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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2013
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Zwischen den Geschlechtern
Von Geburt an sind sie teils Mann, teils Frau. Oft werden
Zwitter als Kinder umoperiert, weil viele verunsichert auf sie reagieren. Doch
Intersexuelle sind nicht krank
Zu Beginn habe es "drei Geschlechter unter den
Menschen" gegeben, erzählt Platon in seinem Gastmahl.
Die "Mannfrau" sei jedoch von den Göttern in zwei Hälften getrennt
worden, um ihr den Übermut zu nehmen. "Sehnsüchtiges Verlangen" nach
der anderen Hälfte verzehre seither die Menschen. Hermaphroditen, benannt nach
dem Sohn des Hermes und der Aphrodite, dessen Körper die Götter mit dem der
Quellnymphe Salmakis für immer verschmolzen, haben im Mythos eine
hervorgehobene Rolle, der "Zwitter" ist seit der Antike ein beliebtes
Motiv der bildenden Kunst. Doch Menschen, die nicht eindeutig einem Geschlecht
zuzuordnen sind, verunsichern zugleich. "Sie verursachen eine Ambivalenz
aus Angst und Faszination", weiß der Berliner Psychotherapeut Knut
Werner-Rosen.
"Wenn nur für Mann oder Frau Platz ist auf dieser Welt,
dann also nicht für mich", sagt der Journalist Ernst Bilke in Ulla
Fröhlings Buch Leben zwischen den Geschlechtern. Bilke wurde mit
einer Hypospadie geboren, einem ungewöhnlichen Verlauf der Harnröhre, die in
diesem Fall nicht an der Spitze, sondern auf der Unterseite des Penis mündet.
Verursacht wird das durch einen Mangel an männlichen Hormonen in einer
sensiblen Phase zu Beginn der Schwangerschaft.
Bilke ist heute nach landläufiger Anschauung in der
klassischen Männerrolle verankert. Er ist verheiratet und Vater von drei
Kindern. Doch in seiner Kindheit gab es eine Phase, in der erwogen wurde, aus
ihm ein Mädchen zu machen, operativ. "It’s easier to make a hole than
building a pole", ("es ist leichter, ein Loch zu machen als eine
Stange"), lautete damals die medizinische Anschauung. Bilke bezeichnet
sich heute als "ein Wesen der dritten Art", er sieht sich als
"vollkommenen Zwitter".
Die inneren Geschlechtsorgane und das äußere
Erscheinungsbild passen nicht zusammen
Bei etwa einem von 5000 Neugeborenen ist eine eindeutige
Geschlechtsbestimmung schwierig. International hat man sich unter Medizinern
inzwischen darauf geeinigt, von "Disorders of Sex Development" zu
sprechen, kurz DSD. Die Ursachen und Erscheinungsformen sind vielfältig.
Intersexualität hat aber nichts mit Transsexualität zu tun, die Menschen mit
ihrem biologisch eindeutigen Geschlecht unzufrieden sein lässt. Intersexuelle
stecken nicht im "falschen" Körper, ihr Körper macht aber
widersprüchliche Aussagen, jedenfalls aus Sicht einer binär organisierten
Gesellschaft.
So kann es sein, dass das chromosomale Geschlecht, die
inneren Geschlechtsorgane und das äußere Erscheinungsbild nicht zusammenpassen.
Da gibt es "XY-Frauen" mit einem "männlichen" Y-Chromosom
und dem Androgen Insensitivity Syndrom (AIS), deren Gewebe auf männliche Hormone
nicht anspricht: Ihre äußeren Genitalien sind weiblich, dabei finden sich im
Inneren Hoden, Nebenhoden und Samenstränge. Andere Kinder sehen aufgrund eines
Enzym defekts, des 5-Alpha-Reduktasemangels, bei der Geburt wie Mädchen aus,
entwickeln jedoch während der Pubertät männliche Genitalien. Ein solcher
seltener Fall wird in dem Roman Middlesex von Jeffrey
Eugenides beschrieben.
Weitaus am häufigsten ist das Adrenogenitale Syndrom (AGS),
eine Störung der Tätigkeit der Nebennierenrinde. Wird AGS nicht behandelt, so
führt es trotz weiblichem Chromosomensatz zur Vermännlichung der äußeren
Geschlechtsorgane. Weil das AGS in vielen Fällen mit einem lebensgefährlichen
Salzverlust verbunden ist, muss mit einer Kortisonersatztherapie behandelt
werden.
81 Prozent der betroffenen Erwachsenen haben mindestens
eine Operation hinter sich
Das ist aber die Ausnahme von der Regel, die für Kinderärzte
heute lautet: DSD ist keine Krankheit, zumindest nicht per se. "Konflikte
entstehen durch das Fehlen eines sozialen Raums, in dem Kinder mit DSD ihr
Anderssein als normal erleben können", heißt es in den jüngst erschienenen
ethischen Grundsätzen zum Umgang mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung,
die eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus dem BMBF-geförderten Netzwerk DSD/
Intersexualität erarbeitet hat.
Dass ein Grundsatzpapier mit einer so klaren Aussage in der
Monatsschrift für Kinderheilkunde (3/2008) erschienen ist, kann als Ausdruck
einer geradezu revolutionären Veränderung in der Sichtweise der Mediziner
gewertet werden. Noch in den 90er Jahren richteten sich viele von ihnen eher
nach den Grundsätzen des US-Sexualforschers John Money, der in den 50er Jahren
den Grundsatz aufstellte, Ärzte und Eltern sollten einem intersexuellen Kind
sofort ein Erziehungsgeschlecht "zuweisen" und dann operativ
vollendete Tatsachen schaffen – möglichst ohne dem Kind davon zu erzählen.
Es erstaunt also nicht, wenn heute 81 Prozent der
betroffenen Erwachsenen mindestens eine einschlägige Operation hinter sich
haben. Das ist das vorläufige Ergebnis einer noch unveröffentlichten Studie des
Netzwerkes DSD/Intersexualität. Bei 68 Prozent der Befragten passierte der
Eingriff, als sie noch nicht drei Jahre alt waren. "Dabei haben die
operativen Eingriffe keine Auswirkung auf die Geschlechtsidentität,
Selbstvertrauen und Aufklärung sind hier weit wichtiger", sagt
Werner-Rosen, der seit Jahren von Intersexualität betroffene Kinder und Eltern
berät und therapiert, zum Teil in Zusammenarbeit mit der Charité.
Nur 40 Prozent der erwachsenen Studienteilnehmer leben heute
in einer festen Partnerschaft, insgesamt haben sie weit weniger sexuelle
Erfahrungen gemacht als der Durchschnitt der Bevölkerung, so zeigt die Studie
des Netzwerks – die weltweit größte zum Thema. Diejenigen, bei denen eigens eine
Vagina geschaffen oder der Penis verändert wurde und deren Eltern nicht
frühzeitig psychologisch beraten wurden, leben demnach noch häufiger allein.
Und vor allem Frauen haben der Studie zufolge eine deutlich
unterdurchschnittliche Lebensqualität.
Zufriedenheit und Lebensglück sind es denn auch, was den
neuen ethischen Grundsätzen zufolge im Mittelpunkt aller therapeutischen
Bemühungen stehen soll. "Statt sich nur voller Angst auf technische
Schwierigkeiten beim Geschlechtsverkehr zu fixieren, nehmen viele Menschen mit
DSD inzwischen ihre Ressourcen in den Blick, leben ihr ,Anderssein‘
angstfreier, offener und spielerischer", sagt Werner-Rosen.
Die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist entscheidend
Alles steht und fällt mit der Beziehung zwischen Eltern und
Kind. "Ziel ist es, dass die Eltern sich über das gesunde Kind freuen
können und nicht nur denken: Operiert das schnell weg!", sagt die
Medizinsoziologin und Netzwerk-Koordinatorin Eva Hampel. Gelassenes Abwarten
wird nicht zuletzt durch die erweiterten diagnostischen Möglichkeiten leichter.
So wurden im Bauch von AIS-Mädchen angelegte Miniatur-Hoden früher aus Angst
vor Krebs entfernt, heute kann man sie auch engmaschig per Ultraschall
kontrollieren. "Falls eine Entfernung nötig wird, ist das Kind meist alt
genug, um angemessen in die Entscheidung einbezogen zu werden, bis dahin können
die Hoden aber sehr wichtige Hormone für die Entwicklung liefern",
erläutert Ute Hampel.
Meist ist schon viel erreicht, wenn die Eltern mit
Verwandten und Freunden über die Besonderheit ihres Babys reden können, statt
„komplizierte Landkarten zu entwerfen, auf denen verzeichnet ist, wer was
wissen darf“, wie das nach Werner-Rosens Erfahrung viele Familien in der
Vergangenheit getan haben. Inzwischen ist es möglich, mehr Offenheit zu leben.
"Andererseits ist die Frage der Geschlechtszugehörigkeit in unserer
bipolaren Gesellschaft ein großes Thema, auch ganz abgesehen von der
Intersexualität."
Zum Thema "kulturelles Geschlecht" und
Geschlechterrollen, das in Genderdebatten jeder Art thematisiert wird, kommt
bei DSD noch die Uneindeutigkeit des biologischen Geschlechts (Sex) hinzu. Auch
wie eine Gesellschaft damit umgeht, ist allerdings Teil ihrer Kultur. "Mit
dem Unmöglichen konfrontiert, gab es keine andere Wahl, als es normal zu
finden", heißt es im Roman Middlesex. Mag sein, dass das Göttern und
Philosophen leichter fällt als der Mehrheit der "Normal"-Sterblichen.
1. Klarstellung
Dieser Artikel kann so interpretiert werden, daß es nach
neuem Forschungsstand nicht nur Frau und Mann, sondern auch ein drittes
Geschlecht, nämlich den Zwitter gibt. Hierzu sollte Folgendes klargestellt
werden:
1. Zwitter sind Individuen mit funktionsfähigen männlichen
UND weiblichen Geschlechtsorganen. Einige wirbellose Tiere sind Zwitter: Ein
Regenwurm z.B. fungiert zuerst als Männchen, dann als Weibchen. Eine
Weinbergschnecke ist beides zugleich. Bei Säugetieren - also auch bei Menschen
- gibt es keine Zwitter. Es gibt jedoch sog. "Pseudo-Hermaphroditen",
bei denen zwar eine geschlechtlich eindeutige Chromosomenkonstellation vorliegt
(xx bzw. xy), die entsprechende Entwicklung der Geschlechtsorgane jedoch gestört
ist (wie im Artikel beschrieben). Dann ist das Geschlecht äußerlich nicht
eindeutig feststellbar. Es gibt jedoch NIEMALS Menschen, die sowohl Samenzellen
als auch Eizellen haben.
2. In der genannten Publikation "Ethische Grundsätze
und Empfehlungen bei DSD", die unter
http://www.netzwerk-dsd.u...
abgerufen werden kann, werden klar zwei "Konzeptionen
von Geschlechtsidentität" unterschieden:
"Vertreter des biologisch-naturwissenschaftlichen
Modells betonen die Auswirkungen pränataler genetischer und hormoneller
Auswirkungen auf die Geschlechtsentwicklung.
Vertreter des sozialkonstruktivistischen Modells hingegen
verweisen auf die Ausformung des Geschlechts durch gesellschaftliche
Normierung".
Im vorliegenden ZEIT-Artikel jedoch wird fast ausschließlich
der zweite (also der sozialkonstruktivistische) Ansatz wiedergegeben - so, als
ob Geschlecht nichts weiter als eine gesellschaftliche Zuschreibung wäre.
Da es jedoch bei der Behandlung von Menschen mit einer
Störung der Geschlechtsentwicklung auch darum geht, daß diese Kinder nach
Möglichkeit später selbst in der Lage sein sollen, ein Kind zu gebären oder zu
zeugen, kann man es nicht einfach damit bewenden lassen, frei nach Plato ein
Zwittergeschlecht zu definieren. Diese Vorstellung entspringt dem postmodernen
Sozialkonstruktivismus und wird der bio-psychologischen Problematik nicht
gerecht.
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