Montag, 26. Oktober 2015

INTERSEXUALITÄT : Die Neudefinition des Geschlechts Immer mehr Studien zeigen: Unsere Vorstellung von zwei Geschlechtern ist allzu simpel - nicht nur aus anatomischer, sondern auch aus genetischer Sicht.

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INTERSEXUALITÄT:Die Neudefinition des Geschlechts

Immer mehr Studien zeigen: Unsere Vorstellung von zwei Geschlechtern ist allzu simpel - nicht nur aus anatomischer, sondern auch aus genetischer Sicht.
Als klinischer Genetiker ist Paul James daran gewöhnt, mit seinen Patienten die heikelsten Themen zu besprechen. Doch Anfang 2010 hatte er ein Gespräch, das selbst für ihn nicht ganz einfach war.
Eine 46-jährige werdende Mutter kam zu ihm in das Royal Melbourne Hospital in Australien und wollte das Ergebnis der Amniozentese erfahren, mit der die Chromosomen ihres Babys auf Fehler untersucht worden waren. Das Baby war gesund – aber über die Mutter selbst hatte sich Erstaunliches ergeben: Ihr Körper bestand aus Zellen zweier Individuen, möglicherweise weil Zwillingsembryos in der Gebärmutter ihrer Mutter zu einem Embryo verschmolzen waren. Das war aber noch nicht alles. Ein Teil ihrer Zellen trug zwei X-Chromosomen, also jene Erbträger, die normalerweise eine Person zur Frau machen. Andere Zellen dagegen hatten ein X- und ein Y-Chromosom, und so erfuhr sie im Alter von 46 Jahren und mit ihrem dritten Kind schwanger, dass ein Großteil ihres Körpers eigentlich dem Geschlecht nach männlich war [1]. "Für die Frau, die nur das Ergebnis der Amniozentese abholen wollte, muss sich das nach Sciencefiction angehört haben", erzählt James.
Die Frage nach dem Geschlecht eines Lebewesens kann viel komplizierter sein, als man zuerst meint. Auf den ersten Blick ist die An- oder Abwesenheit des Y-Chromosoms ausschlaggebend: mit Y heißt männlich, ohne heißt weiblich. Aber Medizinern ist schon lange bewusst, dass bei so manchem die Grenzen verschwimmen, wenn die Geschlechtschromosomen das eine sagen und die Keimdrüsen (Eierstöcke und Hoden) oder anderen Geschlechtsmerkmale etwas anderes. Eltern von Kindern mit Besonderheiten und Störungen der Geschlechtsentwicklung, auch DSD für "disorders of sexual development", Intersexualität oder Sexualdifferenzierungsstörungen genannt, sehen sich oft der schwierigen Entscheidung gegenüber, ob sie ihr Kind als Junge oder als Mädchen aufziehen sollen. Laut Spezialisten hat sogar jeder Tausendste eine Form von DSD [2].
Betrachtet man die Genetik, verschwimmt die Grenze zwischen den Geschlechtern noch mehr. Wissenschaftler haben viele der Gene identifiziert, die an den Hauptformen von DSD beteiligt sind und auf subtile Weise die Anatomie und Physiologie des Einzelnen beeinflussen. Neue Techniken der DNA-Sequenzierung und Zellbiologie machten deutlich, dass fast jeder von uns zu einem gewissen Grad aus verschiedenen Zellen besteht, gleichsam wie ein Patchwork. Dabei haben manche unserer Zellen ein Geschlecht, das zum Rest des Körpers eigentlich nicht passt. Auch das Verhalten einer Zelle scheint über komplexe molekulare Systeme von seinem Geschlecht beeinflusst zu werden. "Es gibt eine wesentlich größere Vielfalt der Geschlechter als nur das der Männer und das der Frauen; und es gibt sicherlich Betroffene, die sich in unserem binären System nicht ausreichend definiert sehen", sagt John Achermann, der zu den Themen Geschlechtsentwicklung und Endokrinologie am University College London's Institute of Child Health forscht.
Die Bandbreite der Geschlechter
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Ein typischer Mann hat ein X- und ein Y-Chromosom (XY), eine typische Frau hat zwei X-Chromosomen (XX). Auf Grund genetischer Variationen oder zufälliger Ereignisse in der Entwicklung passen manche Mitmenschen nicht genau in diese Kategorien. So stimmen bei Menschen mit Besonderheiten und Störungen der Geschlechtsentwicklung (DSD für "disorders of sexual development") die Geschlechtschromosomen nicht mit der Anatomie der Geschlechtsteile überein.
Diese neuen Erkenntnisse passen nicht so recht in eine Welt, in der es nur zwei Geschlechter gibt. Nur wenige Rechtssysteme erlauben Mehrdeutigkeiten beim biologischen Geschlecht, und Rechtsansprüche sowie sozialer Status einer Person sind stark davon beeinflusst, ob in der Geburtsurkunde männlich oder weiblich vermerkt ist.
"Das Hauptproblem bei einer starken Dichotomie ist immer die Mitte, wo sich die Übergänge nach und nach verschieben und wir nun bestimmen müssen, wo genau die Grenze zwischen Mann und Frau liegt", meint Arthur Arnold, der biologische Geschlechtsunterschiede untersucht. "Das ist aber sehr schwierig, weil man das Geschlecht auf verschiedenste Weise definieren kann."

Was definiert das Geschlecht?

Dass sich Mann und Frau rein physisch unterscheiden, ist klar. Aber am Anfang ihres Lebens ist das noch ganz anders. In den ersten fünf Wochen kann sich der Embryo in Richtung männlicher oder weiblicher Anatomie entwickeln. So entstehen seitlich der Nieren zwei Genitalleisten und zwei Paar Gänge, von denen einer die weibliche Gebärmutter und Eileiter bilden kann und der andere die Anhangsgebilde der männlichen Genitalien, nämlich Nebenhoden, Vas deferens und Samenblasen. Nach sechs Wochen fällt dann die Entscheidung für den weiteren Entwicklungsweg: Eierstöcke oder Hoden. Kommt es zur Entwicklung von Hoden, setzen diese Testosteron frei, das die Ausbildung männlicher Samengänge unterstützt. Dazu werden weitere Hormone gebildet, welche die potenzielle Gebärmutter und die Eileiter schrumpfen lassen. Wenn die Gonaden sich aber in Richtung Eierstock entwickeln, sezernieren diese Östrogene, und der Mangel an Testosteron lässt die männlichen Anlagen schwinden. Die Sexualhormone steuern auch die Entwicklung der äußeren Genitalien und spielen insbesondere in der Pubertät bei der Entstehung der sekundären Geschlechtsmerkmale wie Brustdrüsen und Barthaare eine wichtige Rolle.
Jegliche Änderung in diesem Entwicklungsprozess kann einen dramatischen Einfluss auf das Geschlecht des Menschen haben. Genmutationen im Rahmen der Gonadenentwicklung können dazu führen, dass sich trotz XY-Chromosomen weibliche Merkmale entwickeln, und Veränderungen im Hormonsystem können die männliche Entwicklungslinie einleiten, obwohl XX-Chromosomen vorliegen.
Chirurgen entdeckten eine Gebärmutter bei dem Mann – er war bereits 70 Jahre alt
Viele Jahre lang glaubten Wissenschaftler, dass die Entwicklung zur Frau eine Art "Default" in der Geschlechterentstehung ist und erst durch das Vorhandensein bestimmter Gene auf dem Y-Chromosom aktiv auf die männliche Entwicklung umgeschaltet wird. Im Jahr 1990 machten Wissenschaftler mit der Entschlüsselung eines Gens Schlagzeilen, das sie SRY nannten [3,4]. Das Gen allein bewirkt, dass aus den Gonaden Hoden statt der Eierstöcke entstehen. So entwickelt sich ein Mann, wenn zwar XX-Chromosomen vorliegen, aber zusätzlich ein Fragment aus dem Y-Chromosom mit dem Gen SRY vorhanden ist.
Die Ansicht von der "Voreinstellung" des weiblichen Geschlechts geriet schon vor etwa 15 Jahren ins Wanken, als Gene wie WNT-4 entdeckt wurden, die aktiv die Entwicklung von Eierstöcken unterstützen und das testikuläre Programm unterdrücken. Menschen mit XY-Chromosomen und zusätzlichen Kopien des WNT-4-Gens haben atypische Genitalien und Gonaden mit rudimentärer Gebärmutter und Eileitern [5]. Auch das Gen RSPO1 ist an der Entwicklung der Eileiter beteiligt.Wie Forscher im Jahr 2011 zeigen konnten [6], führt ein fehlerhaft funktionierendes RSPO1-Gen bei Menschen mit XX-Chromosomen zur Ausbildung eines Ovotestis, also einer Mischung aus ovarialem (Eierstock-) und testikulärem (Hoden-)Gewebe.
Die neuen Erkenntnisse zeugen von komplizierten Abläufen in der Geschlechtsentwicklung, bei der zwei unterschiedliche genetische Regulationsnetze im Wettstreit miteinander stehen. Die Veränderung der Aktivität oder der Menge an Molekülen wie WNT-4 kann die Balance ins Kippen bringen und zu einem Geschlecht führen, das allein die Chromosomen so nicht vermuten lassen. "In gewisser Weise hat es unsere Sichtweise auf das Geschlecht verändert, und wir sehen die Entwicklung inzwischen mehr als Balanceakt", erklärt Eric Vilain, der Mediziner und Direktor des Center for Gender-Based Biology an der University of California in Los Angeles. "Das ist natürlich eher eine systembiologische Sichtweise."
Karyogramm
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Neben den 22 Chromosomenpaaren besitzen Männer ein X- und ein Y-Chromosom (XY, rechts), Frauen dagegen zwei X-Chromosomen (XX). Auf Grund einer Chromosomenanomalie kann es jedoch vorkommen, dass Menschen nur ein X-Chromosom aufweisen (X0) oder beispielsweise die Kombination XXY tragen.

Kampf der Geschlechter

Laut einigen Wissenschaftlern kann sich das Geschlecht lange Zeit nach Abschluss der eigentlichen Entwicklung auch wieder ändern. Nach Untersuchungen an Mäusen taumeln die Gonaden sogar ihr ganzes Leben lang zwischen männlich und weiblich hin und her. In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2009 berichteten Wissenschaftler über die Inaktivierung des Gens Foxl2 in erwachsenen weiblichen Mäusen [7] und wie sich hierdurch die Granulosazellen, die eigentlich die Entwicklung von Eiern unterstützen, in Sertolizellen umwandelten und die Spermienentwicklung einleiteten. Zwei Jahre später zeigte ein anderes Forschungsteam die umgekehrte Reaktion, indem sie das Gen Dmrt1 inaktivierten und damit die Transformation von testikulären Zellen in ovariale Zellen erreichten [8]. "Die Weiterentwicklung nach der Geburt war für uns ein großer Schock", erinnert sich Vincent Harley, der als Genetiker am MIMR-PHI Institute for Medical Research in Melbourne die Entwicklung der Gonaden untersucht.
Aber es gibt auch noch andere Ursachen für die Variationen in der Geschlechtsausbildung. Eine ganze Reihe von DSDs wird durch Veränderungen von Hormonsignalen der Gonaden und anderer Drüsen ausgelöst. Bei kompletter Androgenresistenz (CAIS) reagieren die Zellen nicht auf männliche Sexualhormone, meist weil die Funktion der Hormonrezeptoren gestört ist. Betroffene mit CAIS haben zwar ein Y-Chromosom und innen liegende Hoden, ihre äußeren Geschlechtsorgane sind aber weiblich, und sie entwickeln sich in der Pubertät zur Frau.
Die medizinische Definition von DSD (disorders of sexual development), beschreibt Besonderheiten und Störungen der Geschlechtsentwicklung, bei denen das anatomische Geschlecht einer Person nicht mit dem Geschlecht seiner Chromosomen und seiner Gonaden übereinzustimmen scheint – diese Bedingungen sind selten, und nur etwa einer von 4500 Menschen ist betroffen [9]. Manche Wissenschaftler plädieren aber inzwischen auch dafür, die Definition zu erweitern und subtile anatomische Variationen einzuschließen, wie zum Beispiel eine leichte Hypospadie, bei der die Mündung der Harnröhre auf der Unterseite des Penis liegt und nicht an seiner Spitze. Wenn man alle diese möglichen Variationen betrachtet, zeigt jeder Hundertste eine Form der DSD, hat Vilain errechnet.
Aber das muss lange noch nicht alles sein. Seit den 1990er Jahren haben Forscher mehr als 25 DSD-Gene identifiziert, und Next-Generation-Sequencing hat in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Varianten aufgedeckt, die zu individuellen Unterschieden führen und nicht unbedingt als DSD anzusehen sind. "Aus biologischer Sicht ist das ein Spektrum", sagt Vilain.
Beim angeborenen androgenitalen Syndrom (CAH, congenital adrenal hyperplasia) beispielsweise produziert der Körper übermäßig viel männliche Geschlechtshormone. Betroffene mit XX-Chromosomen werden mit uneindeutigen Geschlechtsorganen geboren, wie einer vergrößerten Klitoris und mit Schamlippen, die ähnlich wie ein Skrotum verwachsen sind. Die Ursache ist in der Regel ein schwerer Defekt des Enzyms 21-Hydroxylase. Mutationen, die zu einer abgeschwächten, nichtklassischen Form des CAH führen, finden sich bei einer von 1000 Personen. Dabei kann es bei Frauen zu einer eher männlich anmutenden Gesichts- und Körperbehaarung kommen oder zu unregelmäßigen Monatsblutungen sowie Fertilitätsproblemen – es können aber auch keine Symptome auftreten. Derzeit sind viele Forscher vom Gen NR5A1 fasziniert, dessen Variationen unterschiedlichste Effekte verursachen [10], von unterentwickelten Gonaden bis hin zur leichten Hypospadie (angeborene Entwicklungsstörung der Harnröhre) bei Männern und zu vorzeitigen Wechseljahren bei Frauen.
Viele der Varianten werden nie erkannt oder nur, weil sich die Leute wegen Infertilität oder anderer Probleme in Behandlung begeben. 2014 wurde beispielsweise berichtet, dass Chirurgen im Rahmen einer Hernien-Operation bei einem Mann eine Gebärmutter entdeckten [11]. Der Mann war immerhin schon 70 Jahre alt und hatte vier Kinder gezeugt.

Das Geschlecht der Zellen

Beim Geschlecht gibt es keine einfache Dichotomie, zeigen die Studien zu DSD. Noch komplizierter werden die Dinge, wenn man die Zellen des Einzelnen betrachtet. Die allgemeine Annahme, jede Zelle eines Individuums hätte dasselbe Set von Genen, ist schlichtweg falsch. Manche Menschen offenbaren ein genetisches Mosaik: Sie entwickeln sich zwar aus einem einzelnen befruchteten Ei, doch ihre Zellen tragen eine teils unterschiedliche genetische Ausstattung. Eine der Ursachen kann sein, dass die Geschlechtschromosomen in der frühen Entwicklung des Embryos nicht gleichmäßig aufgeteilt werden. So kann die Entwicklung beispielsweise als XY beginnen und dann im Lauf der Zeit in einem Teil der Zellen ein Y-Chromosom verloren gehen. Wenn die meisten Zellen lediglich ein X-Chromosom aufweisen, entsteht eine Frau mit dem Turner-Syndrom, mit kleiner Körpergröße und unterentwickelten Eierstöcken. Diese Art von Mosaik ist zwar selten, betrifft aber doch einen von 15 000 Menschen.
Die Auswirkungen dieser Mosaike können minimal sein oder aber erheblich. Ein paar Fälle sind bekannt, bei denen aus einem Embryo mit XXY-Mosaik ein Mix aus zwei Zelltypen entstand – nämlich XX-Zellen und XXY-Zellen, die sich dann sehr früh in der Entwicklung in zwei Embryos aufteilten [12]. Das Ergebnis waren "eineiige" Zwillinge mit unterschiedlichem Geschlecht.
Ein Mosaik von Zellen mit unterschiedlichen Geschlechtschromosomen kann sich auch anders zeigen: So war James' Patientin eigentlich eine Chimäre. Sie entwickelte sich aus einer Mischung von zwei befruchteten und miteinander verschmolzenen Eiern, die normalerweise Zwillingsembryonen in der Gebärmutter bilden würden. Diese Art von Chimärismus ist aber sehr selten und betrifft nur etwa ein Prozent aller DSD-Fälle.
Eine andere Form des Chimärismus scheint jedoch relativ weit verbreitet zu sein. Der so genannte Mikrochimärismus tritt auf, wenn Stammzellen des Fötus über die Plazenta in den Körper der Mutter gelangen oder umgekehrt Zellen der Mutter in den Fötus wechseln. Das Phänomen wurde schon in den frühen 1970er Jahren entdeckt; die große Überraschung kam aber erst mehr als zwei Jahrzehnte später: Forscher fanden nämlich heraus, wie lange diese Cross-over-Zellen nach ihrem Übertritt überleben können, obwohl sie eigentlich als fremd vom Immunsystem erkannt und eliminiert werden sollten. Schon eine Studie aus dem Jahr 1996 beschrieb, wie im Blut von Müttern mehr als 27 Jahre nach Geburt ihrer Kinder noch fötale Zellen zu finden waren [13]. Eine andere Studie berichtete von Zellen der Mutter, die im Kind bis zum Erwachsenenalter erhalten blieben [14]. Deshalb können Männer Zellen ihrer Mütter in sich bergen und Frauen nach Geburt eines Jungen männliche Zellen in sich tragen, was die Grenzen zwischen den Geschlechtern natürlich weiter verwischt.
Wenn man alle Variationen betrachtet, zeigt jeder Hundertste eine Form der DSD
Mikrochimäre Zellen wurden schon in vielen Geweben entdeckt. Auch die Immunologin Lee Nelson beschrieb im Jahr 2012 mit ihrem Team an der University of Washington in Seattle XY-Zellen in Gehirnproben verstorbener Frauen [15] – die älteste von ihnen wurde 94 Jahre alt. Dabei scheinen die Zellen nicht einfach nur anwesend zu sein, sondern integrieren sich in ihre neue Umgebung und erwerben spezielle Funktionen. So wurde im Mausmodell gezeigt, wie sie Neurone im Gehirn bilden können [16]. Unklar ist aber, wie verstreute XY-Zellen in der Frau oder XX-Zellen im Mann die Gesundheit und Eigenschaften der Gewebe beeinflussen – zum Beispiel die Anfälligkeit für Erkrankungen, die besonders häufig beim jeweils anderen Geschlecht auftreten. "Das ist eine unglaublich wichtige Frage, der bisher nur noch niemand nachgegangen ist", sagt Nelson. Einig sind sich die Wissenschaftler allerdings darüber, dass ein paar mikrochimäre männliche Zellen im Gehirn einer Frau wohl keinen wesentlichen Einfluss auf ihr Verhalten haben sollten.
So langsam wird aber deutlich, dass XX- und XY-Zellen auch unabhängig von Sexualhormonen unterschiedlich reagieren. "Ehrlich gesagt war es für uns überraschend zu sehen, wie groß der Einfluss der Geschlechtschromosomen ist", gesteht Arnold. Mit seinen Kollegen konnte er in Mäusen nachweisen [17], dass die Anzahl der X-Chromosomen den Stoffwechsel der Tiere beeinflusst. Außerdem zeigten Zellkultur-Experimente im Labor [18], wie unterschiedlich XX- und XY-Zellen auf molekularer Ebene arbeiten, beispielsweise bei der Stressantwort des Stoffwechsels. Die nächste Herausforderung bestehe darin, den zu Grunde liegenden Mechanismus aufzudecken. Seine Arbeitsgruppe arbeitet schon länger an verschiedenen X-chromosomalen Genen, die in Frauen aktiver sind als in Männern. "Ich glaube, es gibt viel mehr Unterschiede in den Geschlechtern, als wir kennen", fügt er noch hinzu.

Jenseits des Binärsystems

Biologen haben inzwischen eine sehr differenzierte Sichtweise der Geschlechter – die Gesellschaft muss hier erst noch aufholen. Natürlich haben Aktionen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Aktivisten in den letzten 50 Jahren die Einstellung vieler Bürger zur sexuellen Orientierung und zum Geschlecht gelockert, und in vielen Gesellschaften ist es inzwischen auch akzeptiert, wenn die klassischen Geschlechterrollen in der Mode, der Karriere oder dem Sexualpartner aufgeweicht werden. Beim biologischen Geschlechtsbegriff ist aber nach wie vor das binäre Modell das einzige akzeptierte System.
Dieser gesellschaftliche Druck führt dazu, dass bei DSD oftmals eine chirurgische "Normalisierung" der Geschlechtsorgane durchgeführt wird. Das ist zweifelsohne ein kontroverser Eingriff, weil die Operationen häufig schon im Babyalter erfolgen und die Betroffenen nicht selbst mitentscheiden können. Dem Kind per Zufall ein endgültiges Geschlecht zuzuteilen, bedeutet aber auch, ihm ein Geschlecht aufzupfropfen, für das es vielleicht nie ein Gefühl entwickeln wird. Interessenvertreter von Intersexuellen wollen erreichen, dass Ärzte und Eltern zumindest so lange warten, bis das Kind seine Geschlechtszugehörigkeit mitteilen (normalerweise etwa im Alter von drei Jahren) oder bis es sogar selbst über eine Operation entscheiden kann.
Erneute Diskussionen kamen auf, als im Mai 2013 in South Carolina von den Adoptiveltern des Kindes MC eine Klage eingereicht wurde. MC war mit ovotestikulärer DSD geboren worden, Bedingungen, bei denen sich sowohl ovariales als auch testikuläres Gewebe in den Genitalien und Gonaden entwickelt. Als MC 16 Monate alt war, führten die Ärzte eine Operation durch, bei der das Kind ein weibliches Geschlecht erhielt – der inzwischen achtjährige MC entwickelte sich aber immer mehr in Richtung eines Jungen. Weil sich MC zum Zeitpunkt der Operation unter staatlicher Fürsorge befand, unterstellte die Anklage nicht nur einen Behandlungsfehler, sondern auch Verwehren des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit und Fortpflanzung. Im vergangenen Monat verhinderte ein Gerichtsentscheid, dass es auf Bundesebene zur Verhandlung kommt; die Klage gegen den Bundesstaat läuft aber weiter.
Welche Tür darf es sein?
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Im Grunde stellt schon der einfache Gang auf die Toilette manche Menschen vor die Qual der Wahl: Hinter welchem Türchen fühlt man sich aufgehoben? An immer mehr Örtlichkeiten wird daher auch eine dritte, geschlechtsneutrale Toilette zur Verfügung gestellt.
"Für Kinder mit intersexuellen Merkmalen kann die Entscheidung des Rechtsstreits von großer Tragweite sein", sagt Julie Greenberg, die als Spezialistin für Rechtsangelegenheiten in Sachen Geschlecht und Sexualität an der Thomas Jefferson School of Law in San Diego in Kalifornien arbeitet. Der Fall werde hoffentlich in Zukunft Ärzte von Operationen abhalten, wenn die medizinische Notwendigkeit noch in Frage steht, kommentiert sie den Fall. Vielleicht führt der Rechtsstreit zu einem besseren Verständnis dafür, was "Intersexuelle emotional und körperlich durchmachen, wenn Ärzte ihnen dazu verhelfen wollen, angeblich besser in unsere Gesellschaft zu passen", sagt die Soziologin Georgiann Davis, die mit CAIS geboren wurde und nun an der University of Nevada in Las Vegas an Intersexualität forscht.
Auch wenn Ärzte und Wissenschaftler diese Bedenken sehr wohl nachfühlen können, so zeigt ihnen der Fall doch auch, wie viel wir noch über die biologischen Ursachen des Geschlechts lernen müssen [19]. Nach Ansicht vieler reicht es auch nicht aus, einfach die medizinische Praxis durch gesetzliche Regelungen zu ändern. Stattdessen würden sie gerne mehr darüber wissen, welche langfristigen Auswirkungen die Operationen etwa auf Lebensqualität und Sexualleben der Betroffenen haben. Nur so könne man letztendlich über die jeweils beste Behandlung von Menschen mit DSD entscheiden. Einige solcher Studien haben bereits begonnen.
Früher stellte man die Diagnose DSD anhand von Hormontests, körperlicher Untersuchung und Bildgebung, gefolgt von mühevoller Analyse der einzelnen Gene. Mit Hilfe moderner genetischer Methoden können nun mehrere Gene gleichzeitig analysiert werden, so dass rasch eine genetische Diagnose gestellt werden kann und die betroffenen Familien weniger belastet werden. Eric Vilain setzt bei XY-Patienten mit DSD beispielsweise das "Whole-Exome-Sequencing" ein, bei dem die proteinkodierenden Regionen des gesamten Genoms eines Menschen untersucht werden. 2014 konnte seine Arbeitsgruppe zeigen, dass das Genanalyseverfahren bei 35 Prozent der Studienteilnehmer, bei denen keine genetische Ursache der DSD bekannt war, eine Diagnose mit hoher Wahrscheinlichkeit lieferte 
Nach Meinung von Vilain, Harley und Achermann werden die Ärzte langsam umsichtiger mit Genitaloperationen. DSD-Kinder werden inzwischen von multidisziplinären Teams betreut, um eine maßgeschneiderte Behandlung und Unterstützung sowohl dem Kind selbst als auch seiner Familie anzubieten. In der Regel läuft dies allerdings darauf hinaus, dass ein DSD-Kind entweder als männlich oder als weiblich aufgezogen wird, auch wenn keine Operation erfolgt. Darin sind sich Wissenschaftler und Interessensverbände laut Vilain einig: "Es kann für ein Kind äußerst schwierig sein, mit einem Geschlecht aufzuwachsen, das es in dieser Form gar nicht gibt." In den meisten Ländern ist es rein rechtlich unmöglich, etwas anderes als männlich oder weiblich zu sein.
Doch wenn die Wissenschaft immer wieder verschiedene Varianten der bekannten Geschlechter nachweist, dann müssten sich Staat und Gesellschaft auch mit den Konsequenzen und Definitionen befassen. Viele Transgender- und Intersex-Aktivisten träumen von einer Welt, in der das biologische oder persönliche Geschlecht einer Person irrelevant ist. Wenn auch inzwischen einige Regierungen sich in diese Richtung bewegen, bleibt Greenberg pessimistisch – zumindest was die USA betrifft. "Es wird sicherlich schwierig, die Festlegung der Geschlechter völlig abzuschaffen oder ein drittes undefiniertes Geschlecht durchzusetzen."
Wenn also per Gesetz verlangt wird, dass eine Person männlich oder weiblich ist, sollte das Geschlecht dann anhand der Anatomie, der Hormone, der Zellen oder der Chromosomen bestimmt werden? Und was ist zu tun, wenn die verschiedenen Methoden zu widersprüchlichen Ergebnissen führen? "Ich glaube, es gibt nicht den einen biologischen Parameter, der alles abdeckt. Damit wird letztendlich die Geschlechtsidentität des Einzelnen der sinnvollste Parameter sein", resümiert Vilain. Mit anderen Worten: Wenn Sie wissen wollen, ob jemand männlich oder weiblich ist, scheint es das Beste zu sein, einfach nachzufragen.
Dieser Artikel erschien unter dem Titel "Sex redefined" in Nature 518, S. 288-291, 2015.
Quelltext: http://www.spektrum.de/news/die-neudefinition-des-geschlechts/1335086

Montag, 12. Oktober 2015

What if a child has no clear sex? Then the lies and concealment begins. /// Was ist, wenn ein Kind kein eindeutiges Geschlecht hat? Dann beginnt das Lügen und Verheimlichen.


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Was ist, wenn ein Kind kein eindeutiges Geschlecht hat? Dann beginnt das Lügen und Verheimlichen. Und die große Ratlosigkeit.

"Mit dem Unmöglichen konfrontiert, gab es keine andere Wahl, als es normal zu finden." Jeffrey Eugenides, Middlesex.

llein beim Gedanken daran scheint die Mutter zu frösteln. Sie schlingt die dicke Strickjacke noch enger um den Körper, blickt nach draußen auf das Baumhaus im Garten, schüttelt den Kopf. Nein, sie hat keinen Plan. Vielleicht wird sie weinen. Oder erleichtert sein, dass das Versteckspiel endlich ein Ende hat. Unzählige Male hat sie sich im Kopf auf den Tag vorbereitet, an dem alles auffliegen wird. Hat sich Sätze zurechtgelegt und sogleich wieder verworfen. Morgen, hat sie sich geschworen, morgen wird sie ihrer Tochter endlich die Wahrheit sagen.

Lena. Ihr Name ist wie der ihrer Eltern und der anderen Betroffenen eigentlich ein anderer. Auf dem Familienfoto in der Küche strahlt sie mit ihren beiden jüngeren Brüdern um die Wette. Bildhübsch ist Lena, 19 Jahre alt, blonde, dünne Haare, Pagenschnitt, weißer Lidschatten.

Schon gleich nach der Geburt hat Eva Veitl gespürt, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt. Die Klitoris war ungewöhnlich groß, doch die Ärzte beruhigten sie: "Das kommt von der Geburt und verschwindet von selbst." Aber es verschwand nicht. Ebenso wenig wie die Zweifel der Mutter. Markus Veitl, ein selbständiger Unternehmer, weit über das schwäbische Dorf hinaus bekannt, hat damals gehofft, dass seine Frau endlich Ruhe geben würde. Doch Eva Veitl zog mit Lena von Arzt zu Arzt. "Alles ganz normal", bekam sie überall zu hören. Erst nach acht Monaten testete ein Labor die Chromosomen ihrer Tochter. Der Arzt bestellte die Eltern zu sich. Er sagte nicht viel - nur diesen einen unfassbaren Satz: "Ihre Tochter ist eigentlich ein Sohn."

Intersexualität ist auch in modernen Gesellschaften kaum bekannt. Obwohl Schätzungen davon ausgehen, dass allein in Deutschland 80.000 bis 100.000 Menschen mit nicht eindeutigem Geschlecht leben, bleibt Intersexualität ein medizinisches Faktum, das weitgehend totgeschwiegen wird. Auch der große Erfolg des Romans "Middlesex", in dem der US-Autor Jeffrey Eugenides die Geschichte des Hermaphroditen Cal Stephanides erzählt, hat daran nicht viel verändert.

Nur selten, wie kürzlich im Fall einer Leichtathletin aus Südafrika, dringt das Tabu an die Öffentlichkeit. Caster Semenya war bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin auf der 800-Meter-Strecke schneller als alle anderen Frauen. Auffallend schneller. Sofort fragte sich alle Welt: Wer ist diese Frau ohne Taille, ohne Busen? Hat sie nicht etwas zu viele Muskeln? Und ein zu kantiges, maskulin anmutendes Gesicht?

Semenyas Tränen nach dem Sieg waren bald keine Freudentränen mehr. Nicht genug damit, dass die 18-Jährige bereits vor dem Rennen unwürdige Geschlechtstests über sich ergehen lassen musste. Nach dem Gewinn der Goldmedaille wurde alles noch schlimmer. Konkurrentinnen fühlten sich benachteiligt, weitere Tests folgten. Jetzt, zwei Monate später, weiß Semenya noch immer nicht, ob sie ihren Titel behalten darf. Und der Leichtathletik-Weltverband hat noch immer keine Entscheidung im Fall S. gefällt. Bis auf weiteres vertagt, hieß es auch in dieser Woche.

"Gemischte Gonadendysgenesie" lautete die Diagnose bei Lena Veitl. Aber was nutzte ihren Eltern dieses Wissen? Sie hielten ihr Wunschkind in den Armen, ahnungslos, ratlos, fassungslos. Die junge Mutter, damals Anfang 20, mittlere Beamtenlaufbahn, ging in die Bibliothek, wälzte Fachbücher, befragte Spezialisten, suchte nach anderen Betroffenen. "Aber immer wieder wurde uns gesagt, es gäbe keine anderen Fälle", sagt die heute 41-Jährige. Jahrelang glaubten die Eltern, sie seien mit ihrem Schicksal allein. "Das war das Allerschlimmste."

Damit es anderen Eltern nicht so ergeht wie ihnen, ist Eva Veitl bereit zu erzählen. Sie steht in ihrer säuberlich aufgeräumten Küche im adretten Neubau und wird zornig, wenn sie darüber nachdenkt, was Caster Semenya alles über sich ergehen lassen muss. "Sie ist doch kein Täter, sondern selbst ein Opfer", sagt sie. Menschen wie Eva Veitl wissen, dass in vielen Fällen die Betroffenen als Letzte von ihrem Schicksal erfahren.

Auch ihre Tochter ahnt bis heute nicht, dass sie anders ist. "Sie können Ihren Sohn weiter als Mädchen erziehen", gab der Arzt den Eltern damals mit auf den Weg. Noch am Abend zerriss Eva Veitl das einzige Foto, auf dem das beunruhigende Genital zu sehen war, warf Holzautos, rote Strampler und grüne Mützchen in den Müll. Sogar der blaue Pulli, ein Geschenk der Oma, flog in die Tonne. Nur Rosa durfte bleiben - als könnte die Kleiderfarbe die Chromosomen verändern. Nächtelang habe sie damals geheult, erzählt Eva Veitl. "Mein Kind ein "Zwidder?" Sie spricht das Wort mit weichem "d". Aber am liebsten nimmt sie es gar nicht in den Mund. "Es klingt so vulgär, so unanständig, so abartig."

Dass die Übergänge zwischen den Geschlechtern fließend sein können, war schon in der Antike bekannt. Menschen zwischen Mann und Frau benannte man nach dem Sohn des Hermes und der Aphrodite, den die Götter mit einer Quellnymphe für ewig verschmolzen hatten. Seither sind Hermaphroditen ein beliebtes Motiv der bildenden Kunst.

Unter dem Begriff Intersexualität verstehen Mediziner verschiedene Störungen der Geschlechtsentwicklung, kurz DSD genannt, "Disorders of Sex Development". Anders als transsexuelle Menschen, die mit ihrem biologisch eindeutigen Geschlecht unzufrieden sind, trägt ein intersexueller Körper sowohl weibliche als auch männliche Anlagen in sich.

Wie ein entgleister Zug

Tatsächlich ist das Männliche eine Variante eines undifferenzierten, aber weiblich ausgerichteten Urprogramms. Damit aus einem Embryo mit einem männlichen Chromosomensatz ein Junge wird, müssen verschiedene hormonelle Schalter umgelegt werden. Die Weichenstellung von Frau auf Mann erfolgt normalerweise von der siebten Schwangerschaftswoche an, wenn männliche Sexualhormone den Embryo überfluten. Daraufhin springen wieder andere Gene an. Sie bewirken, dass Hoden entstehen und keine Eierstöcke, dass keine Gebärmutter wächst, sondern ein Penis.

Doch in etwa einem von 4500 Fällen gerät dieser Fahrplan ins Stocken, zum Beispiel, wenn die Hoden zu wenig männliche Sexualhormone ausschütten oder die Rezeptoren der Körperzellen diese Androgene nicht erkennen. Dann bleibt die Geschlechtsentwicklung einfach stehen, wie ein entgleister Zug. So kann es kommen, dass Neugeborene äußerlich eindeutig männlich oder weiblich erscheinen und dennoch einen davon abweichenden Chromosomensatz haben. In diesen Fällen wird die untypische Geschlechtsentwicklung erst in der Pubertät oder gar noch später entdeckt. In anderen Fällen bildet sich ein nicht eindeutiges Genital. So wie bei Lena.

"Klitoris, 1,7 Zentimeter" ist auf einem der unzähligen Arztbriefe zu lesen - zu viel für ein Mädchen und zu wenig für einen Jungen. Als die Eltern ihr Kind in die Uniklinik Heidelberg bringen, rückt der Professor gleich mit einer ganzen Schar von Assistenzärzten und Studenten an. In dem kleinen Untersuchungsraum drängen sich 15 Menschen in weißen Kitteln um das nackte, heulende Kind. Als Markus Veitl sieht, dass auch seiner Frau die Tränen in den Augen stehen, bricht es aus ihm heraus: "Schluss, alle raus hier!"

Die Ärzte raten den Eltern, dass sie dringend etwas unternehmen müssen. Als Lena 15 Monate alt ist, lassen sie die Klitoris verkürzen. Doch trotz Ballettunterricht, rosa Kleidchen und Barbiepuppen wird Lena kein normales Mädchen. Schon im Kindergarten rauft sie sich mit Jungs, reißt ihren Barbies die Arme aus, will unbedingt ins Fußballtraining. "Ich kann sowieso nie Kinder kriegen", sagt sie eines Tages plötzlich. Da ist sie gerade mal fünf Jahre alt. Ihrer Mutter wird heiß und kalt. Ahnt das Kind etwas?

Die Frage, ob Lena nicht auch als Junge hätte aufwachsen können, hat sich damals nicht gestellt. "It's easier to make a hole than building a pole" (Es ist einfacher ein Loch zu graben, als eine Stange zu bauen) lautete noch in den 90er Jahren die medizinische Maxime. Und dass überhaupt operiert werden musste, stand für viele Experten außer Frage. Mehr als 80 Prozent der betroffenen Erwachsenen haben heute mindestens eine Operation hinter sich. Zu 90 Prozent wurden dabei Mädchen geschaffen.
Der US-Sexualforscher John Money hatte in den 50er Jahren den Grundsatz aufgestellt, man sollte einem intersexuellen Kind sofort ein Erziehungsgeschlecht zuweisen und dann mit dem Skalpell vollendete Tatsachen schaffen - ohne dem Kind davon zu erzählen. Die spektakuläre Geschichte von Bruce schien seine Theorie zu beweisen: Der Junge sollte im Alter von acht Monaten beschnitten werden, doch ein Chirurg verstümmelte versehentlich den Penis. Money riet den Eltern, Bruce als Mädchen aufzuziehen. Noch im Kleinkindalter entfernten Chirurgen die Hoden. Aus Bruce wurde Branda.
ls Lena die Hoden entfernt wurden, war sie sechs. Sie seien zu krebsanfällig, hatten die Ärzte gesagt. Außerdem könnte sonst in der Pubertät doch noch das Männliche durchschlagen. Die Veitls stimmten zu. Vor der Operation suchten sie Rat bei einer Psychologin. Die empfahl: "Sagen Sie Ihrer Tochter, der Blinddarm muss raus." Das war den Eltern zu riskant. Was, wenn Lena später einmal eine Blinddarmentzündung hätte? Also sagten sie ihr, dass etwas mit ihren Eierstöcken nicht stimmte. Das war wenigstens nicht ganz gelogen.

Die Geschichte mit den Eierstöcken war seitdem Erklärung für vieles. Für die häufigen Arztbesuche, für die zunächst ausbleibende Regelblutung, für die Östrogene, die Lena nehmen muss, seit sie zwölf ist. "Heute würde ich der Operation nicht mehr so einfach zustimmen", sagt Eva Veitl. Denn inzwischen ist klar: Viele Frauen mit XY-Chromosomensatz leiden später unter der fehlenden körpereigenen Testosteronproduktion - und unter den Östrogenen, die sie stattdessen schlucken müssen.

Schwer krank durch Östrogene

Kerstin Rau sagt, die Behandlung habe sie schwer krank gemacht. Seit sie 19 ist, hat sie Östrogene geschluckt, vom Hausarzt verschrieben, ohne zu wissen, warum. Nach ein paar Jahren ging die hochgewachsene Frau mit den langen roten Haaren und den Sommersprossen nur noch gebückt, die Bänder taten weh, das blasse Gesicht war aufgeschwollen, die Beine waren voller Wasser.

Es gab Tage, da bekam auch ihr Freund sie nicht aus dem Bett. "Mit Anfang 30 war ich ein Pflegefall", erzählt die 34-Jährige. Dass sie jetzt überhaupt noch am Nachmittag in ihrer Dachgeschosswohnung sitzen und erzählen kann, verdankt sie den kleinen, silbernen Päckchen, die in ihrem Kühlschrank lagern. Jeden Morgen nach dem Duschen schmiert sie sich ein Päckchen auf den Oberarm. 20 Gramm Testosteron-Gel geben ihr Kraft für den Tag.

Seit zwei Jahren lebt sie nun mit der Männlichkeit aus dem Kühlschrank.Freunde sagen, ihr Kinn sei markanter geworden, ihre Stimme ein bisschen tiefer. "Es ist wie ein Experiment mit offenem Ausgang", sagt Rau. Hat sie Angst? Sie nickt. Erst vor vier Jahren hat sie erfahren, dass ihr Chromosomensatz männlich ist. Ihr Hausarzt hatte jahrelang geschwiegen, die Eltern sagen, sie wussten von nichts.

Viele hätten gern selbst bestimmt

"Viele der betroffenen Erwachsenen hätten gerne selbst bestimmt, ob sie operiert werden", sagt Hertha Richter-Appelt. Im Rahmen einer Studie hat die Professorin an der Uniklinik Hamburg mit vielen intersexuellen Menschen gesprochen, die schon im Kindesalter operiert wurden. "Einige haben unter anderem dadurch im Erwachsenenalter schwere Traumata bekommen."

Auch die vermeintliche Erfolgsgeschichte von Bruce und Branda endete im Desaster. Als Branda 14 war, gestanden die Eltern, dass sie eigentlich als Junge zur Welt gekommen war. Sie ließ die Geschlechtsumwandlung rückgängig machen. Doch richtig wohl fühlte sich der Teenager nie in seinem Körper. 2004, im Alter von 38 Jahren, nahm er sich das Leben.

Zwar erlauben molekulargenetische Diagnostiken in vielen Fällen heute, bereits in den ersten Lebenswochen etwas über die Entwicklung in der Pubertät vorherzusagen. Doch Richter-Appelt und viele ihrer Kollegen plädieren inzwischen dafür, nicht mehr im Kindesalter zu operieren, wenn es medizinisch nicht notwendig ist. "Die Betroffenen sind ja nicht krank", sagt die Psychoanalytikerin. Wie Erfahrungen zeigten, könnten sich die Kinder häufig erst in der Pubertät einem Geschlecht zuordnen - wenn überhaupt.

Eine vorläufige Entscheidung müssen die Eltern trotzdem treffen. Innerhalb von sieben Tagen muss das Geschlecht eines Kindes in Deutschland dem Standesamt gemeldet werden. "Außerdem braucht ein Kind Klarheit", so Richter-Appelt. "Sie können es nicht vor eine Herren- und eine Damentoilette stellen und sagen: ,Entscheide selbst, wo du reingehst."

Das schlechte Gewissen und die Angst im Nacken

Eva Veitl kennt diese Ansichten. "Natürlich hat unser Versteckspiel auch etwas mit Feigheit zu tun", sagt sie. An manchen Tagen fühlt sie sich wie ein Verbrecher auf der Flucht, das schlechte Gewissen und die Angst stets im Nacken.

Dabei haben die Veitls nur versucht, alles richtig zu machen. Stundenlang haben die Eltern darüber gestritten, was für Lena wohl das Beste ist. "Warum sollen wir sie mit der ganzen Sache belasten?", sagt der Vater bis heute. Seine Frau ist anderer Ansicht: "Sie hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren."

Besonders schlimm war es, als Eva Veitl zum ersten Mal zu einem Selbsthilfetreffen der XY-Frauen fuhr. "Ich muss gestehen, ich war total überrascht. Da saßen ganz normale Frauen, keine Mannsweiber." Doch sie sah auch, wie die Frauen unter den Lügen ihrer Eltern und der ewigen Heimlichtuerei litten.

Als Eva Veitl spät abends aufgewühlt nach Hause kommt, will sie ihre damals zehnjährige Tochter sofort wecken. Doch ihr Mann sagt: "Lass sie schlafen." Danach waren die Tage, an denen sie es Lena sagen wollte, ebenso zahlreich wie die Gründe dagegen: der erste Freund, die mittlere Reife, der erste Liebeskummer, der zweite Freund und nicht zuletzt die Angst vor dem Gerede im Dorf.

Die Mutter weiß, dass ihrer Tochter das Schlimmste vielleicht erst noch bevorsteht. Und trotzdem gibt es heute diese Momente, in denen Eva Veitl denkt, dass sie vielleicht doch alles richtig gemacht haben. Lena ist ruhiger geworden, eine lebensfrohe junge Frau, die ihren jüngsten Bruder vergöttert, gerne reiten geht, einen netten Freund hat und einen guten Ausbildungsplatz.

Fast könnte ihre Mutter manchmal alles vergessen. Doch Lena muss nur ihren Pulli ausziehen, dann ist die Angst sofort wieder da. Sie zieht ihn nicht mit gekreuzten Armen über den Kopf, wie Frauen das meistens tun, sondern greift mit einem Arm in den Nacken. "Wie ein Mann", denkt sich Eva Veitl jedes Mal.

Genital corrections to intersex people /// Genitale Korrekturen an intersexuellen Menschen


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Genitale Korrekturen an intersexuellen Menschen

Allgemein wird angenommen, daß ausschließlich zwei biologische Geschlechter existieren, Frau und Mann. Diese Einstellung wird nicht näher differenziert und reflektiert, ist doch die Zuordnung nach den Geschlechtsorganen angeblich eindeutig beim jeweiligen Geschlecht angelegt: Eierstöcke oder Hoden. Genetisch werden Frauen und Männer auf die Chromosomen XX oder XY (Karyotyp) festgelegt. Dabei gab es schon immer Menschen, deren biologisches Geschlecht keine eindeutigen Merkmale trägt: seit nahezu 50 Jahren werden sie einem der beiden Geschlechter chirurgisch und hormonell zugewiesen. Eltern sollen nicht in Verlegenheit kommen, sich mit gesellschaftlich definierten Abnormalitäten auseinandersetzen zu müssen. Für die Betroffenen hingegen entstehen massive Folgeschäden.
Von Hermaphroditen zu Intersexuellen
Bereits in griechischen Sagen tauchen zweigeschlechtliche Mischwesen auf, die sogenannten Hermaphroditen (eine Mischung aus der Göttin Aphrodite und dem Götterboten Hermes). Hermaphroditen wurden in den Göttersagen bewundert. Im alten Rom jedoch wurden die menschlichen Hermaphroditen als Monster betrachtet und in einem 'Reinigungszeremoniell' verbrannt.
Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich das Verständnis vom Hermaphroditen zu einem Syndromkomplex mit Krankheits- und letztendlich pränatalem Abbruchswert. Im 6. Jahrhundert hatte der Vater das Geschlecht zu bestimmen, eine spätere Umentscheidung des Erwachsenen wurde mit dem Tode bestraft. Langsam milderten sich die Strafen, eine Neuorientierung im Erwachsenenalter wurde im 17. und 18. Jahrhundert möglich. Gleichzeitig wurde die Feststellung des Geschlechts von der juristischen an die medizinische Hand abgegeben. Diese fühlte sich zunehmend berufen, das 'wahre Geschlecht' herauszufinden, denn es herrschte alsbald die Meinung, Hermaphroditen kämen nur bei Pflanzen und niederen Tieren vor, bei Menschen ließe sich entweder das wahre Geschlecht erkennen oder die Geschlechtsorgane seien stark unterentwicklt. Im 19. Jahrhundert wurde die Möglichkeit einer standesamtlich unauffälligen Änderung des Geschlecht per Randvermerk eingeführt. Ab dem 20. Jahrhundert wurden seitens der Medizin bis dato existierende diagnostische Möglichkeiten durch Hormon- und Chromosomenanalysen erweitert. In diesem Rahmen wurde auch der Begriff 'Intersexualität' (1) entwickelt, mit den Untergruppierungen feminine und maskuline 'Scheinhermaphroditen'. Als dritte Gruppe wurden die 'echten' Hermaphroditen beibehalten. Doch dabei blieb es nicht: Man(n) untersuchte die Ursachen dieser medizinerseits verstandenen Abnormalitäten und kreierte etwa 13 verschiedene Syndrome, welche allesamt als behandlungsbedürftig erklärt wurden. Die bekanntesten Gruppen lauten: Turner-Syndrom, Hermaphroditismus Verus, Sweyer-Syndrom, Noonan-Syndrom, Klinefelter-Syndrom, Adrenogenitales Syndrom, Androgeninsuffizienz-Syndrom (auch testikuläre Feminisierung genannt), progestin-induzierte Intersexualität und sind u.a. aufgrund gonadaler, chromosomaler und/oder hormoneller Varianzen vorzufinden. MedizinerInnen schufen sich hier selbst einen Markt und erklärten sich zu Spezialisten.

Ab 1930 wurden zur Therapie der vielfältigen Krankheiten - Hermaphroditen als eigenständige Gruppe waren inzwischen abgeschafft - zeitgleich chirurgische und hormonelle Korrekturmöglichkeiten entwickelt. Zunächst wurden diese 'Korrekturen' Erwachsenen angeboten, die jedoch oftmals dankend ablehnten. Daraufhin griff man ab Ende der 40er Jahre auf Kinder zurück. Eine geschlechtliche Zuweisung richtet sich bis heute primär nach der chirurgischen Machbarkeit, 'it's easier to make a hole than to build a pole' (es ist leichter ein Loch zu machen als einen Stab zu bauen), statt der noch im 18. Jahrhundert gültigen juristischen Richtlinie 'in dubio pro masculo' (im Zweifel für die Männlichkeit).
Nur wenige erfüllen die geschlechtliche Norm
Medizinisch entspricht ein Mensch der Norm, wenn er auf dem 23. Chromosomenpaar die Chromosomen X und X - oder X und Y - trägt und bei der Geburt eine Klitoris kleiner als 1 cm oder einem Penis über 2,5 cm hat. Dabei existieren alle Längen des Lustorgans dazwischen sowie verschiedene Ausprägungen - von einer doppelten bis zu keiner Vagina; gleich verhält es sich hinsichtlich der Uterusstruktur; Gonaden (Eierstöcke oder Hoden) können sehr komplex und gemischt angelegt sein; hormonelle Werte verursachen verschiedene Behaarungsausprägungen.

Die Gesellschaft und Medizin definieren hiervon diverse Personengruppen als 'intersexuell' (0,4 - 4 Prozent der Gesamtbevölkerung - Statistiken wurden bezeichnenderweise nie erhoben). Unter weiblichen Menschen werden 5-15 Prozent als genital fehl- und mißgebildet angesehen. Davon gelten 70 Prozent gelten als virilisiert, also vermännlicht. Für männliche Menschen gibt es genitale Fehl- und Mißbildungen nur in sehr geringem Umfang, etwa 1-7 Prozent, eine Verweiblichung wird z.B. körperlich bisher nicht als krank angesehen. Allen geschlechtlichen Ausprägungen zufolge existieren mindestens 4000 Geschlechter, oder sogar so viele, wie es Menschen gibt. Keinesfalls jedoch ist Intersexualität das 3. Geschlecht (dies ist ein Synonym für Lesben und Schwule aus den 20er Jahren). Oft wird Intersexualität auch mit Androgynie verwechselt. Androgyn ist eine Frau mit männlicher Ausstrahlung oder ein Mann mit weiblicher. An den Problemen, die die Gesellschaft mit Intersexuellen haben, wird klar, wie sehr sie sich einem dichotomen (zweigeteilten) Denken verpflichtet fühlt. Es fällt der Gesellschaft nichts anderes ein als die Stereotypen zweier Geschlechter.

Die Sexualmedizin unterscheidet nachfolgende sechs Definitionen von Geschlecht:

chromosomales Geschlecht: Karyotypen
Definition:          weiblich               46,XX
männlich             46,XY
intersexuell       45,X0 47,XXY
Mosaik 45,X0/46,XY
u.a.

gonadales Geschlecht:
Definition:          männlich             2 Hoden
weiblich               2 Ovarien
intersexuell       Ovotestis oder Ovar und Testis

phänotypisches Geschlecht:
definiert durch das Erscheinungsbild des äußeren Genitale

bürgerliches Geschlecht:
definiert durch die standesamtliche Eintragung, wobei es kein intersexuelles Geschlecht gibt

praktikables Geschlecht:
Geschlechtsrolle, in der ein intersexueller Patient sexuell und sozial am ehesten ein befriedigendes Leben findet. Ausbildung von Penis und Vaginalanlage sind hier entscheidende Faktoren.

psychosexuelles Geschlecht:
Geschlechterrolle, die ein Individuum aufgrund seines Geschlechtstriebes übernimmt
(Vgl. Knorr 1982, S. 138)


Zuweisungsrichtung als medizinische Willkür

Wird eine Person mit sichtbar ambivalenten Genitalien bereits nach der Geburt erkannt, so richtet man sich nur nach dem chromosomalen Befund. Bei XX oder X0 wird fraglos feminisiert, befindet sich ein Y im Chromosomensatz, richtet sich eine Zuweisung nach der diagnoseabhängig zu erwartenden Penisgröße mit zufriedenstellender Penetrationsfähigkeit. Diese hat zwar ideellen Vorrang, setzt jedoch hohe Maßstäbe und führt daher in der Praxis eher selten zu einer Maskulinisierung. Das gonadale Geschlecht spielt hier eine untergeordnete Rolle, ein psychosexuelles Geschlecht konnte sich bei einem Baby noch nicht entwickeln. Syndromabhängig gibt es in medizinischen Fachbüchern haarsträubende Zuweisungstabellen.

Fällt ein Kind erst in späteren Jahren auf und lebte beispielsweise bereits mehrere Jahre als 'Frau', so ist dies nach der Medizin beizubehalten und eine entsprechende 'Korrektur', trotz u.U. gegenläufigen chromosomalen Befundes, zur Fixierung des bisher gelebten Geschlechtes einzuleiten. Sofern ein Individuum als 'Mann' definiert wurde, ist wiederum die tatsächliche oder noch auszureifende Penislänge das entscheidende Kriterium und kann durchaus ein Grund zur Feminisierung des Kindes in späteren Jahren sein. In jedem Falle kann das bürgerliche Geschlecht nachträglich verändert werden.

Manchmal werden Intersexuelle unter Vorspielen eines Pornofilmes auch selbst nach ihrer genitalen Wunschrichtung befragt: "Willst du ficken oder gefickt werden?" (2) Zusammengefaßt bedeutet dies, daß die geschlechtliche Zuordnung bei gleichem Phänotyp (äußeres Erscheinungsbild) in verschiedenen Kliniken unterschiedlich gehandhabt wird, zumal manche Ärzte Penisaufbauplastiken favorisieren und daher vermehrt Intersexuelle männlichen Geschlechtes produzieren. Generell ist jedoch eine starke und weiter steigende Feminisierungstendenz auszumachen, egal wie schlecht das chirugische Ergebnis ästhetisch und funktionell ausfällt. Es "herrscht die soziale Anschauung vor, daß es für ein weibliches Individuum mit reduzierter Genitalfunktion leichter sei 'im Leben ihren Mann zu stehen' als für ein männliches Individuum mit verminderter Geschlechtsfähigkeit" (Bolkenius 1982, S. 249).


Medizinische Intervention ohne Zustimmung

Heute werden etwa 90 Prozent aller ehemals Intersexuellen zu Frauen korrigiert und gesellschaftlich zumeist auch als solche wiedererkannt, bei etwa 30 Prozent der sogenannten genitalen Fehl- und Mißbildungen wird chirugisch interveniert. Je nach Abweichung vom ärztlicherseits definierten Geschlecht werden Hormone verabreicht, chirurgisch ein Penis vergrößert, Hodenimplantate eingesetzt oder eine Klitoris verkleinert, neue Vaginen konstruiert, Gonaden (Eierstöcke, Hoden) entfernt oder Venuslippen (auch: Schamlippen, Labien) wegoperiert. (3) Es können dutzende gynäkologische Untersuchungen folgen, in dessen Rahmen Körpergröße, Phänotyp, Gewicht, Regelmäßigkeit der Hormoneinnahmen kontrolliert und fotografische Abbildungen von Genitalregionen erstellt werden.

Da Diagnosestellungen inbesondere im Rahmen der Intersexualität oftmals bereits ab Geburt erfolgen, beginnen zu diesem Zeitpunkt auch medizinische Maßnahmen. Geschlechtliche Korrekturen sollten in den 80er Jahren vor Ende des 2. Lebensjahres vorgenommen werden, zwischenzeitlich verspricht man sich bessere Erfolge bei einem Eingriff in der 6. Lebenswoche. Hormonelle Substitutionen ('Ersatzhormongabe') werden sofort eingeleitet.

Sofern sich eine Chromosomenvariation bereits pränatal feststellen ließ, wird im Rahmen der medizinischen Indikation zu einem Abort geraten. Bei bereits aufgetretenen Fällen von Intersexualität in der Familie werden der Mutter hohe Hormondosierungen während der Schwangerschaft verabreicht, um intrauterin [in der Gebärmutter, Anm.] eine Virilisierung des Embyos zu vermeiden. Diese Methode zeitigt einen 'Erfolg' von 66 Prozent. Alle anderen Kinder werden dennoch zugewiesen.

Eine Erwägung, das Kind bis zum entscheidungsfähigen Alter zu belassen, wie es auf die Welt gekommen ist, findet nicht statt. Eltern werden nicht über Intersexualität informiert, sondern nur über befundene Abweichungen. So wird ausschließlich im diagnostischen Krankheitsbild und oftmals in nicht verständlicher Sprache referiert. Kontakte zu kritischen Gruppen intersexueller Erwachsener werden nicht angeboten. Eltern haben somit keine autonome Entscheidungsmöglichkeit. Auch fehlt eine Kommunikationsmöglichkeit mit unkorrigierten Intersexuellen, da unseres (organisierte Intersexuelle) Wissens nach in Europa keine belassen wurden.


Erfahrungen Zugewiesener

Niemand kontrolliert MedizinierInnen bei ihren Eingriffen. Somit kann keine repräsentative Aussage getroffen werden, ob und in welchem Ausmaß Folgeschäden aus den 'Behandlungen' entstehen. Doch in zunehmendem Maße gruppieren sich ehemals Intersexuelle in Selbsthilfeorganisationen, um auch Öffentlichkeit herzustellen. Begonnen hat 1993 die Intersex Society of North America (ISNA), welche mittlerweile ca. 150 Mitglieder umfaßt und neben einem intensiven Austausch untereinander Kontakte zu WissenschaftlerInnen, Medien sowie vereinzelten, kritischen ÄrztInnen pflegt. Allen derzeit existierenden Organisationen ist gemeinsam, daß sich hieran Angeschlossene trotz korrigierter Genitalien und Körper als Intersexuelle oder HermaphroditInnen definieren.

Unserer Recherchen ergaben, daß etwa 60 Prozent der Intersexuellen Suizidversuche vorgenommen haben. Viele bewegen sich unerkannt im Rahmen des zugewiesenen Geschlechtes. Allen ist gemeinsam, daß sie am Rande des Erträglichen leben. Eine nicht unerhebliche Anzahl (ca. 20 Prozent) hat erfolgreichen Suizid begonnen. Sehr wenige arbeiten politisch zur Thematik.

Zur Pro- und Contradiskussion von Zuweisungen möchte ich folgendes Zitat zur gedanklichen Anregung nennen:

"In 70 Fallstudien Heranwachsender und Erwachsener, welche mit sichtbar anormalen Genitalien aufwuchsen ... erachtete man nur eine Person der angeführten als potentiell psychotisch, und diese potentielle Krankheit war verbunden mit psychotischen Eltern und nicht mit sexueller Uneindeutigkeit. ... Sogar Ärzte früherer Interventionen erkannten, daß eine Anpassung an ungewöhnliche Genitalien möglich ist." (Fausto-Sterling)

Organisierte Intersexuelle stellen fest: durch geschlechtliche Zwangszuweisungen an nicht einwilligungsfähigen intersexuellen Kindern entsteht ein erheblich höherer psychischer Schaden, als dies durch Ablehnung seitens der Bevölkerung jemals möglich sein wird, ganz abgesehen von physisch irreparablen Schäden. Menschen besitzen ab Geburt zwar keine ausgeprägte Identität, aber eine Integrität und ein Gefühl für Intaktheit.

Als extrem einschneidend in ihrem Leben als Erwachsene beschreiben alle sich zum Thema Äußernde die genitalen Korrekturen, welche die Möglichkeiten einer erfüllten Sexualität für alle Zeiten versagen, und zwar unabhängig davon, ob eine Reduktion oder eine Totalamputation des Lustorgans erfolgte. Weiterhin wird als äußerst belastend die erlebte Isolation sowie Unkenntnis der Umwelt und damit Unmöglichkeit, sich offen zur Thematik auszutauschen, formuliert. Nahezu alle fühlen sich im 'falschen', da konstruierten Körper. Etwa 15 Prozent der Zugewiesenen wünschen sich eine Revision. Diese Personen werden zumeist fälschlicherweise als Transsexuelle deklariert.


Intersexuelle als 'Laborratten'

Zu den chirurgischen Eingriffen selbst sind ebenfalls äußerst kritische Stimmen bekannt, welche von 'Schlachtfeld' bis 'Totalschaden' zur Bewertung des OP-Bereiches reichen. Von extremen Traumatisierungen durch die Behandlungen ist die Rede, dem Gefühl, sich niemals anderen Kindern zugehörig gefühlt oder extreme Isolation während der gesamten Adoleszenz erfahren zu haben (trotz Zuweisung). Schmerzhafte Untersuchungen sind ebenso in Erinnerung wie auch als Vergewaltigung erlebte Penetrationen während gynäkologischer Untersuchungen und Bougierungen (4). Demütigend und entwürdigend sind körperliche Abtastungen jeder Art sowie Bildmaterialerstellung. Einige beschreiben ihren stationären Aufenthalt schlicht in der Funktion als 'Laborratte' und auch im häuslichen Bereich fühlten sich einige als fortbestehendes 'Krankengut', ohne daß ihre eigene Persönlichkeit wahrgenommen wurde. Viele wünschen sich ihre ehemaligen Genitalien zurück und einige wenige, welche nicht zugewiesen wurden, beschreiben ihre Jugend zwar nicht als besonders glücklich, sind aber froh, keine medizinische Interventionen erlebt zu haben.

Etwa 30 Prozent aller Intersexuellen leben keinerlei Beziehungen. Ein überwiegender Anteil, etwa 60 Prozent, definiert sich im Rahmen des zugewiesenen Geschlechtes als homosexuell. Dies ist insoweit von Bedeutung, als daß Eltern zur Zuweisungslegitimation auch der Wunsch nach einem erfüllten Eheleben prognostiziert und suggeriert wird.

Im Rahmen eugenischer Bestrebungen wird Intersexualität tendenziell nicht mehr existieren. Dies hat zur Folge, daß nicht nur die gesamte Bevölkerungsgruppe der Hermaphroditen systemtisch ausgelöscht wird. Auch jegliche sichtbare Vermännlichung des Weiblichen wird einer 'lolitaorientierten' Sichtweise (Frauen sollen mädchenhaft erscheinen) unterworfen und angepaßt. Zunehmende Ausweitung der Kindergynäkologie auf immer jüngeres Klientel trägt hierzu ebenso bei wie die standardisierten Ultraschall-Untersuchungen, bei welchen auch der genitale Aspekt regelmäßig kontrolliert wird. PädiaterInnen (KinderärztInnen), Kinder- und ErwachsenengynäkologInnen, UrologInnen, PsychologInnen und ChriurgInnen sind in diesem Bereich tätig.

Eine MitarbeiterIn der ISNA, welcher das Geschlecht nicht angepaßt wurde, fragt: "Wenn Eltern und Mediziner schon diese ganz harmlose persönliche Besonderheit nicht akzeptieren können und unbedingt wegtherapieren müssen, was möchten sie denn dann mit offensichtlich behinderten Kindern machen, die nicht durch eine Operation scheinbar normal gemacht werden können? Sollen sie nach dieser Logik, mit der wir therapiert werden, dann umgebracht werden, nur damit die Umwelt nicht beunruhigt und die Eltern nicht in Verlegenheit gebracht werden müssen?" Intersexuelle werden in zunehmendem Maße vernichtet, doch bereits heute findet ein 'psychischer Genozid' statt, da Intersexen zwar leben dürfen, ihre Besonderheiten jedoch im OP-Saal ausgelöscht werden.


Eine gewaltätige Philosophie

Grundlage einer phantasierten geschlechtlichen Bipolarität ist das Denken in Zweier-Gegensätzen, das sogenannte dichotome Denken. Diese Philosophie ist äußerst gewalttätig, denn "sie ist ohne Zweifel die Spaltung in Geist einerseits und in Körper, Materie, Stofflichkeit andererseits; genauer die Herauslösung des Geistes aus dem Leib und der Natur, sowie deren anschließende Herabwürdigung zur geistlosen Materie. Nach dem Vorbild und Modell dieser Trennung sind alle anderen, uns nur zu bekannten und vertrauten Gegensätze wie Natur - Kultur, Leben - Tod, Rationalität - Gefühl, Kopfarbeit - Handarbeit und nicht zuletzt Männlichkeit - Weiblichkeit geformt und formuliert worden. Dabei handelt es sich aber nicht um rein deskriptive Feststellungen, da diese Form der Gegenüberstellung immer schon eine Wertung impliziert." (Rainer 1995, S. 14) Dichotomes Denken ist daher nicht in der Lage, das Besondere auch als solches zu akzeptieren, da das Besondere kein Gegenteil besitzt und daher keinen Wertevergleich zuläßt, sondern in seine Einheit besteht. Jede Inanspruchnahme einer Dichotomie dient meiner Meinung nach einer lebensvernichtenden Atmosphäre, der Necrosphäre. Jeder Gedanke, Andere - Menschen, Pflanzen, Tiere, Geister - für minderwertig oder untergeordnet zu erachten, dient dem Dichotomie-Leitsatz.


IGM und FGM - ein Vergleich

In westlichen Kulturen werden neben Intersexen Menschen unter weiteren vier verschiedenen Aspekten genital verstümmelt, mit unterschiedlichen Argumentationen und Auswirkungen:
Afrikanerinnen zur Aufrechterhaltung der Tradition
Frauen mit genitalen Fehl- und Mißbildungen entweder aufgrund Leidensdruck oder pathologischen Wertes
Frauen ohne medizinische Indikation gegen Bargeld zur Verschönerung ihrer Genitalien
Männer zur Vorhautentfernung aus traditionellen oder Reinlichkeitsgründen.
Verstümmelungen an Afrikanerinnen sind in Deutschland illegal, alle anderen Vorgehensweisen legal. Westliche Chirurgen und Gynäkologen sind mit genitalen Verstümmelungen seit der Sklaveneinführung in USA sehr gut vertraut.

Wir unterscheiden zwischen weiblicher Genitalverstümmelung (FGM, Female Genial Mutilation) und intersexueller Genitalverstümmelung (IGM, Intersex Genital Mutilation). Zwischen FGM und IGM existieren erhebliche Parallelen. Nicht thematisiert werden an dieser Stelle männliche Genitalverstümmelung (MGM, Male Genital Mutilation), obwohl auch sie schwere physische und psychische Folgen zeitigt.


Eine gemeinsame Historie

IGM und FGM Verstümmelungspraktiken ist gemeinsam, daß historische Aufzeichnungen kaum vorhanden sind und daher eine Rekapitulation erschwert wird.

Erste Untersuchungen zum Ursprung der FGM gehen auf das 5. Jahrhundert v. Chr. zurück und berichten aus Ägypten oder Äthiopien, da sie sowohl von Äthiopiern als auch Phöniziern und Hetitern durchgeführt wurde (Lightfood-Klein, S. 43). In etwa gleichem Zeitraum verfaßten die Pythagoreer (Pythagoras lebte um 570-500 v. Chr.) erstmalig eine Liste mit zehn Kontrasten als Prinzip zur Deutung der Wirklichkeit, so auch männlich/weiblich (Rainer, S. 33). Der Gedanke der Dichotomie war geboren - und das Ende der Hermaphroditen wurde so auch philosophisch-wissenschaftlich eingeleitet, nachdem das alte Testament bereits in Genesis I, 27-28 besagte: "Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie." Dies führte jedoch lange nicht zu genitalen Verstümmelungen, wohl aber, wie gezeigt, zur Vernichtung durch Verbrennung in Reinigungszeremonien. (Hirschauer 1993, S. 69)

FGM (Klitoris- und Schamlippenreduktion) avancierte im römischen Reich zu einem Statussymbol und war auf diejenigen Frauen beschränkt, die einen hohen sozialen Rang einnahmen. Die Infibulation, das Zunähen der Vagina bis auf ein kleines Loch zum Abfluß des Menstruationsblutes, blieb den Sklavenmädchen reserviert, denn eine zugenähte Jungfrau erzielte auf dem Sklavenmarkt einen weit höheren Preis. Diese wurden von Sklavenhändlern durchgeführt. Es wird auch vermutet, daß diese Praktiken ursprünglich der Geburtenkontrolle in wasserarmen Gebieten dienten. Anderen Theorien zufolge sei FGM aus dem Wunsch des primitiven Mannes heraus entstanden, der die Macht über das Geheimnis der weiblichen Sexualfunktion gewinnen wollte. Streng patriarchale Systeme haben dadurch die Sexualität der Frau auf die Erhaltung der männlichen Erbfolge beschränkt (Lightfood-Klein 1992, S. 44f).

Genitale Verstümmelungen an weißen Frauen, welche der IGM vorausgingen, lassen sich auf Mitte des 19. Jahrhunderts zurückführen. In dieser Zeit wurden Hermaphroditen juristisch für nicht existent erklärt (1804 Code Civil, ca. 1895 BGB). Walker (1993, S. 165) führt aus, daß amerikanische Ärzte fasziniert waren von der afrikanischen FGM, die nackte Sklavinnen untersuchten und lernten, die 'Prozedur' an anderen versklavten Frauen im Namen der Wissenschaft vorzunehmen.


Hermaphroditenphobie als Begründung für FGM und IGM

Mediziner untersuchten im 18. Jahrhundert die Sklavinnen und etablierten Genitalverstümmelungen in den eigenen Reihen zur Behandlung weiblicher Geisteskrankheiten wie etwa Hypersexualität, Hysterie und Nervosität, aber auch lesbische Neigungen und Aversion gegen Männer (Lightfood-Klein, S. 215). Auch 'weiblichen Scheinhermaphroditen' wurde Tribadie unterstellt, sie wurden beschrieben als "Zwitter weiblichen Geschlechtes, die neben den durch das Ausbleiben der Menstruation entstehenden Mannweibern auch Individuen mit vergrößerter Klitoris umfassen, die die Ausschweifung der Tribadie ermöglicht" (Hirschauer, S. 72).

Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Begründung genitaler Verstümmelungen an Intersexen und schwarzen Frauen lassen sich vor allem in einer beiden Kulturen immanenten Phobie vor Zweigeschlechtlichkeit, in einer Person vereint, wiederfinden. Aussagen wie die Folgenden mögen einen Eindruck gewähren:

"Genauso, wie man daran glaubt, daß bestimmte Götter bisexuell sind, so glaubt man, daß jede Person mit einer maskulinen und einer femininen 'Seele' ausgestattet ist. Diese 'Seelen' enthüllen ihre jeweiligen physiologischen Merkmale in den und durch die Fortpflanzungsorgane. Auf diese Weise ist die weibliche 'Seele' eines Mannes, so wird behauptet, in der Vorhaut lokalisiert, während die männliche 'Seele' der Frau in der Klitoris sitzt. Dies bedeutet: Wenn der junge Mann heranwächst und schließlich in die männliche Gesellschaft aufgenommen wird, muß er sich seiner weiblichen Merkmale entledigen. (...) Dasselbe gilt für ein junges Mädchen (...), indem man ihre Klitoris oder Klitoris und Schamlippen entfernt. Nur so beschnitten kann das Mädchen behaupten, eine vollständige Frau zu sein, und ein entsprechendes Sexualleben führen." (pharaonische Glaube der Ägypter; Lightfood-Klein, S. 45, Hervorhbg. d. V.)

"Wenn die Menschen auf die Welt kommen, sind sie sowohl männlich wie weiblich und besitzen Zwillingsseelen. Die 'weibliche Seele' des Jungen ist die Vorhaut, dem weiblichen Element der Genitalien, lokalisiert, und die 'männliche Seele' des Mädchens sitzt in der Klitoris, dem männlichen Element. Vom Moment der Geburt an wird das Bambara-Kind vom Wanzo bewohnt, einer bösen Macht, die in seinem Blut und seiner Haut wohnt und die Kraft der Unordnung im Individuum darstellt." (Dogon und Bambara aus Mali; Lightfood-Klein, S. 55, Hervorhbg. d. V.)

Diese Begründungen sind unlogisch, wie die Entstehungsgeschichte von Vorhaut und Klitoris/Penis zeigt. Zum einen haben beide Organe eine Vorhaut, zum anderen ist der Penis entwicklungsbedingt das gleiche Organ wie die Klitoris. Auch ist die Verstümmelungspraktik inkonsequent, denn wenn Klitoris und Schamlippen entfernt werden, dann müßte dies auch bei Penis und Hoden erfolgen, um ein Äquivalent zu erreichen.

Wir können heute davon ausgehen, daß genitale Verstümmelungen zur 'Behandlung psychischer Auffälligkeiten' seit etwa 1940 nicht mehr durchgeführt werden, wir wissen aber, daß morphologische Besonderheiten an Weißen nach wie vor korrigiert werden. Auch liegt mir ein gynäkologischer Fachaufsatz aus 1959 vor, in welchem neue Methoden der FGM an Schwarzen beschrieben werden.


Verstümmelungen im ausgehenden 20. Jahrhundert

Genitale 'Korrekturen' an Hermaphroditen
Die chirurgische Methodik hat sich seit ihrer Einführung unwesentlich geändert: wurde bis die 60er Jahre noch eine Exstirpation des Phallus, dies bedeutet wörtlich das Herausreißen des Organs, vorgenommen, so wurden bis etwa 1980 Dektomien favorisiert, welches eine Totalamputation impliziert. Seither reden Mediziner enthusiastisch von einer 'Klitorisreduktion', bei welcher 60-70 Prozent des sensiblen Gewebes entfernt werden und die Spitze des Phallus neu verlegt und angenäht wird. Ist das Ergebnis anschließend noch immer unbefriedigend, da der verstümmelte Rest zu sehr sichtbar ist, wird nachkorrigiert. Überstehende Haut wird ebenfalls entfernt, um eine virilisierte, d.h. vermännlichte, Erscheinung zu vermeiden. Die inneren Labien werden versucht, aus der Phallushaut nachzubilden, die äußeren aus einem Hodensack, sofern dieser vorhanden war. Derlei operative Ergebnisse sind durchweg unbefriedigend. Sexuelles Lustempfinden ist nicht mehr möglich.

Genitale 'Korrekturen' an genital fehl- und mißgebildeten Frauen
Die Phalluslänge von Frauen wird gleichen Normierungen wie bei Intersexen unterworfen und nach gleichen Methoden korrigiert. Man spricht auch hier von einer Hypertophie der Klitoris, wenn diese über 1 cm (USA: 0,9 cm) groß ist. Hinzu kommt eine Labiennormierung, welche auseinandergezogen 5 cm nicht übersteigen sollte. Ebenfalls pathologisch gewertet wird eine Dysproportion der Labien. Dies bedeutet, daß die inneren Schamlippen größer sind als die äußeren. Auch hier wird interveniert.
Operative Eingriffe an der Klitoris haben ebenso erheblichen Sensibilitätsverlust zur Folge, bei Labienreduzierungen werden oft Teile der Klitoris mitzerstört, wodurch Schmerzen oder Taubheit an Klitoris und Labien verursacht werden können.

Genitale 'Korrekturen' an Frauen als Schönheitsmaßnahme
Pornodarstellerinnen sind oft genital reduziert. Mir selbst ist bekannt, daß eine Labienreduktion in Australien 300 australische Dollar kostet und eine halbe Stunde dauert. Derartige Angebote seien in der dortigen Frauenpresse "gang und gäbe", wie mir mitgeteilt wurde. Wir müssen davon ausgehen, daß auch die USA diese Methoden ohne (pseudo-)medizinische Begründung kennt, zumal Krankenkassen nicht zur Kostenübernahme verpflichtet sind und daher medizinische Argumentationen zur offiziellen Anerkennung fundierter sein müssen. In Deutschland ist diese Praktik einer anderen Aussage zufolge zwischenzeitlich unter dem Vorwand der Sensibilitätssteigerung angeboten worden, vor allem die Verengung der Vagina. Es ist zu vermuten, daß diese Eingriffe künftig in Deutschland vermehrt durchgeführt werden, da Kassen bei psychologischer Legitimation ('Leidensdruck') zahlen müssen.
Während bei Hermaphroditen und genital fehl- und mißgebildeten Frauen vorwiegend Kinderchirurgen verstümmeln, sind in diesem Bereich plastische (Schönheits-)Chirurgen angesprochen. Wie alle Berufsgruppen ist auch diese an einer Steigerung ihres Einkommens interessiert. Zahlen hinsichtlich der Quantität in diesem Bereich durchgeführter Verstümmelungen existieren nicht, in Australien seien es jedoch "tausende".

Genitale 'Korrekturen' an Afrikanerinnen
Es werden vier, regional unterschiedliche, Methoden angewandt:
Milde sunna: Einstechen, Ritzen oder Entfernung der Klitorisvorhaut
Modifizierte sunna: teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris
Clitoridectomie/Beschneidung: Entfernung eines Teils oder der ganzen Klitoris sowie eines Teils oder der gesamten inneren Schamlippen
Infibulation/pharaonische Beschneidung: Entfernung der Klitoris und der inneren Schamlippen sowie der inneren Schichten der äußeren Labien. Diese werden, bis auf eine kleine Öffnung zum Harn- und Menstruationsblutabfluß, zusammengenäht. (Vgl. Lightfood-Klein, S. 49f)
Gerade bei letzterer Methode ist mit erheblichen gesundheitlichen Folgeschäden zu rechnen, da Entzündungen entstehen und die Frau zum Geschlechtsverkehr und zur Entbindung aufgeschnitten werden muß, um anschließend zumeist wieder zugenäht zu werden.

Daher wird zur Abhilfe des 'FGM-Problems' mit diesen direkten Konsequenzen oftmals lediglich die Hinzuziehung eines Arztes empfohlen, welcher mit sterilen Instrumenten arbeiten kann, ohne jedoch die Praktiken selbst in Frage zu stellen.

Familien, die Verstümmelungen derart durchführen können, gelten als privilegiert, da sie für die Unkosten aufkommen können. Quantitative Angaben zur Durchführung in Deutschland existieren auch hier nicht, afrikaweit wird von 80 - 110 Mio. verstümmelten Frauen ausgegangen.


Zusammenarbeit zwischen Anti-FGM- und Anti-IGM-AktivistInnen

Um es in Kürze zu benennen: sie existiert nicht. "Die Zusammenarbeit mit Anti-FGM-Aktivisten ist schlechter als mit allen anderen Gruppen, sogar schlechter als mit Ärzten." (pers. Mitteilung Chase vom 13.1.97, GründerIn der Intersex Society of North America (ISNA))

Weltweit wurden Anti-FGM-Organisationen, Einzelkämpferinnen und Menschenrechtsverbände angeschrieben, informiert und um Mitarbeit bzw. Kooperation gebeten. Keines dieser Schreiben hatte den gewünschten Erfolg. So schreibt z.B. Fran Hosken, durch den 'Hosken Report' bekannt geworden, daß sich ihr Interesse in der Beendigung von FGM nicht auf 'biologische Ausnahmen' erstreckt (10/93, Holmes 1995, S. 4). Forward International, eine wichtige Anti-FGM-Organisation, betont, daß der ihnen zugesandte Brief zwar 'sehr interessant' sei, aber sie können nicht helfen, da ihre Arbeit nur FGM beleuchtet, welche als schädliche kulturelle oder traditionelle Praktik an jungen Mädchen durchgeführt wird (Chase 1997, S. 11). Terre des Femmes entzieht sich seit März 1996 einer Stellungnahme, intern wurde argumentiert, Betroffene hätten keine Kompetenz. Amnesty International, Sektion Deutschland, meinte im Oktober 1996, die AGGPG solle die Geschehnisse hinsichtlich einer Beurteilung als Folter stärker differenzieren und wünschte uns "alles Gute und viel Kraft auf einem äußerst schwierigen Weg". Diese Reaktionen, sofern überhaupt Antworten erfolgen, wiederholen sich stereotyp.

Afrikanische Verstümmelungen gelten als 'barbarisch und rituell' durchgeführt, es wird ihnen ein besonderer kultureller Wert zugeschrieben. Eine solche Sichtweise verhindert die Anerkennung gleicher Wertungen für die eigene Kultur und läßt somit eine grundsätzliche Problematisierung weltweit nach gleichem Schemata funktionierenden Sexismen und Biologismen nicht zu. Auch können so Hermaphroditenphobien und Homophobien, welche in engem geschlichtlichen Kontext stehen, nicht artikuliert werden. Plausibel als tatsächliche Motivation weißer Anti-FGM-AktivistInnen scheint mir daher Rassismus zu sein. Dieser ermöglicht es, die eigene Kultur als 'zivilisiert' und 'aufgeklärt' darzustellen. Mit Kenntnisnahme der Verstümmelungen auch in der eigenen, 'zivilisierten' Kultur würde diese Motivation entfallen.

Anti-FGM-Gruppierungen kämpfen für die Befreiung der weiblichen Sexualität, Anti-IGM-Gruppierungen kämpfen für die Anerkennung und Gleichstellung intersexueller Menschen, welches selbstverständlich auch Sexualität impliziert, jedoch vor allem Geschlechter- und Körperbilder hinterfragt. Sie mögen somit in vielerlei Hinsicht der Behinderten-, Antirassismus- und Transsex-/genderbewegung näher stehen, als jene GeschlechterbefreiungskämpferInnen, welche sich in streng dichotomen und separatistischen Mustern bewegen.


Fazit

Schwarze Frauen, weiße Frauen mit genitalen Fehl- und Mißbildungen sowie Hermaphroditen werden in allen westlichen Kulturen in unterschiedlicher Quantität genital verstümmelt. Während Verstümmelungen an ausländischen Frauen unter Strafe gestellt ist sowie vielerorts, insbesondere von gynäkologischen Verbänden, scharf verurteilt sowie international als schwere Menschenrechtsverletzung geächtet wurde, wird im eigenen Land weiterhin praktiziert. Für ausländische Frauen werden zumeist Ärzte aus dem Geburtsland eingeflogen, doch auch westliche Ärzte bieten diesen Dienst illegal gegen Bargeld an. Für deutsche Frauen hingegen gilt, ebenso wie für Hermaphroditen, daß die Eingriffe nicht nur legal praktiziert und von der Krankenkasse bezahlt werden, sondern auch umfangreiche wissenschaftliche Erhebungen mittels Analysen zur Kategorisierung, Gruppierung und Katalogisierung durchgeführt werden. In diverser Literatur, insbesondere zur Kindergynäkologie, sind diese Vorgehensweisen seit über 50 Jahren dokumentiert. Hermaphroditen sowie genital fehl- und mißgebildete Frauen stellen die direkte Nachfolgegruppe zu früheren Verstümmelungen aufgrund psychischer Auffälligkeiten dar (welche wiederum auf FGM an afrikanischen Sklavinnen gegründet war).

Zahlenmaterial zu den Vorgehensweisen ist konsequenterweise, analog zur gesamtgesellschaftlichen Tabuisierung, offiziell nicht erhältlich. Die AGGPG schätzt in Relation zur USA die Anzahl genitaler Eingriffe an weißen Babys und Kindern bundesweit mindestens auf 1800 jährlich, davon 600 Intersexuelle und 1200 Frauen mit Fehl- und Mißbildungen. Dies bedeutet täglich rund fünf Verstümmelungen. Zwischenzeitlich müßten somit vorsichtig geschätzt 90.000 genital verstümmelte Menschen in Deutschland leben.

Das Menschliche

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