Mittwoch, 21. Mai 2014

"Sag es keinem anderen" Die Geschichte der Hermaphroditen


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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2013
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Was bin ich? Mann oder Frau?

Bei jedem 200. Baby ist das Geschlecht nicht klar. Oft wird das Problem zu früh durch Operation gelöst. Gegen die Geschlechtsbestimmung per Skalpell regt sich Widerstand – zu Recht?
Als Debbie Hartman 1993 aus der Narkose erwacht, hört sie Stimmen. Sie hat gerade einen Kaiserschnitt hinter sich, und die Ärzte an ihrem Bett sagen so etwas wie »Das Kind: gesund. Junge oder Mädchen: unklar.« Hartman glaubt zu halluzinieren. Aber Untersuchungen ergeben, dass ihr Baby nur einen einzigen Hoden hat und lediglich einen Knubbel, der aussieht wie ein winziger Penis. Eine Scheide oder eine Gebärmutter ist nicht zu finden. Die genetischen Tests fallen noch verwirrender aus: Manche Zellen haben die typisch weiblichen XX-Chromosomen, andere XY-Chromosomen wie bei Jungen und manche ein einzelnes X-Chromosom, das als Turner-Syndrom bei Mädchen bekannt ist und sehr selten auftritt.
Die Mutter, die sich auf die Geburt eines Sohnes gefreut hat, ist schockiert: Welches Geschlecht hat ihr Kind? Ihre Freunde werden gebeten, erst mal keine hellblauen oder rosafarbenen Dinge für das Baby zu schenken – sie sollen lieber nur eine Karte schreiben. Zwei Wochen leben die Hartmans in Ungewissheit, bis die Ärzte entscheiden, dass ihr Kind ein Junge ist.
Doch kaum haben die Eltern ihn Kyle getauft, als er im dritten Lebensmonat wegen eines Leistenbruchs operiert werden muss. Noch während des Eingriffs kommt ein Chirurg ins Wartezimmer und erklärt den Eltern, ihr Sohn sei eine Tochter: Sie hätten verkümmerte Eierstöcke und Eileiter gefunden. Da das Kind noch unter Narkose stehe, solle man die Eierstöcke und den einzelnen Hoden gleich entfernen, denn dieses Gewebe sei anfällig für Krebsgeschwüre. Die verdatterten Eltern willigen ein. Anstelle ihres Sohnes Kyle nehmen sie am Tag darauf eine Tochter Kelli mit nach Hause.
»Diesmal brachten die Freunde rosa Babykleidung mit Rüschen und Schleifchen. Doch ich fühlte mich, als wäre mein Sohn gestorben«, erinnert sich Hartman später. »Zum Glück gab es Kelli.« Schwer nachzuempfinden, in welches seelische Auf und Ab die Eltern durch die Zweigeschlechtlichkeit ihres Neugeborenen getrieben wurden. Und die Leidensgeschichte der drei Hartmans war noch nicht vorbei.
Kyle/Kelli repräsentiert, was Mediziner traditionell als »Hermaphrodit« bezeichnen: ein Mensch mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Der Begriff leitet sich aus der griechischen Mythologie ab: In Ovids »Metamorphosen« umarmt die verliebte Nymphe Salmakis den Hermaphroditos, Sohn von Aphrodite und Hermes, so innig, dass sie mit ihm zu einem zweigeschlechtlichen Wesen verschmilzt. Die Bezeichnung Hermaphrodit wird heute von den Betroffenen als diskriminierend abgelehnt: Sie fühlen sich den »Intersexuellen« zugehörig – Menschen mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen.
Ein Begriff, der auch die »Pseudohermaphroditen« einbezieht: Ihre Keimdrüsen sind eingeschlechtlich – ihre Geschlechtsorgane jedoch sind wie beim entgegengesetzten Geschlecht ausgebildet. Wie es zu intersexuellen Babys kommt, darüber stellt die moderne Medizin Vermutungen an, die nicht allzu weit von Ovid entfernt zu sein scheinen: Zwei Eier werden befruchtet, eines von einem X-, das andere von einem Y-Spermium. Aber statt sich unabhängig voneinander zu Zwillingen zu entwickeln, wachsen die Eizellen zu einem einzelnen Embryo zusammen, so die These.
Echte Hermaphroditen wie Hartmans Baby sind extrem selten, Pseudohermaphroditen kommen häufiger vor. Insgesamt schätzen US-Mediziner, dass bei jedem 200. Baby das Geschlecht nicht eindeutig ist. Rund 30 genetische und hormonelle Konditionen können Intersexualität hervorrufen. Bei manchen Betroffenen ist die Uneindeutigkeit so geringfügig, dass sie ohne Probleme in einer eindeutigen Geschlechterrolle leben. Bei anderen tritt erst in der Pubertät zutage, dass sie anders sind. Manche sind von Geburt an durch eine anatomische Besonderheit gekennzeichnet – einer zu großen Klitoris oder einem zu kleinen Penis. Jedes 2000. Neugeborene weist so gravierende Auffälligkeiten auf, dass es operiert wird, schätzt Anne Fausto-Sterling, Biologie-Professorin an der Brown-Universität in Providence, Rhode Island.
In den USA wird die Intersex-Thematik inzwischen einigermaßen offen diskutiert. Viele Betroffene outen sich und beklagen die frühen operativen Eingriffe, die ihnen die Möglichkeit zur sexuellen Empfindung oft unwiederbringbar genommen haben. In Deutschland sind Intersex-Babys ebenso häufig wie in den USA, doch die öffentliche Debatte darüber steckt noch in den Anfängen. Auch hier wird möglichst schnell nach der Geburt zum Messer gegriffen – in der Hoffnung, dass sich mit der körperlichen »Normalität« auch die mentale einstelle. Jetzt wächst in den USA allmählich der Widerstand: Die Medizin mache es sich mit ihrer gängigen Praxis zu einfach.
Intersexualität ist ein Phänomen, vor dem man gern die Augen verschließt. Dabei wäre eine neue Sichtweise der Geschlechtlichkeit angebracht: »Es gibt, philosophisch betrachtet, nicht zwei Geschlechter auf der Welt«, sagt Fausto-Sterling, »die menschliche Sexualität ist vielmehr ein Kontinuum oder ein Spektrum.« Mediziner kennen viele physische Abnormalitäten, mit denen Babys auf die Welt kommen können. Doch im Gegensatz etwa zur Hasenscharte tritt die Intersexualität in jenem sensiblen Bereich auf, der die Identität eines Menschen bestimmt.
Obwohl das Geschlecht eines Embryos bereits bei der Zeugung feststeht, zeigen sich anatomische Unterschiede erst zwei Monate später. Männliche und weibliche Genitalien wachsen aus denselben Geschlechtsdrüsen (»Gonaden«) heran. Erst ein Signal eines Gens auf dem Y-Chromosom veranlasst die Entwicklung der Gonaden zu Hoden. Fehlt das Signal, entstehen etwas später die Eierstöcke. Aus derselben ursprünglichen Masse bilden sich dann entweder der Penis oder die Klitoris sowie der Hodensack oder die Schamlippen. Wenn die Hormone im Embryo zu stark schwanken oder ein Signal nicht ankommt, entsteht Intersexualität:
- Bei der weiblichen Variante ist ein genetisch weiblicher Fötus im Mutterleib zu vielen Androgenen (männlichen Geschlechtshormonen) ausgesetzt: Eine fruchtbare Frau entsteht, deren Klitoris aber so groß ist, dass sie für einen Penis gehalten werden kann. Die Schamlippen wirken wie ein leerer Hodensack .
- Bei der männlichen Variante ist ein genetisch männlicher Fötus zu wenig Androgenen ausgesetzt. Das Kind kann entweder insgesamt sehr weiblich aussehen, oder es hat ambivalent wirkende Genitalien, etwa einen sehr kleinen Penis. Im Erwachsenenalter sind diese Männer unfruchtbar.
- Das »Androgen-Insensitivitäts-Syndrom« (AIS) ist besonders tückisch: Das Neugeborene wirkt perfekt weiblich, hat aber männliche Chromosomen. Bei diesem Syndrom hält ein Gen auf dem X-Chromosom den Fötus davon ab, auf Testosteron zu reagieren. Menschen mit AIS sind steril – die Vagina ist eine Sackgasse. Sie haben Hoden im Unterleib und keine Gebärmutter, fühlen sich aber ihr Leben lang weiblich. Meist wird AIS erst in der Pubertät festgestellt, wenn sich keine Regelblutung einstellt.
Trotz aller medizinischen Definitionen wirkt die Geschlechtsbestimmung eines Babys recht willkürlich. Die Ärzte handeln nach folgenden medizinischen Konventionen: Nur wenn ein Penis beim Neugeborenen größer als zwei Zentimeter ist und die Harnleiteröffnung vorn hat, geht das Baby als Junge durch; um ein Mädchen handelt es sich nur, wenn die Klitoris kürzer als einen Zentimeter ist. Hat ein Junge einen sehr kleinen Penis, kann er zum Mädchen umbestimmt werden, auch wenn er Hoden besitzt. Insbesondere wenn die Harnwegsöffnung seitlich sitzt, wird er häufig zum Mädchen umoperiert – auch weil ihm das Urinieren im Stehen unmöglich wäre. »Bei der Bestimmung des Geschlechts haben wir es mit viel Sexismus zu tun«, sagt Charlotte Boney, Kinder-Endokrinologin am Rhode-Island-Krankenhaus in Providence.
Die herrschende Praxis erscheint umso willkürlicher, als sie die genetische Präposition völlig außer Acht lässt. Der Genetik-Professor Eric Vilain an der Universität von Kalifornien in Los Angeles untersuchte Maus-Embryonen im Mutterleib, deren Geschlechtsmerkmale noch nicht ausgeprägt waren. Er fand in den Gehirnen 54 verschiedene Gene, die je nach Geschlecht der Maus mehr oder weniger aktiv waren: Das zeigt, dass auch Gene eine wichtige Rolle in der frühen Entwicklung sexueller Identität spielen. Vilain: »Hormone sind nicht allein verantwortlich für das Gefühl, männlich oder weiblich zu sein.«
Bislang wirft die Intersexualität viele Fragen auf: Was überhaupt definiert das Geschlecht eines Menschen – die Chromosomen, das Erscheinungsbild, die Psyche? Und was, wenn diese Merkmale nicht über-einstimmen? Wie kann man ein Geschlecht bestimmen, wenn es keine sicheren Indizien gibt? Und wenn man ein Kind operativ auf ein Geschlecht festlegt, es sich aber später für das andere entscheidet: Was bedeutet dann homo- oder heterosexuell?
In der Medizin gelten Intersex-Geburten als eine Art sozialer Notfall. Die Ärzte wollen das Geschlecht möglichst schnell bestimmen und korrektive Operationen durchführen, um den Eltern die Zeit der Ungewissheit zu verkürzen. Diese müssen natürlich zustimmen – doch meist sind sie so schockiert, dass sie den Vorschlägen der Ärzte folgen, ohne sich in Ruhe zu informieren. Die Zeit hätten sie – denn eine sofortige Operation ist nicht nötig.
Den Wendepunkt der öffentlichen Meinung über die Geschlechtsbestimmung per Skalpell markierte ein berühmter Fall des US-Psychologen John Money. Der empfahl 1965, einen acht Monate alten Jungen, dessen Beschneidung schiefgelaufen war, zu einem Mädchen umzuoperieren und danach mit Hormonen zu behandeln – obwohl er, abgesehen vom verstümmelten Penis, eindeutig männlich war. Als Mädchen namens Brenda schien er ein glückliches Leben zu führen; in Mediziner- und Psychologenkreisen sowie in der Presse galt der Fall als Paradebeispiel dafür, dass die Erziehung alles sei, was die Geschlechtsidentität prägt. Doch vor Kurzem platzte die Bombe: In seiner Autobiografie schildert der operativ verweiblichte Junge, dass er in seiner Kindheit niemals glücklich war. Als junger Erwachsener hat er den Namen David Reimer angenommen, und später versuchte er sogar, die ihm genommenen männlichen Geschlechtsorgane chirurgisch nachbilden zu lassen.
Die Operation vom Jungen zum Mädchen findet weitaus häufiger statt als umgekehrt: »Das ist viel leichter durchzuführen«, sagt Celia Kaye, Pediatrie-Professorin am »University of Texas Health Center« in San Antonio, »doch ob die Operierten zu glücklichen, funktionsfähigen Frauen heranwachsen, sei dahingestellt.« Studien von Professor William Reiner an der Johns-Hopkins-Universität haben gezeigt, dass Jungen, die mit einem Mikropenis auf die Welt kamen, zu Mädchen umoperiert wurden und auch als Mädchen aufwuchsen, später dennoch meist die männliche Geschlechtsidentität wählen.
Max Beck, ein Mann Mitte dreißig aus Atlanta, erinnert sich ungern an seine Kindheit: »Etwas war komisch. Es gab einmal im Jahr die heimlichen Arztbesuche in New York, wo mir zwischen die Beine geguckt wurde. Ich wusste, da war etwas Fürchterliches, über das man nicht spricht.« Erst mit 24 fand Max heraus, was los war: Er war als Junge geboren und dann wegen seines zu kurzen Penis zum Mädchen umoperiert worden: Mit 17 Monaten wurde sein kleiner Phallus zu einer Scheide, aus Max wurde Judy. »Ich kam mir immer vor wie ein Monster, aber mir war nicht klar, dass meine Gefühle mit einer männlichen Geschlechtsidentität zu tun hatten.«
Judy brach ihr Studium ab, heiratete einen Mann und beging später einen Selbstmordversuch. Dann traf sie Tamara und nahm Kontakt zur einer Selbsthilfegruppe auf. »Das rettete mein Leben«, sagt Max. Er begann, Testosteron einzunehmen, und wurde wieder zu einem Mann. Max und Tamara sind heute verheiratet, aber Max ist steril und hat keinen Penis – der wurde ihm als Kind entfernt. Das macht ihn heute wütend: »Wenn du etwas wegschneidest, kannst du es nicht wieder ankleben.«
Doch auch die Operation von Mädchen mit auffälligen Geschlechtsorganen ist problematisch: Manche Kritiker bezeichnen die Verkleinerung einer zu großen Klitoris als Genitalverstümmelung: »Das ist wie eine rituelle Beschneidung«, sagt Angela Lippert aus Peoria in Illinois. Als sie zwölf wurde, begann ihr Körper, der zweifellos weiblich war, sich zu verändern: Die Klitoris wuchs dramatisch. Mehrere Ärzte schlugen eine Operation vor: »Sie erzählten mir, dass meine Eierstöcke sich nicht entwickelt hätten und besser entfernt würden. Doch als ich aus der Narkose aufwachte, fehlte auch meine Klitoris. Aber ich war zu beschämt, um danach zu fragen.«
Der Widerstand gegen den willkürlichen Umgang mit Intersexualität in den USA hat sich in der Intersex Society of North America (ISNA) organisiert. Ihre Gründerin Cheryl Chase ist selbst Betroffene: Sie kam als Junge zur Welt und wurde mit 18 Monaten zum Mädchen erklärt. Damals entfernten die Ärzte den kompletten Penis, der eigentlich ihre Klitoris war. »Sie sagten, dass ich keine Klitoris bräuchte, weil ich ja eine Vagina hätte. Weibliche sexuelle Funktionen waren keinen Pfifferling wert.« Chase lebt heute mit ihrer Partnerin zusammen. Sie tritt dafür ein, dass Ärzte sich zwar wie bislang darum bemühen, Intersex-Babys so schnell wie möglich einem Geschlecht zuzuordnen – aber mit einem operativen Eingriff sollen sie so lange warten, bis die Kinder in die Pubertät kommen und mitentscheiden können: »Wenn eine Person mit doppeldeutigen Geschlechtsorganen später eine Operation will, kann sie eine informierte Entscheidung treffen.«
Dass zur Eile kein Grund besteht, zeigt das Beispiel der Transsexuellen. Sie sehnen sich nach einem Leben im Körper des anderen Geschlechts, kleiden sich entsprechend – und versuchen manchmal im Erwachsenenalter, sich chirurgisch umgestalten zu lassen. Aber bis es dazu kommt, müssen sie mehrere psychologische Gutachten beibringen. Anzeichen, dass es während der Wartezeit zu Identitätsproblemen kommt, sind nicht bekannt. Warum sollte es bei Intersexuellen anders sein? Oft werden die Identitätskrisen durch zu frühe, oft irreversible Eingriffe erst geschaffen.
Auch Debbie Hartman sagt heute, dass sie mit der Operation ihrer intersexuellen Tocher Kelli besser gewartet hätte: »Eltern können ihren Kindern helfen, mit Geschlechtsorganen zu leben, die anders aussehen.« Als Kelli zweieinhalb Jahre alt war, stimmte die Mutter »naiv und uninformiert« einer erneuten Operation zu: Um die Genitalien der weiblichen Norm anzunähern, wurde der kleine Knubbel-Penis entfernt und stattdessen aus Darmgewebe eine Vagina mit Klitoris geformt. Hartman: »Die Ärzte sagten, ich solle sie möglichst jung operieren lassen, damit sie später keine Erinnerung an den Eingriff hat.«
Aber dass Unheimliches mit ihm geschah, spürte das Kind schon früh – auch wenn es noch nicht darüber sprechen konnte. Dreimal am Tag musste die Mutter Kellis neue Vagina mit einem Stab weiten, damit das Narbengewebe die Öffnung nicht wieder verschloss. Dabei wehrte sich die Tochter so sehr, dass ihre Großmutter sich quer über sie legen musste. Und eines Tages kam die bange Frage: »Mama, warum hast du damals immer den Stab in mich hereingesteckt?« Hartman erinnert sich: »Da wusste ich zum ersten Mal, wie sehr Kelli das alles mitgenommen hat.«
Auch drei weitere Operationen schafften das Problem der Geschlechtsidentität nicht aus der Welt. Im Alter von vier Jahren begann Kelli zu fragen, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sei. Mit sechs wollte sie wissen, was ihre Operationsnarben zu bedeuten hätten. Als die Tochter acht war, gab ihre Mutter auf und erklärte ihr alles über ihren Zustand. »Noch heute sagt sie oft, dass sie lieber ein Junge wäre. Sehr wahrscheinlich wird sich Kelli am Ende doch als Mann identifizieren«, sagt Hartman.
Die Mutter ist überzeugt, dass ihre Tochter »nicht nur körperliche, sondern auch seelische Narben« davongetragen hat. Die heute 13-Jährige leidet unter depressiven Schüben und der Konzentrationsschwäche ADHD. Ihre Interessen sind nicht unbedingt geschlechtsspezifisch: Sie bastelt gern mit Ton oder Holz, sie spielt Schlagzeug, Gitarre und Klavier, sie liebt die Backstreet Boys, und sie interessiert sich für Autos und Motoren. Auf die Frage, was sie einmal werden will, antwortet sie: »Vielleicht werde ich ein männlicher Schreiner. Dann werde ich ernster genommen.«

Sind Sie ein Mann oder eine Frau?
Können sie sich vorstellen beides gleichzeitig zu sein?
Das für die meisten von uns so eindeutige Geschlecht gibt meist keinen Anlass zum Zweifel. Was aber wäre, wenn dem vor Testosteron strotzendem männlichen Muskelpaket außer seinem Riesenphallus nun plötzlich zusätzlich große Brüste wüchsen. Oder die von zartester Haut umkleideten makellosen weiblichen Konturen würden beim Blick über den Busen auf ein fleischiges Ding zwischen den Beinen sehen mit einem faltigen Gebilde zweier Kugeln darunter? Dann würde das Geschlecht vermutlich zu einem phantasmagorischen Albtraum.
"Sag es keinem anderen"
Die Geschichte der Hermaphroditen
Von Kirstine Schwenger

Unser Recht kennt nur zwei Geschlechter: Männer und Frauen und Kinder männlichen oder weiblichen Geschlechts. Vor 200 Jahren tauchte im Allgemeinen Preußischen Landrecht noch ein drittes Geschlecht auf - ein "Zwitterparagraf" regelte die Rechte der Hermaphroditen, Menschen die mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen zur Welt kamen. Später wurde der Paragraf gestrichen, Recht und Gesellschaft verlangten Eindeutigkeit. Daran hat sich bis heute nicht viel verändert.

Seit Jahrhunderten werden Hermaphroditen oder Intersexuelle systematisch zum Verschwinden gebracht. Sie passen ganz offensichtlich nicht so recht in die alltägliche Ordnung unserer zweigeschlechtlichen Welt. Im Bereich der Medizin und selten genug in der Psychologie, dort wo Wissenschaftlerinnen und Fachleute es sich erlauben etwas genauer hinzuschauen, sind sie jedoch immer dagewesen, oft sogar überdeutlich sichtbar. Sie, vielmehr noch ihre Geschlechtsteile, wurden gezeichnet, fotografiert, gemessen und beschnitten. Denn wer nicht eindeutig als Mädchen oder Junge zu erkennen ist, soll mit Hilfe der medizinischen Technik männlich oder weiblich werden.

Der römische Dichter Ovid erzählt zu Beginn unserer Zeitrechnung die Sage von Hermaphroditos, dem Sohn der Göttin Aphrodite und dem Gott Hermes. Eine verliebte Nymphe soll ihn als Knaben ins Wasser einer Quelle gezogen haben um sich mit ihm zu vereinen. Sie bat die Götter den Widerstrebenden nie wieder von ihr zu trennen, und ihr Wunsch wurden erhört - der Knabe und sie wurden zu einem Wesen, halb Frau und halb Mann - Ovid nannte ihn Hermaphroditos.
Seither ist die Fabelgestalt ein beliebtes Motiv für Künstler gewesen, aber um 1600 taucht sie in ganz neuen, der Mythologie fremden Zusammenhängen auf. Sie wird zum Gegenstand der Rechtswissenschaft und der Medizin und auch die herrschende Moral schaut missgünstig und ganz genau hin - die Sagengestalt ist in der Wirklichkeit angekommen und verunsichert ihre Mitmenschen.

"Zum Beispiel gibt es ein zum damaligen Zeitpunkt recht intensiv diskutierten Fall des französischen Zimmermädchens Marie le Marcis aus Rouen, das 1601 wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Akte vor Gericht gestellt wurde und in einer Serie von Gutachten wurde ihr am Ende von einem Mediziner bescheinigt, dass es keine Frau sei, sondern eben ein Hermaphrodit mit einem verborgenen Penis. Und dieses Urteil dieses Mediziners hat im Endeffekt diese Frau oder diesen Hermaphroditen, wie auch immer, vor einer recht starken Strafe bewahrt."

Fabian Krämer vom Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, der sich mit der Geschichte der Hermaphroditen beschäftigt hat.

"Woran man gleich dazu geben sollte, dass es zu diesem Zeitpunkt zwei große unterschiedliche Lehrmeinungen gab zum Hermaphroditismus, zwei unterschiedliche Erklärungsmodelle.
Dieser besagte Mediziner Jaques Duval war einem dieser Modelle anhängig, dem hippokratisch-galenischem Erklärungsmodell, demgemäß es Hermaphroditen gäbe, als Mischung der beiden Geschlechter. Diesem Erklärungsmodell gegenüber standen aber Aristoteliker, die sich auf Aristoteles berufend die Meinung vertreten haben, dass es keine Hermaphroditen gibt, sondern lediglich Individuen, die auf den ersten Blick so aussehen wie Hermaphroditen, weil sich eine Verdoppelung der Genitalien zeige, von denen aber jeweils ein Körperteil funktionsunfähig sei.
Also diese verschiedenen Lehrmeinungen waren beide schon ab einem gewissen Zeitpunkt im Mittelalter verfügbar und wurden auch vertreten. Allerdings bekam der Antagonismus zwischen ihnen neue Nahrung dadurch, dass hippokratische Lehrmeinungen im 16.Jahrhundert einen gewissen Auftrieb in Europa erhalten haben, sodass gerade die intensivierte Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Schulen oder Lehrmeinungen auch dazu geführt hat, dass Hermaphroditen noch stärker diskutiert wurden, als im Mittelalter."

Worauf die Wissenschaftler einer Epoche ihr Interesse richten, und vor allen Dingen, wie sie es tun, ist abhängig von wechselnden Moden. Im 16.Jahrhundert haben wir es laut Fabian Krämer offenbar mit dem neugierig staunenden Gelehrten zu tun - auf der Suche nach dem Wunderbaren.

"Für das Auftauchen von Hermaphroditen in dem Sinne, dass sie zunehmend thematisiert wurden um 1600 war auch noch ganz wesentlich, dass in diesem Zeitraum sowohl Naturkundige als auch andere Gelehrte sich zunehmend für die außergewöhnlichen oder seltenen Produktionen der Natur interessierten. Sogenannte Wunder oder sogenannte Monstren - und in diesem Kontext wurden eben auch Hermaphroditen zunehmend thematisiert.

Zunächst einmal hatte man damals einen Naturbegriff, der vom heutigen abweicht. Und zwar hat man die Natur als nicht in ihren Produktionen ganz gleichförmig, als Naturgesetzen unterworfen verstanden, sondern man hat ihr durchaus zugesprochen zu spielen etwa und ganz außergewöhnliche Dinge hervorzubringen. Und diese außergewöhnlichen und seltenen Dinge wurden als besonders wert der Aufmerksamkeit angesehen. In dem Zusammenhang ist auch wichtig, dass das Staunen als Emotion des Naturforschers, als Affekt während der Arbeit, während des Beobachtens eines Gegenstandes nicht abgewertet wurde, sondern zum Selbstbild des Naturkundigen gehörte; das heißt, es hatte einen Wert etwas Bestaunenswertes sich anzusehen und darüber wissenschaftlich zu arbeiten."

Das 18. Jahrhundert gilt als Jahrhundert der Aufklärung. An die Stelle des Staunens und unvoreingenommenen Beschreibens der als vielfältig und launisch empfundenen Natur, tritt die analytische Suche nach eindeutigen Wahrheiten. Den wunderlichen Erscheinungen der Natur sollen die Schleier weggerissen werden - sie verführen ja nur dazu, eigentlich Eindeutiges als schwankend, spielerisch und wechselhaft anzusehen. Im "Licht der Vernunft" sollte Klarheit geschaffen werden - es galt, Ordnung in die Natur zu bringen.

Das waren schlechte Zeiten für uneindeutige Zwitterwesen. Die Wissenschaft, die Medizin konzentrierte sich zunehmend darauf, festzustellen, dass es sich letzten Endes doch um fehlerhafte Männer oder fehlerhafte Frauen handelte. Hermaphroditen - als dritte Möglichkeit - verschwanden, wenn man so will - im Schatten des Lichtes der Aufklärung.

"Die Natur wurde nun nicht mehr als möglicherweise spielend angesehen, als eher durch Gewohnheiten, die sie immer mal wieder auch durchbrach, kategorisiert, sondern vielmehr als eine Natur, die Naturgesetzen starr unterworfen war. Das ist ein ganz wichtiger Faktor. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Veränderung der wissenschaftlichen Sensibilität. Das Staunen und das Vergnügen auch in der Beschäftigung mit außergewöhnlichen Phänomenen wurde zunehmend abgelehnt unter den Intellektuellen, und stattdessen die Skepsis in den Vordergrund gerückt."

Um die verlangten exakten Geschlechtsdiagnosen zu stellen, waren die Mediziner darauf angewiesen, eindeutige Merkmale oder Verhaltensweisen zu erkennen, die sie nur einem Mann oder nur einer Frau zuordnen konnten. Im 18. Jahrhundert wurde die Existenz von oder der Mangel an Hoden zum primären wissenschaftlichen Kriterium der Geschlechtszuordnung. Aber als wolle die Natur doch wieder zum Spielen auffordern, versteckte sie dieses Kriterium bei den Hermaphroditen häufig im Bauchraum und ließ es so klein bleiben, dass es kaum tastbar war. So wurde manche Frau nach dem Tod als "Mann", als "Hodenträger", diagnostiziert.

So sehr sich die Mediziner aber um eindeutige Kriterien für die Diagnose des wahren Geschlechts bemühten, sie mussten allenthalben einräumen, dass sie bei lebenden Hermaphroditen, insbesondere bei Kindern, zu keinem sicheren Urteil gelangen konnten. Trotzdem forderten akademische Ärzte eine medizinische Überwachung des Geschlechtsstatus sowie der Ehetauglichkeit von Hermaphroditen und stellten sich gegenüber Hebammen und Chirurgen als die allein zuständigen Experten dar: Denn jene würden leicht eine falsche Geschlechtszuweisung vornehmen, was zur Folge haben könne, dass sich ein verkannter Scheinzwitter mit einer Person gleichen Geschlechts verheirate. Das ziehe nicht nur gravierende individuelle Probleme nach sich, sondern bedrohe auch die Geschlechter- und die sexuelle Ordnung und unterlaufe den - im 18. Jahrhundert bereits unter bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten thematisierten - Ehezweck der Fortpflanzung.

Die akademisch gebildeten Mediziner standen im 18. Jahrhundert unter einem gewissen Legitimationsdruck. Denn die praktische Arbeit am Patienten verrichteten Bader, Hebammen und Chirurgen. Den praxisfernen Akademikern blieb als Betätigungsfeld und als Einnahmequelle nur die Arbeit an der Universität und der medizinisch-administrative Bereich. Administration und Polizei riefen auch damals schon nach gesetzlichen Regelungen. Und die Juristen benötigten sie um Ehe - und Erbschaftsangelegenheiten zu bearbeiten. Und so tauchte im Preußischen Landrecht von 1794, nicht das erste Mal im deutschsprachigen Raum, aber doch an sehr prominenter Stelle ein "Zwitterparagraph" auf. Hermaphroditos ist angekommen im Preußischen Recht. Bis 1900 sollte er sich dort halten, dann verschwand er wieder spurlos aus den deutschen Gesetzbüchern.

"§19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Eltern, zu welchem Geschlecht sie erzogen werden sollen. §20. Jedoch steht einem solchen Menschen nach zurückgelegtem achtzehnten Jahr, die Wahl frei, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle. §21. Nach dieser Wahl werden seine Rechte künftig beurteilt. §22. Sind aber Rechte eines Dritten von dem Geschlechte eines vermeintlichen Zwitters abhängig, so kann ersterer auf Untersuchung durch Sachverständige antragen. §23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet, auch gegen die Wahl des Zwitters und seiner Eltern."

Um 1900 kommt in der Medizin so etwas auf, wie ein Entwicklungsdenken. Über Jahrhunderte hatten die Gelehrten geglaubt, alles Leben sei wie ein winzig kleiner Kern schon immer in der Welt gewesen und müsse sich nur auseinanderfalten und solange wachsen, bis seine ihm vorherbestimmte Größe erreicht sei. Diese "Präformationslehre" wurde durch den Entwicklungsgedanken abgelöst. Das war etwas völlig Neues, und es hatte mit der Entdeckung der weiblichen Keimdrüsen zu tun. Man hatte endlich herausgefunden, dass es nicht nur Hoden, sondern auch Eierstöcke - weibliche Keimdrüsen - gab - und dass in einem Zeugungsakt verschiedene Stoffe vermischt wurden - und dass aus dieser Mischung Organ für Organ die Lebewesen entstanden.

"Dieser Grundgedanke ist auch für den Hermaphroditismus ganz interessant, weil dann die Hermaphroditen einen neuen Platz bekommen. Und zwar sind sie nicht mehr einfach Männer und Frauen, die von Anfang an missgebildet waren, sondern sie sind jetzt die unterste Stufe dieser Entwicklung hin zu Mann oder Frau. Sie sind das Undifferenzierte, das Indifferente des Geschlechts, während männlich und weiblich die entfalteten Entwicklungsstufen sein sollen. Damit einher geht, dass man doch wieder anfängt über Geschlecht nachzudenken als ein Kontinuum zwischen männlich und weiblich und dem Hermaphroditen in der Mitte, aber nicht nur einfach in der Mitte, nicht gleichberechtigt, sondern als Unterstes."

Ulrike Klöppel vom Institut für Geschichte der Medizin an der Berliner Charite. Sie hat in ihrer Doktorarbeit die Geschichte des medizinischen Umgangs mit dem Hermaphroditismus untersucht.

"Man rückt nicht mehr davon ab, dass Geschlecht etwas ist, was sich aus einem undifferenzierten hin zu einem differenzierten entwickelt, und der Hermaphrodit eine unvollkommene Stufe dabei ist. Das wird eigentlich bis heute so fortgeführt, nur darin wird dann immer unterschiedlich akzentuiert. Da akzentuiert man das Kontinuum, also lückenlose Übergänge zwischen den Geschlechtern, die man auch bei den Menschen, wenn man sie in eine Reihe stellen würde, auch nachweisen könnte, und auf der anderen Seite gibt es Modelle, die sagen nein , das Kontinuum, das stimmt zwar irgendwie, aber man muss darin trotzdem klar abgrenzen: bis dahin geht männlich, und da fängt weiblich an. Und der Hermaphrodit fällt aus diesem Denken immer heraus. Er ist letztendlich dann doch weiblich oder männlich."

Weiblich sollte von nun an jedes Kind sein, dass weibliche Keimdrüsen hatte, ganz egal, wie uneindeutig die Geschlechtsteile aussahen - und männlich einzuordnen waren alle, die Hoden aufzuweisen hatten, auch wenn die versteckt im Bauchraum lagen und kaum tastbar waren. Doch die Wissenschaft und der Fortschritt an Erkenntnissen, den sie brachte, ließ das Fundament, auf dem die Ärzte nun so sicher zu stehen glaubten, rasch wieder einstürzen. Es fanden sich Menschen, die beides hatten, weibliche und männliche Keimdrüsen - und es gab Eierstöcke mit männlichem Hodengewebe und Hoden mit Eierstockgewebe. Der Sexualforscher Magnus Hirschfeld verweist 1919 auf solche "objektiv" diagnostizierten und aufgrund ihrer Seltenheit zur Anschauung präparierten Fälle:

"In der Landauschen Klinik in Berlin kann man absolut einwandfreie Präparate solcher menschlicher Zwitterdrüsen sehen."

"Wissenschaftlich stellt man sich zunehmend die Frage, inwiefern die Entwicklung des Geschlechtskörpers tatsächlich von den Keimdrüsen abhängt, oder ob es nicht in den Anlagen noch vor den Keimdrüsen schon festgelegt ist, wie sich der Geschlechtskörper in seinen Details entwickelt. Später kommt hinzu, dass man sagt, das ist genetisch bedingt, und die genetischen Bestimmungen für die Keimdrüsen und die genetische Bestimmung für den Rest des Körpers können unterschiedlich sein."

Doch nicht nur die Wissenschaftler sind verunsichert durch das, was sie forschend entdecken, auch in der Praxis werden die Ärzte durch Patienten mit uneindeutigen Geschlechtsteilen vor Entscheidungen gestellt, für die sie keine Theorie parat haben.

"Ende des 19. Jahrhunderts ist es so, dass Ärzte Hermaphroditen nur dann zu Gesicht bekommen, wenn sie als erwachsene Menschen zu Ihnen in die Praxis kommen. Diese Menschen leben schon seit Jahrzehnten in einem Geschlecht, kommen mit ihrer Vorstellung dorthin, dass sie sagen, ich möchte heiraten, es stört mich an meinen Genitalien dies und jenes, das soll verändert werden - helfen Sie mir dabei Herr Doktor! Das sind die Fälle, mit denen sie zu tun haben, und das ist auch die zahlungskräftige Klientel. Aus dieser Situation heraus entwickeln Ärzte um 1900 die Vorstellung, dass sie eigentlich gar nicht den Wünschen ihrer Klientel zuwider handeln können. Sie müssen sich danach richten, was ihre Patienten mitbringen an Eigenvorstellungen ihres Geschlechts, und wie sie leben wollen, was auch eine Operation bedeuten kann."

Hermaphroditos ist an einem entscheidenden Punkt angekommen. Er ist sozusagen erwachsen geworden. Aus dem Preußischen Landrecht, das ab 1900 als Bürgerliches Gesetzbuch erscheint, wird er zwar wieder verbannt - "Zwitter - keine Bestimmung" heißt es lapidar in den " Materialien zum BGB", aber zeitgleich mit dem Rauswurf beginnt die Wissenschaft endlich, ihn nicht mehr nur als Objekt ihrer Neugier, ihrer Forscherlust zu schätzen, sondern auch als selbständig handelndes Subjekt anzuerkennen. Magnus Hirschfeld, Direktor des Instituts für Sexualforschung in Berlin beschreibt immer wieder Fälle, bei denen er auf keine Weise eine Entscheidung treffen könne, und diese dann den Betreffenden selbst überlassen müsse.

Das ganz Besondere an Magnus Hirschfelds Gutachten über Hermaphroditen besteht darin, dass er der subjektiv empfundenen Geschlechtszugehörigkeit immer den Vorrang gibt - und sich strikt weigert, den Hermaphroditen gegenüber die besserwisserische Haltung des Fachmannes anzunehmen - er glaubte, dass die äußeren Geschlechtsmerkmale nicht ausschlaggebend waren für die Empfindungen der Menschen, die hilfesuchend zu ihm kamen - und er vermutete, dass die Erklärung für die abweichenden Gefühle seiner Patienten in einem Bereich zu finden waren, der der Medizin noch gänzlich verschlossen war. Er hat das sehr genau und fast poetisch so gesagt:

"Das Geschlecht des Menschen ruht viel mehr in seiner Seele als in seinem Körper, oder, um mich einer medizinischen Ausdrucksweise zu bedienen, viel mehr im Gehirn als in den Genitalien."

Beeinflusst und angeführt von Sexualwissenschaftlern wie Magnus Hirschfeld unterstützten Ärzte nach 1900 zunehmend die Wahlfreiheit der Hermaphroditen in Bezug auf ihr Geschlecht. Mit dem Siegeszug und der weiteren Entwicklung der Vererbungslehre geraten die Hermaphroditen jetzt natürlich auch ins Blickfeld der Biologie und der Genetik. Allerdings trägt auch die Entdeckung der Geschlechtschromosomen nicht dazu bei, sie eindeutig einem der beiden Geschlechter zuzuweisen, und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts müssen die Genetiker feststellen, dass es Menschen gibt, die einen männlichen XY-Chromosomensatz haben und weibliche äußere Geschlechtsteile. XY-Frauen nennen sie sich heute, und wer sie kennt, ist oft überrascht von ihrer weiblichen Schönheit.

Dass die Hermaphroditen während des Nationalsozialismus nicht verstärkt in den Blickwinkel der Eugeniker gerieten, liegt eventuell daran, dass die Theorien eines damals sehr bekannten Genetikers wenig hergaben für ihre Diskriminierung. Richard Goldschmidt entwickelte seine Genetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und der Intersexualität - der Begriff stammt übrigens von ihm - galt sein besonderes Interesse, weil er an Hermaphroditen zeigen konnte, wie seiner Meinung nach eine genetische Geschlechtsbestimmung aussehen könnte. In seinem Modell mussten unterschiedliche Gene zu bestimmten Zeiten zusammentreffen um ein Merkmal zu bestimmen, taten sie das nicht, konnten verschiedene Zwischenstufen entstehen, zu denen er auch die Hermaphroditen zählte.

Goldschmidt war Jude und musste während der Herrschaft der Nationalsozialisten emigrieren. Erstaunlicherweise wurde seine spezielle Genetik weiterhin gepflegt, selbst von gestandenen Anhängern des Systems - aber es gab auch Widerspruch. Es ist aber interessant, dass die Goldschmidtsche Intersexualitätslehre mit ihren Zwischenstufen in dieser Zeit wissenschaftlich weiter aufrechterhalten wurde, obwohl sie keine Handhabe bot, rassenhygienische und eugenische Maßnahmen einzuleiten gegen Menschen, die ganz gewiss nicht den Vorstellungen der Machthaber des Dritten Reichs entsprachen.

Bis zum Beginn der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts bewahrten die Chirurgen im großen und ganzen Ruhe, wenn ein hermaphroditisches Kind geboren wurde. Sie empfahlen abzuwarten, welche Wünsche es in Bezug auf sein Geschlecht nach der Pubertät äußern würde. Operiert wurde meist nur, wenn die Ärzte fürchteten, dass die im Bauchraum lagernden, unvollständigen Keimdrüsen zu Tumoren entarten würden. Oder wenn die Eltern auf den Operationen - meist waren mehrere nötig - bestanden. Es waren übrigens gar nicht so selten die Eltern, die Ärzte zum Eingreifen veranlassten, weil sie fürchteten, dass ihre Kinder verspottet und gemieden würden, und sie waren ganz sicher auch selbst verunsichert und hatten Angst davor tagtäglich mit einem Kind umzugehen, von dem sie nicht wussten ob es ein Junge oder ein Mädchen war.
Obwohl Sexualwissenschaftler und Ärzte inzwischen ahnten, dass das sexuelle Empfinden und die geschlechtliche Identität abweichen konnten vom äußeren Erscheinungsbild, war ihnen unklar, wie und wodurch die sogenannte Psychosexualität eigentlich entstand.

"In dieser Situation wird in Amerika ein Behandlungs- und Forschungsprogramm entwickelt an intersexuellen Menschen und für intersexuelle Kinder, das es so noch nicht gegeben hat. Dort wird das erst Mal empfohlen, frühzeitig zu operieren, weil man glaubt, wenn man den Körper normalisiert, dass dann sich die Psychosexualität möglichst normal, d.h. eindeutig männlich oder eindeutig weiblich entwickeln würde. Dahinter steckte eine Theorie, dass die Psychosexualität durch den Einfluss der Erziehung im Wesentlichen und in zweiter Linie durch das Körperbild geprägt werden würde. Prägung, das war der Einfluss der Erziehung - aber nur in einem bestimmten Zeitraum - in den ersten beiden Lebensjahren."

Endlich scheint es eine Behandlungsalternative zu geben, die von einer schlüssigen Theorie gestützt wird - und die auch den Eltern der Kinder eine quälende Phase der Unsicherheit ersparen soll. Sie wären in der Lage, ihre Kinder zweifelsfrei gemäß der zugewiesenen Rolle zu erziehen - und noch einen Vorteil bot das neue Konzept den Wissenschaftlern: Der frühe Eingriff, der verbunden war mit jahrelanger Beobachtung der Ergebnisse hatte die Qualität eines Experiments. Die Theorie von der psychosexuellen Entwicklung konnte so immer wieder überprüft und eventuell bestätigt werden - ideale Bedingungen für die Wissenschaft, um eine Theorie zu festigen. Solche Experimente gelten als unethisch - hier wurden sie toleriert, weil die Behandlung und darauffolgende Begleitung für unumgänglich gehalten wurde.

Bis weit in die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts blieb das frühe Operieren, gefolgt von immer wiederkehrenden Begutachtungen der Kinder die Regel. Ihre Leidensgeschichten füllen Bände wissenschaftlicher und zunehmend kritischer Veröffentlichungen, und es entbehrt nicht der Ironie, dass die Theorie von der frühkindlichen Prägung nicht nur dazu führte, dass hermaphroditische Kinder schon als Säuglinge operiert wurden, um ihnen frühzeitig eine weibliche oder männliche Geschlechtsrolle zuzuweisen - auch die Frauenbewegung der 1960er-Jahre berief sich auf genau diese Theorie, um zu beweisen, dass kleine Mädchen durch erzieherischen "Geschlechtsrollendrill" in die Frauenrolle gedrängt würden.

"Als Frau wird man nicht geboren - zur Frau wird man gemacht."

Der Sexualforscher John Money vom John Hopkins Hospital in Baltimore, USA war einer der bekanntesten Anhänger der Prägungstheorie. Weltweit bekannt wurde er durch ein Experiment mit einem verstümmelten kleinen Jungen. Sein Name war David Reimer. Im April 1966 wurde in einer kanadischen Klinik, in die seine Eltern ihre eineiigen Zwillinge zur Beschneidung gebracht hatten, sein Penis vollständig verbrannt. Sein Bruder blieb unbeschnitten. David ließen seine Eltern nach langer Beratung mit Dr. Money zu einem Mädchen umoperieren. Ihnen wurde nahegelegt, dem Kind niemals die Wahrheit zu sagen und es als Mädchen aufzuziehen.

David war als Mädchen ein Misserfolg. Weder er selbst noch die anderen Kinder erkannten ihn als Mädchen an - er verbrachte eine quälende Kindheit und ließ sich 1981 mehrmals operieren um wenigstens Teile seiner verlorenen Männlichkeit zurückzugewinnen. 1991 schließlich heiratete er eine Frau und 2004 - mit nicht einmal 40 Jahren - nahm er sich das Leben. Alice Schwarzer führte den Fall 1975, lange vor dem Bekanntwerden der unglücklichen Lebensgeschichte David Reimers, übrigens als Beleg dafür an, dass die Geschlechtsrollen eben nicht natürlich gegeben seien. Moneys Arbeiten gehörten, so Schwarzer zu "den wenigen Ausnahmen" im Feld der Wissenschaft, "die nicht manipulieren, sondern dem aufklärenden Auftrag der Forschung gerecht werden." Ein eindrucksvolles Beispiel für den schnellen Verfall wissenschaftlicher Wahrheiten!
Seit etwa 15 Jahren - ungefähr seit der Zeit, zu der die unglückliche Lebensgeschichte von David Reimer weltweit bekannt wurde, und auch der Glaube an die Macht der Erziehung abflaute - gehen Ärzte wieder sensibler und abwartender mit den Hermaphroditen um. Eltern werden von Anfang an psychologisch beraten, und in den allermeisten Fällen sind die Kinder und Jugendlichen nicht mehr Opfer degradierender Begutachtungen - und es gibt inzwischen wieder viele Kinder, die gar nicht oder erst nach der Pubertät operiert werden, falls sie das wünschen.
Ganz verzichten wollen die Mediziner, und übrigens auch viele Eltern und die Intersexuellen aber nicht auf die korrigierenden Operationen, denn es gibt Untersuchungen, die belegen, dass nicht wenige Intersexuelle mit den medizinischen Behandlungen zufrieden sind, und nicht auf sie hätten verzichten wollen. In diesem Punkt gibt es deutliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den sogenannten Intersex-Aktivisten, die frühzeitige Operationen generell ablehnen und sie als Menschenrechtsverletzungen ansehen.

Der Psychologe Knut Werner Rosen wird in Berlin immer in die Klinik gerufen, wenn ein Kind mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren ist, um die erschreckten Eltern zu beruhigen und zu beraten. Er führt dann tage- und oft wochenlange Gespräche, klärt über alle Alternativen vom "Gar-nichts-tun" bis zu den unterschiedlichen Operationen auf, und begleitet die Eltern und die Kinder, wenn sie es wünschen, auf dem Weg, den sie gewählt haben. Was er den Eltern sagt, zeigt uns, wie "normal", wie menschlich wir zukünftig mit Geschlechtsrollen, besser mit Geschlechtsidentitäten oder mit "Geschlechtsrollenklischees" umgehen könnten. Ob weiblich oder männlich wäre dann gar nicht mehr das allerwichtigste, wichtig wäre nur das Kind in seiner ganz eigenen Art und Weise.

"Das häufigste ist, dass Eltern erwarten, wenn sie das Kind jetzt in einer bestimmten Weise erziehen, vielleicht auch operieren, erziehen, dass sich das Kind in der Form, wie sie sich das vorgestellt haben auch entwickelt und sich verhält. Das Verhalten wird immer als Indikator dafür genommen, dann stimmt das mit der sogenannten Identität schon. Da gibt es zig Fälle, wo die Eltern festgestellt haben, die Kinder tun ihnen aber nicht den Gefallen. Die Mädchen verhalten sich wie rabaukige Jungen - wie immer die Eltern das interpretieren - aber das ist nicht mädchenhaft. Und jetzt kommt es drauf an, welches Bild sie von Jungen und Mädchen haben, und manche haben da ein sehr klares und sehr striktes Bild. Und dann haben die Eltern einen dicken Konflikt. Und dann kommen die am Rande des Nervenzusammenbruchs hierher und sagen, wir haben alles falsch gemacht, wir hätten das natürlich zum Jungen machen müssen. Das Problem war, und das kann man relativ gut mit den Eltern aufschlüsseln, sie haben einen zu engen Begriff von dem, was Mädchen ist. Sie brauchen im Grunde genommen nur ihr Kind als Protagonist auffassen, wenn sie sich auf Mädchen festgelegt haben, und das kann man nicht mehr so ohne weiteres revidieren - dann müssen sie einfach nur sehen, dass ihr Begriff zu eng ist, und alles das, was dieses Kind ihnen an Verhalten zeigt, an Gefühlen, an Sein, an Existenz zeigt, das gehört zu dem Begriff "Mädchen". Sie definieren, wenn Sie so wollen, immer neu, was 'Mädchen' ist. Und dem müssen sie immer nur folgen. Und das lernt man in diesen Elternberatungsgesprächen. Und das kann man denen vermitteln. Im Grunde genommen ist das gar keine Hexerei. Die Eltern sollen das ruhig so denken: die verhält sich ja, wie ein Junge, dann sollen die ruhig denken, aha, wie ein Junge, und das gehört zu deren speziellem 'Mädchensein'."

Oder, um noch einen Schritt weiter zu gehen, das gehört dann eben zu deren ganz speziellem "Menschsein".

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