicht nur                                                        
Money / Primrose (1968), S. 479; Money / Brennan (1968), S. 493.   Tully (1992), S. 239.   Butler (1991), S. 112.   Butler (1991), S. 26.   Sulcov (1973), S. 87.   Lothstein (1983), S. 73. 540 
„die Frau-zu-Mann-Transsexuellen, die immer noch mehrheitlich auf diese Phalloplastik verzichten, was ihrer psychischen Stabilität keinen Abbruch tut“, sondern auch, dass es „in Amerika (...) mittlerweile auch eine relevante Gruppe von Transsexuellen [gibt], die die Operation nicht zufriedenstellend findet, und  die interessiert ist an einem  ‚als-Frau-leben‘, ohne sich dem Medizinapparat völlig auszuliefern“.

In den 1990er Jahren entwickelten diejenigen, die von der Medizin normalisiert und diszipliniert werden, um wieder in die Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit zu passen, eine Gegenmacht: Transgenderists und Intersexuelle. Diese zweifache Gegenmacht hat sich  zuerst in den USA als Bewegung in der nicht-diskursiven Praxis herausgebildet.

Die Intersex-Bewegung plädiert dafür, keine frühkindlichen das Geschlecht vereindeutigenden Eingriffe durchzuführen und die Entwicklung des Kindes abzuwarten, das an den Eingriffen, die den als Norm gesetzten  natürlichen Körper erst herstelle, leide.

Vielleicht empfindet das intersexuelle Individuum keines der zwei Norm-Geschlechter als für sich passend. Transgenderists entscheiden sich gegen das ihnen bei Geburt zugewiesene Geschlecht,ohne deswegen voll und ganz das ‚andere‘ Geschlecht sein zu wollen.

Da sie sich für ein Leben entscheiden, das nicht in der jeweils gegengeschlechtlichen Norm aufgeht, bieten Transgender-Lebensentwürfe im Gegensatz zur Transsexualität eine Basis für eine emanzipatorische Bewegung, die sichtbar die Ordnungen der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität transzendiert. Die Grenzen zwischen Transsexualität und Transgenderism sind fließend.


Der wesentliche Differenzpunkt zwischen beiden Phänomenen ist die Frage, wieweit sich das  Subjekt an die Macht Medizin ausliefert.

Der Gegendiskurs der Transgender- und Intersex-Bewegung ist zunächst von Aktivistinnen und Aktivisten geführt worden. Erst gegen Ende der 1990er Jahre wurde er im sozialwissenschaftlichen Kontext der Geschlechterforschung und vereinzelt auch vom medizinischen Diskurs wahrgenommen. Die Position des Transgenderismus möchte ich abschließend als Möglichkeit von Alternativen zur medizinischen Konstruktion der Transsexualität andeuten.
Im Transgender-Diskurs dominiert der Diskurs von ‚weiblichen Männer‘ über ‚weibliche Männer’, die keine Imitation und perfekte Performanz von Männlichkeit anstreben. „Female masculinity“, so lautet der von Judith Halberstam benutzte Begriff, zeige stattdessen, wie Männlichkeit als Männlichkeit konstruiert werde. Es gehe um eine queere Subjektposition, die das hegemoniale ‚gender‘-Konformitäts-Modell selbst in Frage stellen kann.

Im Gegensatz zu Frau-zu-Mann-Transsexuellen würden  „FTMs“, also FemaleToMales, dieses Label bewusst beibehalten, um ihr Nicht-Aufgehen  in der Männlichkeit zu demonstrieren. FTMs hätten eher einen ambigen Körper. Obwohl auch sie zum Teil somatische Eingriffe machen  lassen würden,                                              
definiert Halberstam Transgender als Kategorie wie folgt: „at least partially defined by transitivity but that may well stop short of transsexual surgery.“

Halberstam kritisiert Transsexuelle zwar als gender-konservativ, erkennt jedoch den Unterschied an zwischen den “real and desperate desires” von Transsexuellen und dem “playful desire” und der “casual form” der Butch als Variante von ‘female masculinity’
.
So kann es meiner Meinung nach nicht darum gehen, die Transgender-Lebensform als progressivere Variante oder als Möglichkeit der Erlösung von der Ordnung der Heteronormativität präskriptiv zu setzen, sondern darum, die Perspektive zu individualisieren und Möglichkeiten für Geschlechterformen neben dem medizinischen Konzept der Transsexualität zu eröffnen.
All die, die nicht in dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht weiterleben wollen oder können, müssen sich entscheiden, wieweit sie sich der Medizin ausliefern, um ihre Identität in dem ihrem Empfinden nach ‚richtigen‘ Körper leben zu können. Das kann eine TransIdentität sein in einem Körper zwischen den Geschlechtern.
Das kann eine gegengeschlechtliche Identität sein in einem entsprechend den technischen Möglichkeiten weitgehend dem anderen Geschlecht angepassten Körper.
Die Medizin muss sich entscheiden, ob sie sich darauf einlässt, Eingriffe auch bei Personen durchzuführen, die nicht unter dem Zwang stehen, körperlich das andere Geschlecht zu werden, sondern die ein Leben führen wollen, das sich unter Umständen den geschlechtlichen und sexuellen Eindeutigkeiten entzieht und das sich quer zur heteronormativen Ordnung stellt.
Zu den Mitgliedern der Harry Benjamin International Gender Dysphoria Association (HBIGDA), der „major medical and clinical voice of comtemporary western transsexualism“, gehören mittlerweile auch eine beachtliche Anzahl  „transgendered professionals“, die das im Namen der Gesellschaft festgeschriebene pathologische Konzept als „gender dysphoria“ kritisieren und darauf bestehen, nicht krank, sondern anders zu sein.

Ekins qualifiziert die medizinische Konstruktion der Transsexualität als Modell, dass all die Transgender-Formen behindere, die das binäre Geschlechtersystem negierten oder transzendierten, und appelliert an die Kliniker, auch denen zu helfen, die sich entschieden hätten „to put themselves on the front line by living daily in ways that challenge the binary devide“.

Vielleicht wiederholt sich die Geschichte und die nach der Entpsychiatrisierung gewissermaßen zweite Entpathologisierung des Geschlechtswechsels – diesmal von der durch körperliche Eingriffe zu behandelnden Identitätsstörung Transsexualität zur Vielfalt von Transgender-Lebensformen –beginnt wieder in den USA. Bereits 1993 stellte das „gender committee“der Universität Minnesota sein Behandlungskonzept um und anerkannte das Spektrum von „transgender identities“. Das Behandlungsangebot erfolgt in Form eines Anbieter-Konsumenten-Team-Zugangs.

Im selben Jahr, 1993, also zwei Jahre nach Siguschs Versuch, Transsexuelle als Minderheit zu konstruieren, machte Friedemann Pfäfflin, einer der renommiertesten deutschen Psychiater und Psychotherapeuten auf dem Gebiet der Transsexualität, die polemische Anmerkung, dass sich „in jüngster Zeit (...) Veröffentlichungen [mehren], die Transsexualität unter sozialpsychologischen und politischen Aspekten thematisieren, vom Geschlechtswechsel reden, als ließe sich das Geschlecht jederzeit wie in einer Wechselstube konvertieren und ebenso rasch wieder zurückumtauschen.“

Dieser Einwand verdeutlicht die psychiatrische Skepsis einer Laisser-faire-Haltung den Patienten gegenüber, die selber wissen, was sie wollen oder was gut für sie ist, und die keinen Psychiater brauchen, sondern gegebenenfalls nur einen Endokrinologen und einen plastischen Chirurgen. Der Psychiatrie geht es um die Definitionsmacht bezüglich des Phänomens Transsexualität und um die Überzeugung, dass es im Interesse zumindest vieler Geschlechtswechsler sei, wenn das Geschlecht als der vielleicht wichtigste Faktor der persönlichen Identität und die Geschlechtsumwandlung als irreversibler Eingriff der psychiatrischen Kontrolle unterliegt.

Dass bislang Versuche, das bereits durch mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts liberalisierte bundesdeutsche Transsexuellengesetz grundlegend zu reformieren, gescheitert sind, zeigt, dass Geschlecht und Personenstand zu den grundlegenden Ordnungskategorien unserer Gesellschaft gehören. Money hat Mitte der 1970er Jahre nachgedacht über „some sort of ceremony or celebration that formally marks the occasion of a redeclaration of sex, analogous to that which marks a change of citizenship“.
Hirschauer meint knapp zwanzig Jahre später, “eine juristische Erneuerung des Geschlechtseides”, durch den bis ins 19. Jahrhundert die Geschlechtszugehörigkeit von Zwittern festgelegt worden ist, “könnte auch für heutige Geschlechtswechsler ein Verfahren bieten, für das sich zu streiten lohnt”.

Tertium non datur?

Die biologistische Ursachenforschung muss Transgender-Phänomene ignorieren. Denn wie soll für Geschlechter, die weder als Zwangsphänomen zu verstehen noch in die bipolare Geschlechterordnung einzuordnen sind, eine deterministische Ätiologie konstruiert werden? Die denkbare Behauptung einer z. B. (neuro-)endokrinologischen Prädisposition zur psychischen Vermännlichung oder Verweiblichung wäre für mich jedenfalls kein plausibles dazu allgemeines Erklärungsmodell, weil es alles Mögliche und damit nichts erklärt. Eine weitere Beforschung der Hormone, des Gehirns, der Gene und ein Wechsel von Verlautbarungen und Widerrufungen, nun doch und endgültig den biologischen dimorphen Kern der Geschlechts 
                                                       
  Hartmann / Becker (2002), S. 213.  Pfäfflin (1993), S. 1.   Wie Pfäfflin halten Hartmann / Becker am klinischen Konzept von Geschlechtsidentitätsstörungen fest und halten es auch für „dringend geboten, dass es nicht zu einer unzulässigen Beliebigkeit oder Entdifferenzierung entsprechender Phänomene kommt“. (Hartmann / Becker (2002), S. 216) Von einer Entpathologisierung „ex Cathedra“, wie sie Sigusch vollzogen habe, halten sie nichts. (a.a.O., S. 218.)   Money [u. a.] (1975), S. 196.   Hirschauer (1993), S. 334. 543  identität gefunden zu haben – als Strategie des Geschlechtsdispositivs – und ein operatives Management von Geschlechtsumwandlungen, das  auf der Basis eines diagnostizierten Zwangs eindeutige Geschlechter herstellt – als Strategie des Sexualitätsdispositivs – ist wahrscheinlicher als ein Rückzug der Normalisierungsinstanzen Medizin und Justiz aus der Bestimmung der Geschlechter.

Welche Ordnungen wären in Gefahr, wenn in Urkunden kein Geschlechtsvermerk vorhanden wäre? Würden Individuen deswegen ohne Geschlechtsidentität aufwachsen oder später in eine Identitätskrise geraten? Es geht mir nicht um ein Plädoyer für die Abschaffung der Geschlechtsidentität, sondern um die Eröffnung von Optionen. Es geht darum, das radikal Andere anzuerkennen. 

Das Geschlecht kann sich ändern. Der Körper muss nicht die Geschlechtszugehörigkeit bestimmen. Es gibt mehr Optionen als nur Mann oder Frau. Und muss jeder Mensch überhaupt ein ‘bestimmtes’ Geschlecht haben?

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