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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2013
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Was bin ich?
Mann oder Frau?
Bei jedem 200. Baby ist das Geschlecht nicht klar. Oft wird das Problem zu
früh durch Operation gelöst. Gegen die Geschlechtsbestimmung per Skalpell regt
sich Widerstand – zu Recht?
Als Debbie Hartman 1993 aus der Narkose erwacht, hört sie
Stimmen. Sie hat gerade einen Kaiserschnitt hinter sich, und die Ärzte an ihrem
Bett sagen so etwas wie »Das Kind: gesund. Junge oder Mädchen: unklar.« Hartman
glaubt zu halluzinieren. Aber Untersuchungen ergeben, dass ihr Baby nur einen
einzigen Hoden hat und lediglich einen Knubbel, der aussieht wie ein winziger
Penis. Eine Scheide oder eine Gebärmutter ist nicht zu finden. Die genetischen
Tests fallen noch verwirrender aus: Manche Zellen haben die typisch weiblichen
XX-Chromosomen, andere XY-Chromosomen wie bei Jungen und manche ein einzelnes
X-Chromosom, das als Turner-Syndrom bei Mädchen bekannt ist und sehr selten
auftritt.
Die Mutter, die sich auf die Geburt eines Sohnes gefreut hat,
ist schockiert: Welches Geschlecht hat ihr Kind? Ihre Freunde werden gebeten,
erst mal keine hellblauen oder rosafarbenen Dinge für das Baby zu schenken –
sie sollen lieber nur eine Karte schreiben. Zwei Wochen leben die Hartmans in
Ungewissheit, bis die Ärzte entscheiden, dass ihr Kind ein Junge ist.
Doch kaum haben die Eltern ihn Kyle getauft, als er im
dritten Lebensmonat wegen eines Leistenbruchs operiert werden muss. Noch
während des Eingriffs kommt ein Chirurg ins Wartezimmer und erklärt den Eltern,
ihr Sohn sei eine Tochter: Sie hätten verkümmerte Eierstöcke und Eileiter
gefunden. Da das Kind noch unter Narkose stehe, solle man die Eierstöcke und
den einzelnen Hoden gleich entfernen, denn dieses Gewebe sei anfällig für
Krebsgeschwüre. Die verdatterten Eltern willigen ein. Anstelle ihres Sohnes Kyle
nehmen sie am Tag darauf eine Tochter Kelli mit nach Hause.
»Diesmal brachten die Freunde rosa Babykleidung mit Rüschen und
Schleifchen. Doch ich fühlte mich, als wäre mein Sohn gestorben«, erinnert sich
Hartman später. »Zum Glück gab es Kelli.« Schwer nachzuempfinden, in welches
seelische Auf und Ab die Eltern durch die Zweigeschlechtlichkeit ihres
Neugeborenen getrieben wurden. Und die Leidensgeschichte der drei Hartmans war
noch nicht vorbei.
Kyle/Kelli repräsentiert, was Mediziner traditionell als »Hermaphrodit«
bezeichnen: ein Mensch mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Der
Begriff leitet sich aus der griechischen Mythologie ab: In Ovids
»Metamorphosen« umarmt die verliebte Nymphe Salmakis den Hermaphroditos, Sohn
von Aphrodite und Hermes, so innig, dass sie mit ihm zu einem
zweigeschlechtlichen Wesen verschmilzt. Die Bezeichnung Hermaphrodit wird heute
von den Betroffenen als diskriminierend abgelehnt: Sie fühlen sich den
»Intersexuellen« zugehörig – Menschen mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen.
Ein Begriff, der auch die »Pseudohermaphroditen« einbezieht: Ihre
Keimdrüsen sind eingeschlechtlich – ihre Geschlechtsorgane jedoch sind wie beim
entgegengesetzten Geschlecht ausgebildet. Wie es zu intersexuellen Babys kommt,
darüber stellt die moderne Medizin Vermutungen an, die nicht allzu weit von
Ovid entfernt zu sein scheinen: Zwei Eier werden befruchtet, eines von einem
X-, das andere von einem Y-Spermium. Aber statt sich unabhängig voneinander zu
Zwillingen zu entwickeln, wachsen die Eizellen zu einem einzelnen Embryo
zusammen, so die These.
Echte Hermaphroditen wie Hartmans Baby sind extrem selten,
Pseudohermaphroditen kommen häufiger vor. Insgesamt schätzen US-Mediziner, dass
bei jedem 200. Baby das Geschlecht nicht eindeutig ist. Rund 30 genetische und
hormonelle Konditionen können Intersexualität hervorrufen. Bei manchen
Betroffenen ist die Uneindeutigkeit so geringfügig, dass sie ohne Probleme in
einer eindeutigen Geschlechterrolle leben. Bei anderen tritt erst in der
Pubertät zutage, dass sie anders sind. Manche sind von Geburt an durch eine
anatomische Besonderheit gekennzeichnet – einer zu großen Klitoris oder einem
zu kleinen Penis. Jedes 2000. Neugeborene weist so gravierende Auffälligkeiten
auf, dass es operiert wird, schätzt Anne Fausto-Sterling, Biologie-Professorin
an der Brown-Universität in Providence, Rhode Island.
In den USA wird die Intersex-Thematik inzwischen einigermaßen offen
diskutiert. Viele Betroffene outen sich und beklagen die frühen operativen
Eingriffe, die ihnen die Möglichkeit zur sexuellen Empfindung oft
unwiederbringbar genommen haben. In Deutschland sind Intersex-Babys ebenso
häufig wie in den USA, doch die öffentliche Debatte darüber steckt noch in den
Anfängen. Auch hier wird möglichst schnell nach der Geburt zum Messer gegriffen
– in der Hoffnung, dass sich mit der körperlichen »Normalität« auch die mentale
einstelle. Jetzt wächst in den USA allmählich der Widerstand: Die Medizin mache
es sich mit ihrer gängigen Praxis zu einfach.
Intersexualität ist ein Phänomen, vor dem man gern die Augen verschließt.
Dabei wäre eine neue Sichtweise der Geschlechtlichkeit angebracht: »Es gibt,
philosophisch betrachtet, nicht zwei Geschlechter auf der Welt«, sagt
Fausto-Sterling, »die menschliche Sexualität ist vielmehr ein Kontinuum oder
ein Spektrum.« Mediziner kennen viele physische Abnormalitäten, mit denen Babys
auf die Welt kommen können. Doch im Gegensatz etwa zur Hasenscharte tritt die
Intersexualität in jenem sensiblen Bereich auf, der die Identität eines
Menschen bestimmt.
Obwohl das Geschlecht eines Embryos bereits bei der Zeugung feststeht,
zeigen sich anatomische Unterschiede erst zwei Monate später. Männliche und
weibliche Genitalien wachsen aus denselben Geschlechtsdrüsen (»Gonaden«) heran.
Erst ein Signal eines Gens auf dem Y-Chromosom veranlasst die Entwicklung der
Gonaden zu Hoden. Fehlt das Signal, entstehen etwas später die Eierstöcke. Aus
derselben ursprünglichen Masse bilden sich dann entweder der Penis oder die
Klitoris sowie der Hodensack oder die Schamlippen. Wenn die Hormone im Embryo
zu stark schwanken oder ein Signal nicht ankommt, entsteht Intersexualität:
- Bei der weiblichen Variante ist ein genetisch weiblicher Fötus im
Mutterleib zu vielen Androgenen (männlichen Geschlechtshormonen) ausgesetzt:
Eine fruchtbare Frau entsteht, deren Klitoris aber so groß ist, dass sie für
einen Penis gehalten werden kann. Die Schamlippen wirken wie ein leerer
Hodensack .
- Bei der männlichen Variante ist ein genetisch männlicher Fötus zu
wenig Androgenen ausgesetzt. Das Kind kann entweder insgesamt sehr weiblich
aussehen, oder es hat ambivalent wirkende Genitalien, etwa einen sehr kleinen
Penis. Im Erwachsenenalter sind diese Männer unfruchtbar.
- Das »Androgen-Insensitivitäts-Syndrom« (AIS) ist besonders tückisch:
Das Neugeborene wirkt perfekt weiblich, hat aber männliche Chromosomen. Bei
diesem Syndrom hält ein Gen auf dem X-Chromosom den Fötus davon ab, auf
Testosteron zu reagieren. Menschen mit AIS sind steril – die Vagina ist eine
Sackgasse. Sie haben Hoden im Unterleib und keine Gebärmutter, fühlen sich aber
ihr Leben lang weiblich. Meist wird AIS erst in der Pubertät festgestellt, wenn
sich keine Regelblutung einstellt.
Trotz aller medizinischen Definitionen wirkt die
Geschlechtsbestimmung eines Babys recht willkürlich. Die Ärzte handeln nach
folgenden medizinischen Konventionen: Nur wenn ein Penis beim Neugeborenen
größer als zwei Zentimeter ist und die Harnleiteröffnung vorn hat, geht das
Baby als Junge durch; um ein Mädchen handelt es sich nur, wenn die Klitoris kürzer
als einen Zentimeter ist. Hat ein Junge einen sehr kleinen Penis, kann er zum
Mädchen umbestimmt werden, auch wenn er Hoden besitzt. Insbesondere wenn die
Harnwegsöffnung seitlich sitzt, wird er häufig zum Mädchen umoperiert – auch
weil ihm das Urinieren im Stehen unmöglich wäre. »Bei der Bestimmung des
Geschlechts haben wir es mit viel Sexismus zu tun«, sagt Charlotte Boney,
Kinder-Endokrinologin am Rhode-Island-Krankenhaus in Providence.
Die herrschende Praxis erscheint umso willkürlicher, als sie
die genetische Präposition völlig außer Acht lässt. Der Genetik-Professor Eric
Vilain an der Universität von Kalifornien in Los Angeles untersuchte
Maus-Embryonen im Mutterleib, deren Geschlechtsmerkmale noch nicht ausgeprägt
waren. Er fand in den Gehirnen 54 verschiedene Gene, die je nach Geschlecht der
Maus mehr oder weniger aktiv waren: Das zeigt, dass auch Gene eine wichtige
Rolle in der frühen Entwicklung sexueller Identität spielen. Vilain: »Hormone
sind nicht allein verantwortlich für das Gefühl, männlich oder weiblich zu
sein.«
Bislang wirft die Intersexualität viele Fragen auf: Was überhaupt
definiert das Geschlecht eines Menschen – die Chromosomen, das
Erscheinungsbild, die Psyche? Und was, wenn diese Merkmale nicht
über-einstimmen? Wie kann man ein Geschlecht bestimmen, wenn es keine sicheren
Indizien gibt? Und wenn man ein Kind operativ auf ein Geschlecht festlegt, es
sich aber später für das andere entscheidet: Was bedeutet dann homo- oder
heterosexuell?
In der Medizin gelten Intersex-Geburten als eine Art sozialer
Notfall. Die Ärzte wollen das Geschlecht möglichst schnell bestimmen und
korrektive Operationen durchführen, um den Eltern die Zeit der Ungewissheit zu
verkürzen. Diese müssen natürlich zustimmen – doch meist sind sie so
schockiert, dass sie den Vorschlägen der Ärzte folgen, ohne sich in Ruhe zu
informieren. Die Zeit hätten sie – denn eine sofortige Operation ist nicht
nötig.
Den Wendepunkt der öffentlichen Meinung über die
Geschlechtsbestimmung per Skalpell markierte ein berühmter Fall des
US-Psychologen John Money. Der empfahl 1965, einen acht Monate alten Jungen,
dessen Beschneidung schiefgelaufen war, zu einem Mädchen umzuoperieren und danach
mit Hormonen zu behandeln – obwohl er, abgesehen vom verstümmelten Penis,
eindeutig männlich war. Als Mädchen namens Brenda schien er ein glückliches
Leben zu führen; in Mediziner- und Psychologenkreisen sowie in der Presse galt
der Fall als Paradebeispiel dafür, dass die Erziehung alles sei, was die
Geschlechtsidentität prägt. Doch vor Kurzem platzte die Bombe: In seiner
Autobiografie schildert der operativ verweiblichte Junge, dass er in seiner
Kindheit niemals glücklich war. Als junger Erwachsener hat er den Namen David
Reimer angenommen, und später versuchte er sogar, die ihm genommenen männlichen
Geschlechtsorgane chirurgisch nachbilden zu lassen.
Die Operation vom Jungen zum Mädchen findet weitaus
häufiger statt als umgekehrt: »Das ist viel leichter durchzuführen«, sagt Celia
Kaye, Pediatrie-Professorin am »University of Texas Health Center« in San
Antonio, »doch ob die Operierten zu glücklichen, funktionsfähigen Frauen
heranwachsen, sei dahingestellt.« Studien von Professor William Reiner an der Johns-Hopkins-Universität
haben gezeigt, dass Jungen, die mit einem Mikropenis auf die Welt kamen, zu
Mädchen umoperiert wurden und auch als Mädchen aufwuchsen, später dennoch meist
die männliche Geschlechtsidentität wählen.
Max Beck, ein Mann Mitte dreißig aus Atlanta, erinnert sich ungern
an seine Kindheit: »Etwas war komisch. Es gab einmal im Jahr die heimlichen
Arztbesuche in New York, wo mir zwischen die Beine geguckt wurde. Ich wusste,
da war etwas Fürchterliches, über das man nicht spricht.« Erst mit 24 fand Max
heraus, was los war: Er war als Junge geboren und dann wegen seines zu kurzen
Penis zum Mädchen umoperiert worden: Mit 17 Monaten wurde sein kleiner Phallus
zu einer Scheide, aus Max wurde Judy. »Ich kam mir immer vor wie ein Monster,
aber mir war nicht klar, dass meine Gefühle mit einer männlichen
Geschlechtsidentität zu tun hatten.«
Judy brach ihr Studium ab, heiratete einen Mann und beging später
einen Selbstmordversuch. Dann traf sie Tamara und nahm Kontakt zur einer
Selbsthilfegruppe auf. »Das rettete mein Leben«, sagt Max. Er begann,
Testosteron einzunehmen, und wurde wieder zu einem Mann. Max und Tamara sind
heute verheiratet, aber Max ist steril und hat keinen Penis – der wurde ihm als
Kind entfernt. Das macht ihn heute wütend: »Wenn du etwas wegschneidest, kannst
du es nicht wieder ankleben.«
Doch auch die Operation von Mädchen mit auffälligen
Geschlechtsorganen ist problematisch: Manche Kritiker bezeichnen die
Verkleinerung einer zu großen Klitoris als Genitalverstümmelung: »Das ist wie eine
rituelle Beschneidung«, sagt Angela Lippert aus Peoria in Illinois. Als sie
zwölf wurde, begann ihr Körper, der zweifellos weiblich war, sich zu verändern:
Die Klitoris wuchs dramatisch. Mehrere Ärzte schlugen eine Operation vor: »Sie
erzählten mir, dass meine Eierstöcke sich nicht entwickelt hätten und besser
entfernt würden. Doch als ich aus der Narkose aufwachte, fehlte auch meine
Klitoris. Aber ich war zu beschämt, um danach zu fragen.«
Der Widerstand gegen den willkürlichen Umgang mit Intersexualität in
den USA hat sich in der Intersex Society of North America (ISNA) organisiert.
Ihre Gründerin Cheryl Chase ist selbst Betroffene: Sie kam als Junge zur Welt
und wurde mit 18 Monaten zum Mädchen erklärt. Damals entfernten die Ärzte den
kompletten Penis, der eigentlich ihre Klitoris war. »Sie sagten, dass ich keine
Klitoris bräuchte, weil ich ja eine Vagina hätte. Weibliche sexuelle Funktionen
waren keinen Pfifferling wert.« Chase lebt heute mit ihrer Partnerin zusammen.
Sie tritt dafür ein, dass Ärzte sich zwar wie bislang darum bemühen,
Intersex-Babys so schnell wie möglich einem Geschlecht zuzuordnen – aber mit
einem operativen Eingriff sollen sie so lange warten, bis die Kinder in die
Pubertät kommen und mitentscheiden können: »Wenn eine Person mit doppeldeutigen
Geschlechtsorganen später eine Operation will, kann sie eine informierte
Entscheidung treffen.«
Dass zur Eile kein Grund besteht, zeigt das Beispiel der
Transsexuellen. Sie sehnen sich nach einem Leben im Körper des anderen
Geschlechts, kleiden sich entsprechend – und versuchen manchmal im
Erwachsenenalter, sich chirurgisch umgestalten zu lassen. Aber bis es dazu
kommt, müssen sie mehrere psychologische Gutachten beibringen. Anzeichen, dass
es während der Wartezeit zu Identitätsproblemen kommt, sind nicht bekannt.
Warum sollte es bei Intersexuellen anders sein? Oft werden die Identitätskrisen
durch zu frühe, oft irreversible Eingriffe erst geschaffen.
Auch Debbie Hartman sagt heute, dass sie mit der Operation ihrer
intersexuellen Tocher Kelli besser gewartet hätte: »Eltern können ihren Kindern
helfen, mit Geschlechtsorganen zu leben, die anders aussehen.« Als Kelli
zweieinhalb Jahre alt war, stimmte die Mutter »naiv und uninformiert« einer
erneuten Operation zu: Um die Genitalien der weiblichen Norm anzunähern, wurde
der kleine Knubbel-Penis entfernt und stattdessen aus Darmgewebe eine Vagina
mit Klitoris geformt. Hartman: »Die Ärzte sagten, ich solle sie möglichst jung
operieren lassen, damit sie später keine Erinnerung an den Eingriff hat.«
Aber dass Unheimliches mit ihm geschah, spürte das Kind schon früh –
auch wenn es noch nicht darüber sprechen konnte. Dreimal am Tag musste die
Mutter Kellis neue Vagina mit einem Stab weiten, damit das Narbengewebe die
Öffnung nicht wieder verschloss. Dabei wehrte sich die Tochter so sehr, dass
ihre Großmutter sich quer über sie legen musste. Und eines Tages kam die bange
Frage: »Mama, warum hast du damals immer den Stab in mich hereingesteckt?«
Hartman erinnert sich: »Da wusste ich zum ersten Mal, wie sehr Kelli das alles
mitgenommen hat.«
Auch drei weitere Operationen schafften das Problem der
Geschlechtsidentität nicht aus der Welt. Im Alter von vier Jahren begann Kelli
zu fragen, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sei. Mit sechs wollte sie wissen,
was ihre Operationsnarben zu bedeuten hätten. Als die Tochter acht war, gab
ihre Mutter auf und erklärte ihr alles über ihren Zustand. »Noch heute sagt sie
oft, dass sie lieber ein Junge wäre. Sehr wahrscheinlich wird sich Kelli am
Ende doch als Mann identifizieren«, sagt Hartman.
Die Mutter ist überzeugt, dass ihre Tochter »nicht nur
körperliche, sondern auch seelische Narben« davongetragen hat. Die heute
13-Jährige leidet unter depressiven Schüben und der Konzentrationsschwäche
ADHD. Ihre Interessen sind nicht unbedingt geschlechtsspezifisch: Sie bastelt
gern mit Ton oder Holz, sie spielt Schlagzeug, Gitarre und Klavier, sie liebt
die Backstreet Boys, und sie interessiert sich für Autos und Motoren. Auf die
Frage, was sie einmal werden will, antwortet sie: »Vielleicht werde ich ein
männlicher Schreiner. Dann werde ich ernster genommen.«
Sind Sie ein Mann
oder eine Frau?
Können sie sich
vorstellen beides gleichzeitig zu sein?
Das für die meisten von uns so eindeutige Geschlecht gibt meist keinen
Anlass zum Zweifel. Was aber wäre, wenn dem vor Testosteron strotzendem
männlichen Muskelpaket außer seinem Riesenphallus nun plötzlich zusätzlich große
Brüste wüchsen. Oder die von zartester Haut umkleideten makellosen weiblichen
Konturen würden beim Blick über den Busen auf ein fleischiges Ding zwischen den
Beinen sehen mit einem faltigen Gebilde zweier Kugeln darunter? Dann würde das
Geschlecht vermutlich zu einem phantasmagorischen Albtraum.
"Sag es keinem anderen"
Die Geschichte der Hermaphroditen
Von Kirstine Schwenger
Unser Recht kennt nur zwei Geschlechter: Männer und Frauen und Kinder
männlichen oder weiblichen Geschlechts. Vor 200 Jahren tauchte im Allgemeinen
Preußischen Landrecht noch ein drittes Geschlecht auf - ein
"Zwitterparagraf" regelte die Rechte der Hermaphroditen, Menschen die
mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen zur Welt kamen. Später wurde der
Paragraf gestrichen, Recht und Gesellschaft verlangten Eindeutigkeit. Daran hat
sich bis heute nicht viel verändert.
Seit Jahrhunderten werden Hermaphroditen oder Intersexuelle systematisch
zum Verschwinden gebracht. Sie passen ganz offensichtlich nicht so recht in die
alltägliche Ordnung unserer zweigeschlechtlichen Welt. Im Bereich der Medizin
und selten genug in der Psychologie, dort wo Wissenschaftlerinnen und Fachleute
es sich erlauben etwas genauer hinzuschauen, sind sie jedoch immer dagewesen,
oft sogar überdeutlich sichtbar. Sie, vielmehr noch ihre Geschlechtsteile,
wurden gezeichnet, fotografiert, gemessen und beschnitten. Denn wer nicht
eindeutig als Mädchen oder Junge zu erkennen ist, soll mit Hilfe der
medizinischen Technik männlich oder weiblich werden.
Der römische Dichter Ovid erzählt zu Beginn unserer Zeitrechnung die Sage
von Hermaphroditos, dem Sohn der Göttin Aphrodite und dem Gott Hermes. Eine
verliebte Nymphe soll ihn als Knaben ins Wasser einer Quelle gezogen haben um
sich mit ihm zu vereinen. Sie bat die Götter den Widerstrebenden nie wieder von
ihr zu trennen, und ihr Wunsch wurden erhört - der Knabe und sie wurden zu
einem Wesen, halb Frau und halb Mann - Ovid nannte ihn Hermaphroditos.
Seither ist die Fabelgestalt ein beliebtes Motiv für Künstler gewesen, aber
um 1600 taucht sie in ganz neuen, der Mythologie fremden Zusammenhängen auf.
Sie wird zum Gegenstand der Rechtswissenschaft und der Medizin und auch die
herrschende Moral schaut missgünstig und ganz genau hin - die Sagengestalt ist
in der Wirklichkeit angekommen und verunsichert ihre Mitmenschen.
"Zum Beispiel gibt es ein zum damaligen Zeitpunkt recht intensiv
diskutierten Fall des französischen Zimmermädchens Marie le Marcis aus Rouen,
das 1601 wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Akte vor Gericht gestellt wurde
und in einer Serie von Gutachten wurde ihr am Ende von einem Mediziner
bescheinigt, dass es keine Frau sei, sondern eben ein Hermaphrodit mit einem
verborgenen Penis. Und dieses Urteil dieses Mediziners hat im Endeffekt diese
Frau oder diesen Hermaphroditen, wie auch immer, vor einer recht starken Strafe
bewahrt."
Fabian Krämer vom Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte,
der sich mit der Geschichte der Hermaphroditen beschäftigt hat.
"Woran man gleich dazu geben sollte, dass es zu diesem Zeitpunkt zwei
große unterschiedliche Lehrmeinungen gab zum Hermaphroditismus, zwei
unterschiedliche Erklärungsmodelle.
Dieser besagte Mediziner Jaques Duval war einem dieser Modelle anhängig,
dem hippokratisch-galenischem Erklärungsmodell, demgemäß es Hermaphroditen
gäbe, als Mischung der beiden Geschlechter. Diesem Erklärungsmodell gegenüber
standen aber Aristoteliker, die sich auf Aristoteles berufend die Meinung
vertreten haben, dass es keine Hermaphroditen gibt, sondern lediglich
Individuen, die auf den ersten Blick so aussehen wie Hermaphroditen, weil sich
eine Verdoppelung der Genitalien zeige, von denen aber jeweils ein Körperteil
funktionsunfähig sei.
Also diese verschiedenen Lehrmeinungen waren beide schon ab einem gewissen
Zeitpunkt im Mittelalter verfügbar und wurden auch vertreten. Allerdings bekam
der Antagonismus zwischen ihnen neue Nahrung dadurch, dass hippokratische
Lehrmeinungen im 16.Jahrhundert einen gewissen Auftrieb in Europa erhalten
haben, sodass gerade die intensivierte Auseinandersetzung zwischen diesen beiden
Schulen oder Lehrmeinungen auch dazu geführt hat, dass Hermaphroditen noch
stärker diskutiert wurden, als im Mittelalter."
Worauf die Wissenschaftler einer Epoche ihr Interesse richten, und vor
allen Dingen, wie sie es tun, ist abhängig von wechselnden Moden. Im
16.Jahrhundert haben wir es laut Fabian Krämer offenbar mit dem neugierig
staunenden Gelehrten zu tun - auf der Suche nach dem Wunderbaren.
"Für das Auftauchen von Hermaphroditen in dem Sinne, dass sie
zunehmend thematisiert wurden um 1600 war auch noch ganz wesentlich, dass in
diesem Zeitraum sowohl Naturkundige als auch andere Gelehrte sich zunehmend für
die außergewöhnlichen oder seltenen Produktionen der Natur interessierten.
Sogenannte Wunder oder sogenannte Monstren - und in diesem Kontext wurden eben
auch Hermaphroditen zunehmend thematisiert.
Zunächst einmal hatte man damals einen Naturbegriff, der vom heutigen
abweicht. Und zwar hat man die Natur als nicht in ihren Produktionen ganz
gleichförmig, als Naturgesetzen unterworfen verstanden, sondern man hat ihr
durchaus zugesprochen zu spielen etwa und ganz außergewöhnliche Dinge
hervorzubringen. Und diese außergewöhnlichen und seltenen Dinge wurden als
besonders wert der Aufmerksamkeit angesehen. In dem Zusammenhang ist auch
wichtig, dass das Staunen als Emotion des Naturforschers, als Affekt während
der Arbeit, während des Beobachtens eines Gegenstandes nicht abgewertet wurde,
sondern zum Selbstbild des Naturkundigen gehörte; das heißt, es hatte einen
Wert etwas Bestaunenswertes sich anzusehen und darüber wissenschaftlich zu
arbeiten."
Das 18. Jahrhundert gilt als Jahrhundert der Aufklärung. An die Stelle des
Staunens und unvoreingenommenen Beschreibens der als vielfältig und launisch
empfundenen Natur, tritt die analytische Suche nach eindeutigen Wahrheiten. Den
wunderlichen Erscheinungen der Natur sollen die Schleier weggerissen werden -
sie verführen ja nur dazu, eigentlich Eindeutiges als schwankend, spielerisch
und wechselhaft anzusehen. Im "Licht der Vernunft" sollte Klarheit
geschaffen werden - es galt, Ordnung in die Natur zu bringen.
Das waren schlechte Zeiten für uneindeutige Zwitterwesen. Die Wissenschaft,
die Medizin konzentrierte sich zunehmend darauf, festzustellen, dass es sich
letzten Endes doch um fehlerhafte Männer oder fehlerhafte Frauen handelte.
Hermaphroditen - als dritte Möglichkeit - verschwanden, wenn man so will - im
Schatten des Lichtes der Aufklärung.
"Die Natur wurde nun nicht mehr als möglicherweise spielend angesehen,
als eher durch Gewohnheiten, die sie immer mal wieder auch durchbrach,
kategorisiert, sondern vielmehr als eine Natur, die Naturgesetzen starr
unterworfen war. Das ist ein ganz wichtiger Faktor. Ein weiterer wichtiger
Faktor ist die Veränderung der wissenschaftlichen Sensibilität. Das Staunen und
das Vergnügen auch in der Beschäftigung mit außergewöhnlichen Phänomenen wurde
zunehmend abgelehnt unter den Intellektuellen, und stattdessen die Skepsis in
den Vordergrund gerückt."
Um die verlangten exakten Geschlechtsdiagnosen zu stellen, waren die Mediziner
darauf angewiesen, eindeutige Merkmale oder Verhaltensweisen zu erkennen, die
sie nur einem Mann oder nur einer Frau zuordnen konnten. Im 18. Jahrhundert
wurde die Existenz von oder der Mangel an Hoden zum primären wissenschaftlichen
Kriterium der Geschlechtszuordnung. Aber als wolle die Natur doch wieder zum
Spielen auffordern, versteckte sie dieses Kriterium bei den Hermaphroditen
häufig im Bauchraum und ließ es so klein bleiben, dass es kaum tastbar war. So
wurde manche Frau nach dem Tod als "Mann", als
"Hodenträger", diagnostiziert.
So sehr sich die Mediziner aber um eindeutige Kriterien für die Diagnose
des wahren Geschlechts bemühten, sie mussten allenthalben einräumen, dass sie
bei lebenden Hermaphroditen, insbesondere bei Kindern, zu keinem sicheren
Urteil gelangen konnten. Trotzdem forderten akademische Ärzte eine medizinische
Überwachung des Geschlechtsstatus sowie der Ehetauglichkeit von Hermaphroditen
und stellten sich gegenüber Hebammen und Chirurgen als die allein zuständigen
Experten dar: Denn jene würden leicht eine falsche Geschlechtszuweisung
vornehmen, was zur Folge haben könne, dass sich ein verkannter Scheinzwitter
mit einer Person gleichen Geschlechts verheirate. Das ziehe nicht nur
gravierende individuelle Probleme nach sich, sondern bedrohe auch die
Geschlechter- und die sexuelle Ordnung und unterlaufe den - im 18. Jahrhundert
bereits unter bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten thematisierten - Ehezweck
der Fortpflanzung.
Die akademisch gebildeten Mediziner standen im 18. Jahrhundert unter einem
gewissen Legitimationsdruck. Denn die praktische Arbeit am Patienten
verrichteten Bader, Hebammen und Chirurgen. Den praxisfernen Akademikern blieb
als Betätigungsfeld und als Einnahmequelle nur die Arbeit an der Universität
und der medizinisch-administrative Bereich. Administration und Polizei riefen
auch damals schon nach gesetzlichen Regelungen. Und die Juristen benötigten sie
um Ehe - und Erbschaftsangelegenheiten zu bearbeiten. Und so tauchte im
Preußischen Landrecht von 1794, nicht das erste Mal im deutschsprachigen Raum,
aber doch an sehr prominenter Stelle ein "Zwitterparagraph" auf.
Hermaphroditos ist angekommen im Preußischen Recht. Bis 1900 sollte er sich
dort halten, dann verschwand er wieder spurlos aus den deutschen Gesetzbüchern.
"§19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Eltern, zu welchem
Geschlecht sie erzogen werden sollen. §20. Jedoch steht einem solchen Menschen
nach zurückgelegtem achtzehnten Jahr, die Wahl frei, zu welchem Geschlecht er
sich halten wolle. §21. Nach dieser Wahl werden seine Rechte künftig beurteilt.
§22. Sind aber Rechte eines Dritten von dem Geschlechte eines vermeintlichen
Zwitters abhängig, so kann ersterer auf Untersuchung durch Sachverständige
antragen. §23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet, auch gegen die Wahl
des Zwitters und seiner Eltern."
Um 1900 kommt in der Medizin so etwas auf, wie ein Entwicklungsdenken. Über
Jahrhunderte hatten die Gelehrten geglaubt, alles Leben sei wie ein winzig
kleiner Kern schon immer in der Welt gewesen und müsse sich nur
auseinanderfalten und solange wachsen, bis seine ihm vorherbestimmte Größe
erreicht sei. Diese "Präformationslehre" wurde durch den
Entwicklungsgedanken abgelöst. Das war etwas völlig Neues, und es hatte mit der
Entdeckung der weiblichen Keimdrüsen zu tun. Man hatte endlich herausgefunden,
dass es nicht nur Hoden, sondern auch Eierstöcke - weibliche Keimdrüsen - gab -
und dass in einem Zeugungsakt verschiedene Stoffe vermischt wurden - und dass
aus dieser Mischung Organ für Organ die Lebewesen entstanden.
"Dieser Grundgedanke ist auch für den Hermaphroditismus ganz
interessant, weil dann die Hermaphroditen einen neuen Platz bekommen. Und zwar
sind sie nicht mehr einfach Männer und Frauen, die von Anfang an missgebildet
waren, sondern sie sind jetzt die unterste Stufe dieser Entwicklung hin zu Mann
oder Frau. Sie sind das Undifferenzierte, das Indifferente des Geschlechts,
während männlich und weiblich die entfalteten Entwicklungsstufen sein sollen.
Damit einher geht, dass man doch wieder anfängt über Geschlecht nachzudenken
als ein Kontinuum zwischen männlich und weiblich und dem Hermaphroditen in der
Mitte, aber nicht nur einfach in der Mitte, nicht gleichberechtigt, sondern als
Unterstes."
Ulrike Klöppel vom Institut für Geschichte der Medizin an der Berliner
Charite. Sie hat in ihrer Doktorarbeit die Geschichte des medizinischen Umgangs
mit dem Hermaphroditismus untersucht.
"Man rückt nicht mehr davon ab, dass Geschlecht etwas ist, was sich
aus einem undifferenzierten hin zu einem differenzierten entwickelt, und der
Hermaphrodit eine unvollkommene Stufe dabei ist. Das wird eigentlich bis heute
so fortgeführt, nur darin wird dann immer unterschiedlich akzentuiert. Da
akzentuiert man das Kontinuum, also lückenlose Übergänge zwischen den
Geschlechtern, die man auch bei den Menschen, wenn man sie in eine Reihe
stellen würde, auch nachweisen könnte, und auf der anderen Seite gibt es
Modelle, die sagen nein , das Kontinuum, das stimmt zwar irgendwie, aber man
muss darin trotzdem klar abgrenzen: bis dahin geht männlich, und da fängt
weiblich an. Und der Hermaphrodit fällt aus diesem Denken immer heraus. Er ist
letztendlich dann doch weiblich oder männlich."
Weiblich sollte von nun an jedes Kind sein, dass weibliche Keimdrüsen
hatte, ganz egal, wie uneindeutig die Geschlechtsteile aussahen - und männlich
einzuordnen waren alle, die Hoden aufzuweisen hatten, auch wenn die versteckt
im Bauchraum lagen und kaum tastbar waren. Doch die Wissenschaft und der
Fortschritt an Erkenntnissen, den sie brachte, ließ das Fundament, auf dem die
Ärzte nun so sicher zu stehen glaubten, rasch wieder einstürzen. Es fanden sich
Menschen, die beides hatten, weibliche und männliche Keimdrüsen - und es gab
Eierstöcke mit männlichem Hodengewebe und Hoden mit Eierstockgewebe. Der
Sexualforscher Magnus Hirschfeld verweist 1919 auf solche "objektiv"
diagnostizierten und aufgrund ihrer Seltenheit zur Anschauung präparierten
Fälle:
"In der Landauschen Klinik in Berlin kann man absolut einwandfreie
Präparate solcher menschlicher Zwitterdrüsen sehen."
"Wissenschaftlich stellt man sich zunehmend die Frage, inwiefern die
Entwicklung des Geschlechtskörpers tatsächlich von den Keimdrüsen abhängt, oder
ob es nicht in den Anlagen noch vor den Keimdrüsen schon festgelegt ist, wie
sich der Geschlechtskörper in seinen Details entwickelt. Später kommt hinzu,
dass man sagt, das ist genetisch bedingt, und die genetischen Bestimmungen für
die Keimdrüsen und die genetische Bestimmung für den Rest des Körpers können
unterschiedlich sein."
Doch nicht nur die Wissenschaftler sind verunsichert durch das, was sie
forschend entdecken, auch in der Praxis werden die Ärzte durch Patienten mit
uneindeutigen Geschlechtsteilen vor Entscheidungen gestellt, für die sie keine
Theorie parat haben.
"Ende des 19. Jahrhunderts ist es so, dass Ärzte Hermaphroditen nur
dann zu Gesicht bekommen, wenn sie als erwachsene Menschen zu Ihnen in die
Praxis kommen. Diese Menschen leben schon seit Jahrzehnten in einem Geschlecht,
kommen mit ihrer Vorstellung dorthin, dass sie sagen, ich möchte heiraten, es
stört mich an meinen Genitalien dies und jenes, das soll verändert werden -
helfen Sie mir dabei Herr Doktor! Das sind die Fälle, mit denen sie zu tun
haben, und das ist auch die zahlungskräftige Klientel. Aus dieser Situation
heraus entwickeln Ärzte um 1900 die Vorstellung, dass sie eigentlich gar nicht
den Wünschen ihrer Klientel zuwider handeln können. Sie müssen sich danach
richten, was ihre Patienten mitbringen an Eigenvorstellungen ihres Geschlechts,
und wie sie leben wollen, was auch eine Operation bedeuten kann."
Hermaphroditos ist an einem entscheidenden Punkt angekommen. Er ist
sozusagen erwachsen geworden. Aus dem Preußischen Landrecht, das ab 1900 als
Bürgerliches Gesetzbuch erscheint, wird er zwar wieder verbannt - "Zwitter
- keine Bestimmung" heißt es lapidar in den " Materialien zum
BGB", aber zeitgleich mit dem Rauswurf beginnt die Wissenschaft endlich,
ihn nicht mehr nur als Objekt ihrer Neugier, ihrer Forscherlust zu schätzen,
sondern auch als selbständig handelndes Subjekt anzuerkennen. Magnus Hirschfeld,
Direktor des Instituts für Sexualforschung in Berlin beschreibt immer wieder
Fälle, bei denen er auf keine Weise eine Entscheidung treffen könne, und diese
dann den Betreffenden selbst überlassen müsse.
Das ganz Besondere an Magnus Hirschfelds Gutachten über Hermaphroditen
besteht darin, dass er der subjektiv empfundenen Geschlechtszugehörigkeit immer
den Vorrang gibt - und sich strikt weigert, den Hermaphroditen gegenüber die
besserwisserische Haltung des Fachmannes anzunehmen - er glaubte, dass die
äußeren Geschlechtsmerkmale nicht ausschlaggebend waren für die Empfindungen
der Menschen, die hilfesuchend zu ihm kamen - und er vermutete, dass die
Erklärung für die abweichenden Gefühle seiner Patienten in einem Bereich zu
finden waren, der der Medizin noch gänzlich verschlossen war. Er hat das sehr
genau und fast poetisch so gesagt:
"Das Geschlecht des Menschen ruht viel mehr in seiner Seele als in
seinem Körper, oder, um mich einer medizinischen Ausdrucksweise zu bedienen,
viel mehr im Gehirn als in den Genitalien."
Beeinflusst und angeführt von Sexualwissenschaftlern wie Magnus Hirschfeld
unterstützten Ärzte nach 1900 zunehmend die Wahlfreiheit der Hermaphroditen in
Bezug auf ihr Geschlecht. Mit dem Siegeszug und der weiteren Entwicklung der
Vererbungslehre geraten die Hermaphroditen jetzt natürlich auch ins Blickfeld
der Biologie und der Genetik. Allerdings trägt auch die Entdeckung der
Geschlechtschromosomen nicht dazu bei, sie eindeutig einem der beiden
Geschlechter zuzuweisen, und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts müssen die
Genetiker feststellen, dass es Menschen gibt, die einen männlichen
XY-Chromosomensatz haben und weibliche äußere Geschlechtsteile. XY-Frauen
nennen sie sich heute, und wer sie kennt, ist oft überrascht von ihrer
weiblichen Schönheit.
Dass die Hermaphroditen während des Nationalsozialismus nicht verstärkt in
den Blickwinkel der Eugeniker gerieten, liegt eventuell daran, dass die
Theorien eines damals sehr bekannten Genetikers wenig hergaben für ihre
Diskriminierung. Richard Goldschmidt entwickelte seine Genetik zu Beginn des
20. Jahrhunderts, und der Intersexualität - der Begriff stammt übrigens von ihm
- galt sein besonderes Interesse, weil er an Hermaphroditen zeigen konnte, wie
seiner Meinung nach eine genetische Geschlechtsbestimmung aussehen könnte. In
seinem Modell mussten unterschiedliche Gene zu bestimmten Zeiten
zusammentreffen um ein Merkmal zu bestimmen, taten sie das nicht, konnten
verschiedene Zwischenstufen entstehen, zu denen er auch die Hermaphroditen
zählte.
Goldschmidt war Jude und musste während der Herrschaft der
Nationalsozialisten emigrieren. Erstaunlicherweise wurde seine spezielle
Genetik weiterhin gepflegt, selbst von gestandenen Anhängern des Systems - aber
es gab auch Widerspruch. Es ist aber interessant, dass die Goldschmidtsche
Intersexualitätslehre mit ihren Zwischenstufen in dieser Zeit wissenschaftlich
weiter aufrechterhalten wurde, obwohl sie keine Handhabe bot, rassenhygienische
und eugenische Maßnahmen einzuleiten gegen Menschen, die ganz gewiss nicht den
Vorstellungen der Machthaber des Dritten Reichs entsprachen.
Bis zum Beginn der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts bewahrten die Chirurgen
im großen und ganzen Ruhe, wenn ein hermaphroditisches Kind geboren wurde. Sie
empfahlen abzuwarten, welche Wünsche es in Bezug auf sein Geschlecht nach der
Pubertät äußern würde. Operiert wurde meist nur, wenn die Ärzte fürchteten,
dass die im Bauchraum lagernden, unvollständigen Keimdrüsen zu Tumoren entarten
würden. Oder wenn die Eltern auf den Operationen - meist waren mehrere nötig -
bestanden. Es waren übrigens gar nicht so selten die Eltern, die Ärzte zum
Eingreifen veranlassten, weil sie fürchteten, dass ihre Kinder verspottet und
gemieden würden, und sie waren ganz sicher auch selbst verunsichert und hatten
Angst davor tagtäglich mit einem Kind umzugehen, von dem sie nicht wussten ob
es ein Junge oder ein Mädchen war.
Obwohl Sexualwissenschaftler und Ärzte inzwischen ahnten, dass das sexuelle
Empfinden und die geschlechtliche Identität abweichen konnten vom äußeren
Erscheinungsbild, war ihnen unklar, wie und wodurch die sogenannte
Psychosexualität eigentlich entstand.
"In dieser Situation wird in Amerika ein Behandlungs- und
Forschungsprogramm entwickelt an intersexuellen Menschen und für intersexuelle
Kinder, das es so noch nicht gegeben hat. Dort wird das erst Mal empfohlen,
frühzeitig zu operieren, weil man glaubt, wenn man den Körper normalisiert,
dass dann sich die Psychosexualität möglichst normal, d.h. eindeutig männlich
oder eindeutig weiblich entwickeln würde. Dahinter steckte eine Theorie, dass
die Psychosexualität durch den Einfluss der Erziehung im Wesentlichen und in
zweiter Linie durch das Körperbild geprägt werden würde. Prägung, das war der
Einfluss der Erziehung - aber nur in einem bestimmten Zeitraum - in den ersten
beiden Lebensjahren."
Endlich scheint es eine Behandlungsalternative zu geben, die von einer
schlüssigen Theorie gestützt wird - und die auch den Eltern der Kinder eine
quälende Phase der Unsicherheit ersparen soll. Sie wären in der Lage, ihre
Kinder zweifelsfrei gemäß der zugewiesenen Rolle zu erziehen - und noch einen
Vorteil bot das neue Konzept den Wissenschaftlern: Der frühe Eingriff, der
verbunden war mit jahrelanger Beobachtung der Ergebnisse hatte die Qualität
eines Experiments. Die Theorie von der psychosexuellen Entwicklung konnte so immer
wieder überprüft und eventuell bestätigt werden - ideale Bedingungen für die
Wissenschaft, um eine Theorie zu festigen. Solche Experimente gelten als
unethisch - hier wurden sie toleriert, weil die Behandlung und darauffolgende
Begleitung für unumgänglich gehalten wurde.
Bis weit in die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts blieb das frühe Operieren,
gefolgt von immer wiederkehrenden Begutachtungen der Kinder die Regel. Ihre
Leidensgeschichten füllen Bände wissenschaftlicher und zunehmend kritischer
Veröffentlichungen, und es entbehrt nicht der Ironie, dass die Theorie von der
frühkindlichen Prägung nicht nur dazu führte, dass hermaphroditische Kinder
schon als Säuglinge operiert wurden, um ihnen frühzeitig eine weibliche oder
männliche Geschlechtsrolle zuzuweisen - auch die Frauenbewegung der
1960er-Jahre berief sich auf genau diese Theorie, um zu beweisen, dass kleine
Mädchen durch erzieherischen "Geschlechtsrollendrill" in die
Frauenrolle gedrängt würden.
"Als Frau wird man nicht geboren - zur Frau wird man gemacht."
Der Sexualforscher John Money vom John Hopkins Hospital in Baltimore, USA
war einer der bekanntesten Anhänger der Prägungstheorie. Weltweit bekannt wurde
er durch ein Experiment mit einem verstümmelten kleinen Jungen. Sein Name war
David Reimer. Im April 1966 wurde in einer kanadischen Klinik, in die seine
Eltern ihre eineiigen Zwillinge zur Beschneidung gebracht hatten, sein Penis
vollständig verbrannt. Sein Bruder blieb unbeschnitten. David ließen seine
Eltern nach langer Beratung mit Dr. Money zu einem Mädchen umoperieren. Ihnen
wurde nahegelegt, dem Kind niemals die Wahrheit zu sagen und es als Mädchen
aufzuziehen.
David war als Mädchen ein Misserfolg. Weder er selbst noch die anderen
Kinder erkannten ihn als Mädchen an - er verbrachte eine quälende Kindheit und
ließ sich 1981 mehrmals operieren um wenigstens Teile seiner verlorenen
Männlichkeit zurückzugewinnen. 1991 schließlich heiratete er eine Frau und 2004
- mit nicht einmal 40 Jahren - nahm er sich das Leben. Alice Schwarzer führte den
Fall 1975, lange vor dem Bekanntwerden der unglücklichen Lebensgeschichte David
Reimers, übrigens als Beleg dafür an, dass die Geschlechtsrollen eben nicht
natürlich gegeben seien. Moneys Arbeiten gehörten, so Schwarzer zu "den
wenigen Ausnahmen" im Feld der Wissenschaft, "die nicht manipulieren,
sondern dem aufklärenden Auftrag der Forschung gerecht werden." Ein
eindrucksvolles Beispiel für den schnellen Verfall wissenschaftlicher
Wahrheiten!
Seit etwa 15 Jahren - ungefähr seit der Zeit, zu der die unglückliche
Lebensgeschichte von David Reimer weltweit bekannt wurde, und auch der Glaube
an die Macht der Erziehung abflaute - gehen Ärzte wieder sensibler und
abwartender mit den Hermaphroditen um. Eltern werden von Anfang an
psychologisch beraten, und in den allermeisten Fällen sind die Kinder und
Jugendlichen nicht mehr Opfer degradierender Begutachtungen - und es gibt
inzwischen wieder viele Kinder, die gar nicht oder erst nach der Pubertät
operiert werden, falls sie das wünschen.
Ganz verzichten wollen die Mediziner, und übrigens auch viele Eltern und
die Intersexuellen aber nicht auf die korrigierenden Operationen, denn es gibt
Untersuchungen, die belegen, dass nicht wenige Intersexuelle mit den
medizinischen Behandlungen zufrieden sind, und nicht auf sie hätten verzichten
wollen. In diesem Punkt gibt es deutliche Meinungsverschiedenheiten zwischen
den sogenannten Intersex-Aktivisten, die frühzeitige Operationen generell
ablehnen und sie als Menschenrechtsverletzungen ansehen.
Der Psychologe Knut Werner Rosen wird in Berlin immer in die Klinik
gerufen, wenn ein Kind mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren ist, um
die erschreckten Eltern zu beruhigen und zu beraten. Er führt dann tage- und
oft wochenlange Gespräche, klärt über alle Alternativen vom
"Gar-nichts-tun" bis zu den unterschiedlichen Operationen auf, und
begleitet die Eltern und die Kinder, wenn sie es wünschen, auf dem Weg, den sie
gewählt haben. Was er den Eltern sagt, zeigt uns, wie "normal", wie
menschlich wir zukünftig mit Geschlechtsrollen, besser mit
Geschlechtsidentitäten oder mit "Geschlechtsrollenklischees" umgehen
könnten. Ob weiblich oder männlich wäre dann gar nicht mehr das
allerwichtigste, wichtig wäre nur das Kind in seiner ganz eigenen Art und
Weise.
"Das häufigste ist, dass Eltern erwarten, wenn sie das Kind jetzt in
einer bestimmten Weise erziehen, vielleicht auch operieren, erziehen, dass sich
das Kind in der Form, wie sie sich das vorgestellt haben auch entwickelt und
sich verhält. Das Verhalten wird immer als Indikator dafür genommen, dann
stimmt das mit der sogenannten Identität schon. Da gibt es zig Fälle, wo die
Eltern festgestellt haben, die Kinder tun ihnen aber nicht den Gefallen. Die
Mädchen verhalten sich wie rabaukige Jungen - wie immer die Eltern das interpretieren
- aber das ist nicht mädchenhaft. Und jetzt kommt es drauf an, welches Bild sie
von Jungen und Mädchen haben, und manche haben da ein sehr klares und sehr
striktes Bild. Und dann haben die Eltern einen dicken Konflikt. Und dann kommen
die am Rande des Nervenzusammenbruchs hierher und sagen, wir haben alles falsch
gemacht, wir hätten das natürlich zum Jungen machen müssen. Das Problem war,
und das kann man relativ gut mit den Eltern aufschlüsseln, sie haben einen zu
engen Begriff von dem, was Mädchen ist. Sie brauchen im Grunde genommen nur ihr
Kind als Protagonist auffassen, wenn sie sich auf Mädchen festgelegt haben, und
das kann man nicht mehr so ohne weiteres revidieren - dann müssen sie einfach
nur sehen, dass ihr Begriff zu eng ist, und alles das, was dieses Kind ihnen an
Verhalten zeigt, an Gefühlen, an Sein, an Existenz zeigt, das gehört zu dem
Begriff "Mädchen". Sie definieren, wenn Sie so wollen, immer neu, was
'Mädchen' ist. Und dem müssen sie immer nur folgen. Und das lernt man in diesen
Elternberatungsgesprächen. Und das kann man denen vermitteln. Im Grunde
genommen ist das gar keine Hexerei. Die Eltern sollen das ruhig so denken: die
verhält sich ja, wie ein Junge, dann sollen die ruhig denken, aha, wie ein
Junge, und das gehört zu deren speziellem 'Mädchensein'."
Oder, um noch einen Schritt weiter zu gehen, das gehört dann eben zu deren
ganz speziellem "Menschsein".
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