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Nikita Noemi Rothenbächer 2016
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Mein Freund Gerda
Ein Kind kommt mit Hoden und Gebärmutter zur Welt. Die Ärzte
sagen, sie könnten es entweder zum Mädchen oder zum Jungen operieren. Die
Eltern wollen das nicht. Ihr Kind ist beides.
Als Gerda geboren wurde, ließ das deutsche Recht den Eltern
eine Woche, um Fakten zu schaffen. Die Standesbeamten wollten es ganz eindeutig
wissen, fragten nach Ort und Zeit der Geburt, dem Namen des Kindes* und nach
dem Geschlecht. „Weiblich“ ließen die Eltern damals eintragen. Fast neun Jahre
ist das her. Dabei waren sie sich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht sicher, ob
sie damit überhaupt richtig lagen.
„Ein Junge“, hatte die Hebamme verkündet, als die Mutter
nach dem Kaiserschnitt aus der Narkose erwachte. „Wahrscheinlich ein Mädchen“,
sagte der Arzt zu ihrem Mann.
Kein Junge, kein Mädchen – sondern beides
Später äußerten sich die Mediziner etwas genauer: Gerda ist
kein Junge, kein Mädchen, sondern beides. Gerda hat einen männlichen
XY-Chromosomensatz, aber der Penis ist nur schwach ausgebildet, man kann
genauso gut vergrößerte Klitoris dazu sagen. Die Hoden befanden sich nach der
Geburt im Bauchraum, einer ist nicht vollständig entwickelt, der zweite nur als
Gewebestrang ausgebildet. Das Kind hat außerdem eine Gebärmutter und eine
Vagina.
„Gonadendysgenesie“ diagnostizierten die Ärzte. Dabei
handelt es sich um eine der zahlreichen Varianten von Intersexualität. Gerda
ist ein Kind, das sich keinem Geschlecht eindeutig zuordnen lässt. Früher hätte
man Zwitter gesagt.
Die Eltern hatten zunächst ganz andere Sorgen. Gerda war
drei Monate zu früh auf die Welt gekommen, sie lag noch im Brutkasten, als die
Ärzte mit betretenen Mienen in den Raum traten und sagten, Gerda sei
intersexuell. „Ehrlich gesagt: Die 920 Gramm waren der größere Schock“, sagt
Anna Pietersen, die Mutter. Die 920 Gramm verschafften den Eltern allerdings
Zeit, sich mit der Intersexualität ihres Kindes auseinanderzusetzen.
Chirurgen fiel es leichter, eine Vagina zu erschaffen
Vor fast einem Jahrzehnt, als Gerda auf die Welt kam, hätten
sie wenig über Intersexualität gewusst, sagt die Mutter. Es gab noch keinen
„Tatort“, der das Thema aufgriff, keine Debatten über Sportlerinnen wie die
Sprinterin Caster Semenya, die laut Chromosomensatz eigentlich ein Sprinter
ist. „Middlesex“, der Roman des Amerikaners Jeffrey Eugenides, der später zum
Bestseller wurde, war gerade erst erschienen. Und der Ethikrat des Deutschen
Bundestages, der viele Facetten von Intersexualität aufarbeiten wollte, trat
zum ersten Mal im Jahr 2010 zusammen.
Zufällig kannte sich eine Freundin der Mutter ein wenig mit
dem Thema aus. „Sie hat uns geraten, behutsam vorzugehen - und vor den Ärzten
auf der Hut zu sein.“ Woher ihr Unbehagen rührte, erfuhren die Pietersens im
Gespräch mit erwachsenen Intersexuellen, die sie über die
Elternselbsthilfegruppe der „XY-Frauen“ kennenlernten. Sie gehört zum
„Dachverband Intersexuelle Menschen“. Viele waren durch die Hölle gegangen,
litten an den Folgen frühzeitiger Operationen und Hormonbehandlungen, die sie
wahlweise zum Jungen, meistens zum Mädchen machen sollten - weil es Chirurgen
leichter fiel, eine Vagina als einen Penis zu erschaffen.
Intersexualität ist kein Tabu-Thema mehr
Die Pietersens hörten von Zwangskastrationen und
Sterilisationen, von Eierstöcken oder Hoden, die den Patienten
herausgeschnitten wurden, von Kindern, die sich irgendwie als Jungen fühlten,
aber in rosa Kleidchen gesteckt wurden. Sie hörten von Kindern, die Gruppen
neugieriger Ärzte immer wieder nackt vorgeführt wurden, und von Eltern, die
ihren Kindern nicht erzählten, was mit ihnen war - bis sie als Jugendliche
zufällig, zum Beispiel nach einer Blinddarm-OP, erfuhren: „Du bist keine Frau.“
Oder: „Du bist gar kein Mann.“
Jahrzehntelang war Intersexualität mit einem Tabu belegt.
Inzwischen kann man die Leidensgeschichten nachlesen: in zahlreichen Berichten
von Betroffenen, in Internetforen von Selbsthilfegruppen oder in der
Stellungnahme des Ethikrates. Man kann auch Hertha Richter-Appelt fragen,
stellvertretende Direktorin des Instituts für Sexualforschung und Forensische
Psychiatrie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf. „Das Vorgehen der Medizin hat sich
aus heutiger Perspektive als falsch erwiesen“, sagt sie. Doch man müsse es aus
dem Kontext der Zeit verstehen.
Großes Leid durch Streben nach Eindeutigkeit
Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts waren Mediziner und
Psychologen der Auffassung, ein Kind müsse dringend und am besten
stillschweigend an ein Geschlecht angepasst werden, um sich „normal“ zu
entwickeln. Richter-Appelt sagt, dass dieses Streben nach Eindeutigkeit und
Normalisierung vielen Patienten enormes körperliches und seelisches Leid
beschert habe: „Zum Beispiel wurde vielen Kindern sehr früh eine Vagina
eingesetzt, damit sie später einmal heterosexuellen Geschlechtsverkehr haben
können.“
Weil das künstliche Organ aber schrumpft, wenn es nicht
regelmäßig benutzt wird, muss es immer wieder geweitet werden. Meist haben die
Eltern den Kindern jahrelang einen Stab eingeführt. „Bougieren“ heißt das im
Fachjargon. Der gewünschte Effekt, nämlich eine Frau zu schaffen, die den Sex
mit Männern genießen kann, trat nach diesen Erfahrungen meistens nicht ein:
„Studienteilnehmer erzählten, das Schlimmste sei für sie die Penetration.“
Die Eltern lassen Gerda und ihren Geschlechtern freien Lauf
Als Gerda kräftig genug war, die Klinik zu verlassen, und
die Eltern sie mit nach Hause nahmen, war den Pietersens klar: Prozeduren wie
diese wollen wir unserem Kind unbedingt ersparen. Sofern kein medizinischer
Notfall vorliegt, sind Mediziner inzwischen zu Zurückhaltung bei
geschlechtsverändernden Eingriffen aufgerufen, die nicht rückgängig zu machen
sind. Dennoch machte der Arzt in der Spezialklinik von Rotterdam den Pietersens
ein verlockendes Angebot: „Wir haben alle Möglichkeiten: Wir können Ihnen einen
Jungen oder ein Mädchen machen.“
Die Pietersens haben es ausgeschlagen. Und sich entschieden,
abzuwarten. Das fiel nicht immer leicht. Bei einer Gonadendysgenesie besteht zum
Beispiel ein erhöhtes Risiko, dass sich an den Gonaden Tumore bilden. Die
Pietersens mussten also abwägen: Entartungsrisiko gegen ein Leben mit
Medikamenten und die Festlegung ihres Kindes auf das weibliche Geschlecht. Sie
wählten das Risiko, haben aber zugestimmt, dass die Ärzte Gerdas Hoden aus dem
Bauchraum in die Leistengegend verlegen und fixieren. „In der Leiste haben wir
das Tumorrisiko etwas besser im Griff“, sagt Anna Pietersen. Einmal im Jahr hat
Gerda einen Termin zum Ultraschall, jeden Monat kontrolliert ihre Mutter, ob
sich eine Veränderung ertasten lässt. Ansonsten lassen die Eltern Gerda und
ihren Geschlechtern freien Lauf.
Mit dem Anderssein hausieren gegangen
„Du bist beides“, haben sie Gerda gesagt. „Du kannst dir
dein Geschlecht später aussuchen.“ Die Pietersens wissen, dass sie ein Wagnis
eingehen, das vielen Eltern, die sie aus der Selbsthilfegruppe kennen, zu groß
ist. Manche entscheiden sich zu medizinischen Behandlungen, die ihre Kinder
mehr zum Mädchen oder zum Jungen machen. Anna Pietersen hat dafür Verständnis:
„Wir leben in einer Gesellschaft, die nur weiblich und männlich kennt.“ Eine
andere Mutter erzählt: „Als ich mit dem Kinderwagen spazieren ging, kamen die
Leute und fragten zuallererst: ,Was ist es denn: Mädchen oder Junge? “ Sie habe geantwortet: „Ich kann es nicht sagen. Aber habt keine Scheu, mich zu
fragen.“
Den Pietersens hatte eine Psychologin gesagt: „Wenn Sie Ihr
Kind offen erziehen, wird es immer anders sein. Und Kinder wollen nicht anders
sein.“ Bislang haben die Pietersens andere Erfahrungen gemacht: Gerda rede
sogar sehr gerne darüber, dass sie beides sei, als wäre sie stolz auf ihr Anderssein.
Im Alter von sechs Jahren, erzählt die Mutter, sei das Kind gewissermaßen mit
seiner Intersexualität hausieren gegangen. „Du musst ja nicht unbedingt jedem
Wildfremden davon erzählen“, habe sie ihm damals gesagt.
Entscheidung für die Jungen-Umkleide
Gerda hat lange blonde Haare und mag keine Kleider. Einen
rosa Pulli, sagt ihre Mutter, trage sie aber ab und zu ganz gern. Früher liebte
sie alles, was glitzert. „Aber das tat ihr großer Bruder auch, als er jünger
war“, erinnert sich die Mutter. Er wollte eine Kette tragen. Ihm habe sie
damals gesagt: „Nee, das ist doch eher was für Mädchen.“ Heute sei ihr klar,
dass man seine Kinder ganz subtil zu Mädchen und Jungen erziehe.
Die Pietersens haben immer wieder gesagt bekommen, wie
grausam Kinder zu Kindern sein können, die von der Norm abweichen. „Ich erlebe
Gerdas Schulkameraden und Freunde aber als sehr verständnisvoll“, sagt Anna
Pietersen. Momentan spielt Gerda lieber mit Jungen, und als sie vor der Wahl
stand, wo sie sich vor dem Sportunterricht umziehen wolle, habe sich die
Achtjährige für die Umkleidekabinen der Jungs entschieden. Einer der besten
Freunde ihres Kindes, erzählt Anna Pietersen und muss lachen, sage „Gerda“ und
spreche dann ganz selbstverständlich weiter von „ihm“.
Pubertät: Gerda wird wohl vermännlichen
Natürlich liegt die kritische Zeit noch vor ihnen. Wenn
Gerda auf die höhere Schule wechselt und dort auf Kinder trifft, die von
Intersexualität noch nie etwas gehört haben. Wenn die Hormone ins Spiel kommen,
kann sich ohnehin alles ändern. Dann geht es vermutlich nicht bloß um pinke
Accessoires. Die Ärzte haben Gerdas Gonade getestet: Sie wird in der Pubertät
im durchschnittlichen Maße männliches Testosteron produzieren. Gerda wird also
vermännlichen, obwohl die Geburtsurkunde von einer weiblichen Person kündet.
Vielleicht wird Gerda ihren Eltern später Vorwürfe machen,
warum man sie nicht schon früh zum Jungen gemacht habe. Oder doch zum Mädchen.
Anna Pietersen weiß um das Risiko. „Aber es ist doch so: Wir hätten bei allen
Entscheidungen wahrscheinlich immer fünfzig Prozent danebengelegen.“ Man habe
als Eltern doch ohnehin keine Garantie, dass man alles richtig mache.
Quelltext: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/intersexualitaet-mein-freund-gerda-12625194.html