Mittwoch, 24. September 2014

Röcke trage ich immer noch!

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2014
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Röcke trage ich immer noch

Vor einem halben Jahr habe ich mich entschieden, ab sofort als Mann zu leben. Die Umstellung hat viel Kraft gekostet, meine Bachelorarbeit musste ich aufschieben.
Mann sieht sich im Spiegel von hinten.  Bin ich wirklich ich? 
Robert Langdon steuert zielsicher durch die langen Gänge des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums der Berliner Humboldt-Universität. Eine Hand in der Hosentasche, mit der anderen lässig schlenkernd. Das weiße Hemd strahlt, die blank polierten Schuhe klackern leise auf dem gefliesten Boden. Der Harvard-Professor ist zu Besuch in der Bundeshauptstadt und nutzt die Zeit vor der am Abend beginnenden Konferenz, um sich ein wenig im Bibliotheksbestand umzusehen. Die anderen Bibliotheksbesucher sehen ihn allerdings nicht, den Harvard-Professor. Was sie sehen, ist eine 23-jährige Frau mit kurzen Haaren, Altherrenhemd und Anzugschuhen. Sie sehen mich.

Seit einem halben Jahr habe ich keinen Fuß mehr an die Uni gesetzt. Ich fühle mich immer noch fremd hier, deshalb schlüpfe ich in die Rolle von Robert Langdon, dem Protagonisten der Romane von Dan Brown. Vor etwas mehr als einem halben Jahr folgte einer Kette von Erkenntnissen eine Entscheidung, die mein Leben sehr verändert hat. Um Silvester herum habe ich mich viel mit Gender Studies und Texten über Transidentitäten beschäftigt und auch ein paar Trans*Personen kennengelernt. Vorher hatte ich oft das Gefühl gehabt, die Welt wäre wie verschoben. Beim Austausch mit den Trans*Personen erlebte ich dagegen vom ersten Augenblick an eine erholsame Stimmigkeit und ein Gefühl des Dazugehörens. Gleichzeitig begann ich, mich sehr stark selbst zu hinterfragen und knüpfte dabei an Fragen an, die ich mir schon seit langer Zeit stellte: Warum bin ich eine Frau? Was macht mich zu einer solchen?

Viele Konflikte der Vergangenheit, die mit meinem Geschlecht zu tun hatten, tauchten in geballter Ladung auf und ließen sich nicht länger verdrängen. Ich erinnerte mich zum Beispiel, dass ich als Kind ein seltsames Mädchen gewesen war und sich mein Umfeld des Öfteren über mein nonkonformes Verhalten wunderte. Als Jugendliche habe ich es unter großen Anstrengungen geschafft, mich wie eine Frau zu verhalten. Ich trainierte mir einen leisen und indirekten Sprachgestus an und setzte, nachdem ich stark wegen meiner unsozialen Art kritisiert worden war, alles daran, anderen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. 

Als ich Anfang des Jahres meine Geschlechtszugehörigkeit immer stärker infrage stellte, machte sich meine chronische Sehnenscheidenentzündung wieder bemerkbar. Mein Magen schnürte sich zu, sobald ich mich auch nur in die Nähe eines Computers begab. Ich stand kurz vor meiner Bachelorarbeit, doch jeden Tag verkrampfte ich mich mehr und mehr. Ein psychosomatischer, stechender Schmerz, direkt unter der Lunge, hielt mich ab vom Laufen, Essen, Schlafen, Atmen. Nachdem ich wochenlang im Bett verbracht hatte, fasste ich den Entschluss, mich vom Frau-Sein zu verabschieden und als Mann zu leben. Ein großer Stein viel mir vom Herzen. Ich konnte mich endlich entspannen.

Die Neupositionierung ging jedoch stark an meine Grundfesten und war so kräfteraubend, dass mir kaum noch Energie für Anderes blieb. Nur mit großer Anstrengung konnte ich die nötigsten Dinge des Alltags bewältigen. Joggen gehen, eine E-Mail schreiben, Essen kochen. Manchmal gelang es mir nicht einmal, aus dem Haus zu gehen.
Jahrelang hatte ich versucht, das Verhalten von Frauen zu imitieren
Ich distanzierte mich immer heftiger von meiner weiblichen Sozialisation und meinem bürgerlichen Vornamen. Freundinnen und Freunde vermieden bereits, mich bei meinem Vornamen zu nennen. Eine Zeit lang schwebte ich namenlos zwischen den Welten. Bis zu jenem Tag, an dem ich mir selbst einen neuen Namen gab. Ich hatte das Gefühl, neugeboren zu sein, beziehungsweise zurückversetzt zu sein in eine Zeit, als ich noch ein kleiner Junge war. Es kam mir so vor, als würde ich wie im Zeitraffer zum Skateboard fahrenden Jugendlichen heranwachsen. Meine Mimik, die seit Jahren verkrampft war von angestrengten Versuchen, das Verhalten von Frauen zu imitieren, entspannte sich allmählich. Allerdings sprachen mich zu Beginn noch viele Personen meines Umfelds wechselnd mit neuem und altem Namen an, was nicht gerade förderlich dafür war, ein Selbstbewusstsein für meine neu gewählte Identität zu schöpfen.

Ein ganzes Semester habe ich gebraucht, bis ich meinen Alltag wieder normal bestreiten konnte. Glücklicherweise konnte ich mein Umfeld von Anfang an in den Transitionsprozess miteinbeziehen. Mir war es wichtig, Familie und Freundeskreis sofort einzuweihen, damit sie die Entwicklungen nachvollziehen können. Ich bin der Ansicht, dass die Akzeptanz des Umfelds für die neue Identität besonders wichtig ist, da das Gefühl für sich selbst in Interaktionsprozessen entsteht.

Mittlerweile nennt mich niemand mehr bei meinem alten Namen, recht selten fällt noch das weibliche Pronomen. Manchmal irritiert mich das, ich beginne jedoch, mich daran zu gewöhnen. Freundinnen und Freunde sagen mir, ich habe mich kaum verändert. Ausgeglichener und sicherer würde ich wirken, weniger unruhig. Sie sagen auch, dass sie mich heute wie in einem anderen Licht sehen. Vieles, was sie früher irritiert habe, wie zum Beispiel die Art und Weise, wie ich Menschen begrüße, würde nun Sinn ergeben.

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Im nächsten Semester werde ich endlich wieder Vorlesungen besuchen können. Meine Professorinnen und Professoren habe ich schon schriftlich von der Namensänderung in Kenntnis gesetzt, woraufhin ich sehr freundliche, mit dem korrekten Pronomen betitelte Antworten erhalten habe. Mein Institut ist recht überschaubar, deshalb wurde ich bei meinen kurzen Abstechern dort bereits mit dem neuen Namen angesprochen. Ein paar hatten die Änderung bei Facebook gesehen und weitererzählt.

Voller Vorfreude schwinge ich mich nun täglich auf mein Rad und sause zur Uni. In der Bibliothek feiere ich jeden Gang zur Herrentoilette als Erfolgserlebnis. Ich bin froh über die Entscheidung zur Neudefinition. Viele alltägliche Situationen sind heute für mich leichter zu bewältigen, weil ich weiß, wer ich bin und wie ich mich verhalten möchte. Ich habe das Gefühl, ich will erwachsen werden und einen Platz in der Gesellschaft finden. Geschlechtsangeleichende Maßnahmen habe ich nicht in Planung, da ich meinen Körper so mag, wie er ist. Ich trage gelegentlich auch nach wie vor Röcke, weil es sich meiner Meinung nach nicht ausschließt, sich wie eine Frau zu kleiden, wenn man ein Mann ist.

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