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Mann, Frau oder raus: Die deutsche Gesellschaft kennt nur zwei Geschlechter. Wer nicht in dieses Raster passt, wird ausgegrenzt. Es wird Zeit, dass sich das ändert
Geschlecht hat, auch
bei uns in Deutschland, in erster Linie einen kulturellen und sozialen
Stellenwert, der sich auch in unserer Rechtsordnung niederschlägt.
Es scheint also ein "begründetes" Interesse der
Gesellschaft zu geben welches Geschlecht ein Mensch hat. Dem gegenüber hat das
Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 15. August 1996 (Az. 2 BvR
1833/95) festgestellt:
Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen in der
Individualität, in der er sich selbst begreift. Dieser Verfassungsgrundwert
gewährleistet zugleich in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG die Freiheit des
Individuums, sich seinen Fähigkeiten und Kräften entsprechend zu entfalten. Aus
der Achtung der Menschenwürde und dem Grundrecht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit folgt das Gebot, den Personenstand des Menschen dem Geschlecht
zuzuordnen, dem er nach seiner psychischen und physischen Konstitution zugehört.
Die Frage welchem Geschlecht sich ein Mensch zugehörig empfindet, betrifft
dabei seinen Sexualbereich, den das GG als Teil der Privatsphäre unter den
verfassungsrechtlichen Schutz der Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG
gestellt hat. Jedermann kann daher von den staatlichen Organen die Achtung
dieses Bereiches verlangen. Das schließt die Pflicht ein, die individuelle
Entscheidung eines Menschen über seine Geschlechtszugehörigkeit zu
respektieren.
Diese Aussage des Bundesverfassungsgerichtes sagt nicht was
Geschlecht ist, sondern sie sagt im Gegenteil, dass jeder Einzelne, seiner
psychischen und physischen Konstitution entsprechend, das Recht zur
individuellen Entscheidung hat. Die Grundsatzaussage lässt es offen, ob es zwei
Geschlechter gibt oder mehr. Von den meisten Medizinern, Psychologen,
Soziologen und Juristen wird aber stillschweigend unterstellt es würde sich
dabei nur um die Geschlechter männlich und weiblich handeln. Diese Verengung
bedeutet aber nach dem Urteil eindeutig einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (und weitere Bestimmungen des Grundgesetzes).
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau H...,
gegen a)
|
den Beschluss des
Oberlandesgerichts Stuttgart vom 19. Juli 2011 - 8 W 206/11 -,
|
b)
|
die Anrede und Adressierung im
Schreiben des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20. Juli 2011 - 8 W 206/11 -
|
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Paulus
und die Richterin Britz
Paulus
und die Richterin Britz
am 27. Oktober 2011 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des
Oberlandesgerichts Stuttgart vom 19. Juli 2011 - 8 W 206/11 - und die Anrede
und Adressierung im Schreiben des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20. Juli
2011 verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz
1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 19. Juli 2011 - 8 W 206/11 - wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 19. Juli 2011 - 8 W 206/11 - wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen.
2. Das Land
Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im
Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen
die Aussetzung ihres Verfahrens auf Änderung des Personenstandes nach dem
Transsexuellengesetz (TSG).
1. Die Beschwerdeführerin wurde gemäß
ihren äußeren Geschlechtsmerkmalen bei ihrer Geburt dem männlichen Geschlecht
zugeordnet. Mit inzwischen rechtskräftigem Beschluss wurde ihr Vorname gemäß
§ 1 TSG in „Rosi“ geändert. Nach dem Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2011 - 1 BvR 3295/07 - beantragte
die Beschwerdeführerin beim Amtsgericht Stuttgart die Änderung ihres
Personenstandes in „weiblich“. Einer geschlechtsangleichenden Operation hat
sich die Beschwerdeführerin nicht unterzogen. Sie lebt seit eineinhalb Jahren
im Familien- und Freundeskreis vollständig als Frau und unterzieht sich seit etwa
einem Jahr einer gegengeschlechtlichen Hormontherapie.
a) Das Amtsgericht Stuttgart hat das
Verfahren mit Beschluss vom 23. Mai 2011 - F 4 UR III 571/2011 TSG -
gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 FamFG ausgesetzt bis der Gesetzgeber geregelt
habe, ob und welche über § 1 TSG hinausgehenden Voraussetzungen zur
Änderung des Personenstandes erforderlich sein sollen. § 8 Abs. 1 Nr. 3
und 4 TSG seien durch das Bundesverfassungsgericht für mit dem Grundgesetz
unvereinbar und für nicht anwendbar erklärt worden. Anhängige Verfahren, bei
denen die Entscheidung von dem verfassungswidrigen Normteil abhänge, seien bis
zum Erlass des neuen Rechts auszusetzen. Gegenteiliges sei allenfalls dann
anzunehmen, wenn das Bundesverfassungsgericht eine konkrete Übergangsregelung
getroffen hätte, was jedoch nicht der Fall sei.
b) Mit Schreiben vom 30. Mai 2011 erhob
die Beschwerdeführerin Beschwerde, der das Amtsgericht nicht abhalf.
Das Oberlandesgericht Stuttgart hat mit
Beschluss vom 19. Juli 2011 - 8 W 206/11 - die Beschwerde unter Verweis
auf die „ausführliche und in jeder Hinsicht zutreffende“ Entscheidung des
Amtsgerichts und unter Bezeichnung der Beschwerdeführerin als
„Antragsteller/Beschwerdeführer“ zurückgewiesen. Die Verwendung der männlichen
Anrede und die Verwendung des Begriffs „Antragsteller“ seien richtig, so lange
„der Beschwerdeführer“ „seinen“ Personenstand nicht geändert habe. Das
Schreiben des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20 Juli 2011, mit dem der
Beschluss übermittelt wurde, war an „Herrn Rosi H.“ adressiert.
2. In ihrer Verfassungsbeschwerde rügt
die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Eine Gesetzesänderung sei in absehbarer
Zeit nicht zu erwarten, so dass die Entscheidung auf eine Verweigerung der
Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinauslaufe. Es werde
den Betroffenen auf absehbare Zeit verweigert, Anerkennung im empfundenen
Geschlecht zu finden und so bewusst die Integration von Transsexuellen in die
Gesellschaft verhindert.
Überdies verletzten die briefliche
Anrede als „Sehr geehrter Herr H.“, die Bezeichnung als „Antragsteller“,
„Beschwerdeführer“ und die Adressierung von Briefen an „Herrn Rosi H.“ die
Beschwerdeführerin in ihrer Integrität und Würde. Das Verfahren zur Änderung
des Vornamens sei abgeschlossen. Die Verwendung der männlichen Anrede trotz
ihres weiblichen Vornamens und ihres Auftretens als Frau komme einem
unfreiwilligen Outing, beispielsweise gegenüber dem Postboten, gleich.
3. Dem Land Baden-Württemberg wurde
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, die jedoch nicht wahrgenommen wurde.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß
§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung anzunehmen, weil
dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin geboten ist. Die
Kammer ist für diese Entscheidung zuständig, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen
Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die
zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1
Satz 1 BVerfGG).
1. Die Aussetzung des Verfahrens der
Beschwerdeführerin zur Änderung des Personenstandes verletzt sie in ihrem
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG,
weil dies die rechtliche Anerkennung ihres empfundenen Geschlechts rechtswidrig
verzögert.
Transsexuelle haben einen
verfassungsrechtlichen Anspruch auf die rechtliche Anerkennung ihres
empfundenen Geschlechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1
Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat § 8 Abs. 1 Nr. 3 und
4 TSG für mit diesem Grundrecht unvereinbar und lediglich diese Voraussetzungen
bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber für unanwendbar erklärt
(Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2011 - 1 BvR 3295/07 -,
juris). Eine Aussetzung laufender Verfahren zur Änderung des Personenstandes
war danach nicht angezeigt. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist
darauf gerichtet, Betroffenen, die die Voraussetzungen von § 8 Abs. 1
Nr. 3 und 4 TSG nicht erfüllen, die Änderung des Personenstandes unabhängig von
diesen mit dem Grundgesetz unvereinbaren Voraussetzungen auch vor einer nicht
absehbaren Neuregelung durch den Gesetzgeber zu ermöglichen. Dass infolge der
Nichtanwendbarkeit von § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG jedenfalls bis zu einer
neuen gesetzlichen Regelung Vornamens- und Personenstandsänderung unter den
gleichen Voraussetzungen möglich sind (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 1 TSG), ist
hinzunehmen.
2. Die Beschwerdeführerin wurde auch
durch die in dem angegriffenen Schreiben des Oberlandesgerichts verwendete
Anrede und Adressierung „Herr Rosi H.“ und die Bezeichnung als „Antragsteller“
und „Beschwerdeführer“ in ihren Grundrechten verletzt.
Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 GG folgt, dass Transsexuelle nach vollzogener
Vornamensänderung entsprechend ihrem neuen Rollenverständnis anzureden und
anzuschreiben sind. Die Achtung vor der in § 1 TSG vorgesehenen
Rollenentscheidung verlangt, eine Person ihrem in der rechtswirksamen Änderung
des Vornamens zum Ausdruck gebrachten Selbstverständnis entsprechend anzureden
und anzuschreiben (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15.
August 1996 - 2 BvR 1833/95 -, NJW 1997, S. 1632 <1633>). Hiergegen hat
das Oberlandesgericht verstoßen.
Von einer weiteren Begründung wird
abgesehen.
3. Die Entscheidung über die Aufhebung
und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG.
4. Die Entscheidung über die
Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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