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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2013
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Geboren als Frau,
glücklich als Mann
Niklaus Flütsch kam als Frau zur Welt, wurde Gynäkologe und
leitet heute die Sprechstunde für transsexuelle Menschen im Triemlispital. Die
Frage, wie sich der Körper der Seele anpassen kann, ist für ihn zentral.
Dass etwas nicht stimmte, merkte er früh. Vieles fühlte sich
eigenartig an, Fragen drehten in dem Kinderkopf, auf die es keine Antwort zu
geben schien. Warum störte er sich an seinen wachsenden Haaren, während die
Kindergartengspänli mit Stolz Zöpfe trugen? Warum war es so peinlich, einen
Rock anziehen zu müssen? Warum fühlte er schon als kleines Kind, dass da eine
Diskrepanz zwischen seiner Innenwahrnehmung und der Wahrnehmung seines Äusseren
lag? Irgendetwas war komisch in dieser Welt, die in Frauen und Männer eingeteilt
war.
Er war als Mädchen geboren worden, so viel stand fest. Für
seine Mutter war er Tochter, für seine Kolleginnen Freundin, für seine
Geschwister Schwester. Doch ebenso fest stand, dass er nicht als Tochter,
Freundin oder Schwester wahrgenommen werden wollte, sondern als Sohn, Freund
und Bruder. Damals, als sein Leben von Weihnachtsmännern, Osterhasen, Feen und
Zauberern geprägt war, schmiedete er einen Plan: «Ich wollte meine Mutter davon
überzeugen, mir die Haare ganz kurz zu schneiden. Meine Vorstellung war, dass
mir dann ein Penis wachsen würde.» Die Haare wurden dem Vierjährigen gestutzt,
der Penis wuchs nicht.
Traumatische Pubertät
45 Jahre später sitzt ein Mann auf seinem Sofa, lässt den
Blick durch grosse Fenster in die Winterlandschaft schweifen, krault dem
ertaubten 16-jährigen Kater über den Kopf und sagt: «Wir Transmenschen sind
kaum sichtbar, da wir vieles daransetzen, in der Gesellschaft integriert zu
leben.» Nichts weist darauf hin, dass Herr Doktor Flütsch bis vor drei Jahren
mit Frau Doktor Flütsch angesprochen wurde. Und im Verlauf des Gesprächs wird
immer deutlicher, wie stimmig es sich anfühlen muss, wenn eine Seele nach 45
Jahren endlich den passenden Körper gefunden hat, wie sehr es Niklaus Flütsch
aber auch ein Anliegen ist, sich gegen hartnäckige Vorurteile zu engagieren.
Deshalb hat er an der Zürcher Frauenklinik Triemli eine Sprechstunde für
transsexuelle Menschen ins Leben gerufen, führt in Zug eine Praxis für
Gynäkologie, in deren Wartezimmer nicht nur Patientinnen, sondern auch
Patienten sitzen, und hat sich im soeben erschienenen Buch «Das Geschlecht der
Seele» in Bild und Text porträtieren lassen.
Die ersten 45 Jahre seines Lebens spielte er die Rolle einer
Frau. «Ein Ausbrechen aus meinem Leben war für mich ausgeschlossen, das konnte
ich meiner Umgebung nicht antun. Ich musste das einfach aushalten.» Manchmal
ging ihm durch den Kopf, dass er für etwas bestraft werde, dessen Ursprung er
nicht kannte. Heute vergleicht er die Situation mit einem Verurteilten, der
hinter Gittern sitzt für eine Tat, die er nicht begangen hat.
Schon als Kind spielte er die Rolle mit ganzer Lebenskraft.
Dennoch war das Glück gross, als er kurz vor Schulbeginn auf dem Dachboden den
Tornister seines Grossvaters entdeckte und nun einen Theek mit Fell hatte. Er
war stolz, sich gegen seine Eltern durchzusetzen und ausschliesslich Hosen zu
tragen. Er jauchzte innerlich, wenn er als «Ruech» bezeichnet wurde, und im
Sommer gab es nichts Schöneres, als den Oberkörper zu entblössen. Doch dann kam
die Pubertät und mit ihr die schmerzlich sichtbare Entwicklung in die falsche
Richtung. Er litt unter Rundungen an Körperstellen, an denen er flach bleiben
wollte, ass immer weniger, hungerte sich die Kurven weg, trainierte seinen
Körper, «strich», wie er sagt, «die Genitalien komplett aus dem
Wahrnehmungsfeld», kam in ein Internat, outete sich als homosexuelle Frau und
sollte erst später realisieren, dass er mit seiner Vorstellung falsch lag,
Lesben seien Frauen, die Männer sein wollten.
Als Krankheitsbild qualifiziert
Nach der Matura entschied er sich für ein Medizinstudium und
stiess in dessen Zuge erstmals auf das Thema Transsexualität. Zu Beginn wollte
er sich damit nicht auseinandersetzen, denn damals, in den 80er-Jahren, galt
Transsexualität noch als eine Persönlichkeitsstörung. Erst in den 90er-Jahren
wurde der Begriff Transsexualismus zumindest vom Überbegriff
Persönlichkeitsstörung getrennt, wird aber von den einschlägigen Handbüchern
bis heute in der Ecke der psychischen Krankheiten angesiedelt. Schnell aber wurde
ihm klar, wie sehr ihn die Gynäkologie interessierte. «Ich dachte, wenn ich den
weiblichen Körper vollständig verstehe, würde ich auch meinen eigenen Körper
besser verstehen und akzeptieren können.» Nun huscht ein Lächeln über das
Gesicht mit dem kurzen Bart: «Ausserdem hatte ich einen Beruf ergriffen, in dem
ich als Frau einen Frauenbonus hatte. Das war ein kleiner Trost, vielleicht
auch Strategie.»
Privat bewegte er sich in Kreisen, «in denen die männliche
und weibliche Rolle nicht so entscheidend war», wie er es formuliert, wurde
Oberarzt am Kantonsspital Zug und eröffnete schliesslich mit einer Kollegin
seine erste Praxis für Gynäkologie. Er verdiente gut, war in der Karriere am
Ziel angekommen und sagte sich immer wieder, eigentlich müsstest du glücklich
sein. «Aber in meinem Leben stimmte eben etwas Grundlegendes nicht.» Der Druck,
Körper und Seele in Übereinstimmung zu bringen, wurde immer grösser. Er kann
sich gut an den Moment erinnern, an dem ihm etwas Entscheidendes klar wurde:
«Irgendwann machte es klick, und ich wusste: Der Körper kann sich auch der
Seele anpassen. Es muss nicht immer umgekehrt sein.» Er suchte einen
Spezialisten in Zürich auf und sollte das Gefühl darauf nie vergessen: «Ich
stand auf der Terrasse der ETH, schaute hinunter auf die Stadt und spürte von
Kopf bis Fuss: Jetzt fängt ein neues Leben an. Jetzt mache ich, was ich immer
wollte. Jetzt gehe ich meinen Weg als Mann.»
Abschied von einer Hülle
Bevor er die Büstenhalter wegwerfen und das Badezimmer von
Lotionen und Lippenstiften befreien konnte, stand ein wichtiger Schritt an: das
Coming-out. «Ich konnte nicht einfach verschwinden und zwei Jahre später als
Mann wieder auftauchen; ich musste das proaktiv angehen.» Das Gefühl vor den
Gesprächen mit seinen Eltern, Verwandten und Freunden, seinen Arbeitskollegen
und Patientinnen vergleicht er mit der Angst eines Fallschirmspringers, der
sich über die Kante des Flugzeugs schwingt und nicht weiss, ob der Fallschirm
sich auch wirklich öffnet. Doch Niklaus Flütschs Schirm trug besser, als er es
zu hoffen gewagt hätte. Die Familie reagierte offen, ebenfalls seine Freunde
und die Arbeitskollegen, mit wenigen Ausnahmen stellten alle umgehend von «sie»
auf «er» um. Er entschied sich zum Austritt aus der Gemeinschaftspraxis und
wurde im Kantonsspital Zug Leitender Arzt. Seinen Patientinnen schrieb er zum
Abschied einen Brief, und mit den künftigen Spitalkolleginnen und Kollegen
stiess er bei einem Apéro auf seinen neuen Namen an. «Ich hatte enormes Glück:
Für alle stand nicht mein Wandel im Vordergrund, sondern ich als Mensch.»
Schritt für Schritt nahm er von seiner Hülle Abschied,
unterzog sich Operationen und einer Hormonbehandlung und erlebte mit 45 Jahren
zum zweiten Mal eine Pubertät, bei der er sich ungleich der ersten über jede
Änderung freute. Solange er noch seinen alten Ausweis trug, kam es mitunter zu
verwirrenden Momenten; wenn er sich beispielsweise am Postschalter oder in der
Bahn mit bereits tiefer Stimme als transsexuell outen musste. Er änderte
lediglich seinen Vornamen, den Nachnamen behielt er bei, ebenso den Personenstand.
Auf der Identitätskarte und im Pass steht deshalb immer noch ein «f»; für ein
«m» müsste er sich von Amtes wegen einer Sterilitätsoperation unterziehen
lassen. Im Gegensatz etwa zu Deutschland oder Argentinien sind in der Schweiz
die Bedenken in den meisten Kantonen zu gross, dass ein Mann schwanger oder
eine Frau Vater werden könnte.
Begehrter Spezialist
Fragen wie diese beschäftigen Niklaus Flütsch. «Wäre eine
Gesellschaft, in der man sein Geschlecht frei wählen kann, nicht viel
ehrlicher?» Genaue Zahlen zur Anzahl Transmenschen in der Schweiz existieren
nicht, die Dunkelziffer ist hoch. «Es gibt aber auch Studien, die von etwa
einer Person auf 500 ausgehen», gibt Niklaus Flütsch zu bedenken. Manchen von
ihnen begegnet er in seiner neu eröffneten Praxis in Zug, anderen an seiner
Sprechstunde im Triemli. Dass ihnen mit Niklaus Flütsch ein Mensch
gegenübersitzt, der nicht nur über ein grosses Mass an Empathie verfügt,
sondern vor allem auf einen langjährigen Schatz eigener Erfahrungen zurückgreifen
kann, macht ihn zu einem begehrten Spezialisten.
Seine Offenheit ist seit drei Jahren grösser als je zuvor:
«Bis dahin war für mich wichtig, die Welt in Frauen und Männer zu teilen. Ich
versuchte als Frau immer, meine männlichen Seiten in den Vordergrund zu stellen
und war als Frau vermutlich männlicher als jetzt als Mann.» Doch jetzt, da sein
Körper zu seiner Seele passt, sei es unwichtig geworden, sich einem Geschlecht
zuordnen zu können. Die Frage, ob ich mich nun als Mann oder Frau fühle, ist in
den Hintergrund getreten. Seit ich als sichtbarer Mann durch das Leben gehen
kann, bin ich endlich ich selbst geworden.
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