Mittwoch, 16. März 2016

Hijras Das dritte Geschlecht // Hijras The Third Sex


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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2016

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HijrasDas dritte Geschlecht

Hijras entsprechen weder dem "typisch weiblichen" noch dem "typisch männlichen" Klischee. Sie sind ein drittes Geschlecht, dass seinen ganz eigenen Stil am Rande der Gesellschaft lebt. Traditionell sind sie in den südasiatischen Gesellschaften innerhalb der ihnen zugedachten Nischen akzeptiert. Trotzdem sind sie häufig Opfer von Diskriminierungen und Gewalt. Außerhalb der Region werden sie vorrangig mit dem Hinduismus in Verbindung gebracht, der islamische Faktor wird dagegen selten erwähnt. Ihr "Anderssein" birgt dabei Problematiken mit sich, die einigen feministischen und queeren Diskursen entgegenstehen. Vermehrt betreten sie den öffentlichen Raum und fordern Rechte für sich ein.

"Sie tauchen oft plötzlich auf, im Nu wird es laut und schrill – und wenn sie gegangen sind, fühlt man sich so, als hätte es einen aus einem kurzen aber heftigen Albtraum gerissen. Ich mag sie nicht, aber man muss nett zu ihnen sein, denn sie verfügen über magische Kräfte und können dich leicht verhexen", mein westbengalischer Sitznachbar im Zug schwieg für ein paar bedeutungsvolle Sekunden und schaute der grellen Truppe nach, die singend und scherzend durch den Gang unseres Wagons zog. Es war nicht meine erste Begegnung mit diesen eigentümlichen Gestalten gewesen, gleichwohl weckten seine Worte mein vermehrtes Interesse an ihnen.
Veraltete, westliche Begriffe wie Eunuch, Kastrat oder Zwitter sind auf die Hijras eher nicht zutreffend. Der Begriff vom sogenannten "dritten Geschlecht" (third gender) scheint mir für sie passender zu sein. Wenn ich von Hijras rede und schreibe, benutze ich trotzdem den femininen Genus, da ich das Neutrum in diesem Fall als respektlos halten würde und sie selbst sich zwar als Wesen, das weder Mann noch Frau ist, bezeichnen, gleichwohl aber weibliche Vor- und Kosenamen wählen.

Hijras - Begriff und Organisation des dritten Geschlechts

Es gibt keine genauen Zahlen über die Anzahl von Hijras in Südasien, Schätzungen belaufen sich auf 700.000 bis zu mehreren Millionen vorrangig in Indien, Bangladesch, Pakistan und Nepal. Neben dem Begriff der Hijra, der hauptsächlich im Urdu und Hindi verwendet wird, existieren auch andere Bezeichnungen wie Mukhannath oder Muhannas (arabische Bezeichnung für kastrierte Männer in Frauengestalt, bzw. weiblichen Seelen in Männerkörpern), Khusra (Panjabi), Alis (Tamil) und Hizra(Bengali). Hijras sind im hinduistischen und auch im muslimischen Umfeld anzutreffen. In den buddhistisch geprägten Gegenden Südasiens kommen sie - im Gegensatz zu den Kathoey, die sich im südostasiatischen Thailand oft selbst auch als Ladyboy bezeichnen - selten vor. Die heutigenKathoey weisen dabei durchaus einige Übereinstimmungen mit Hijras auf, da sie einerseits häufig Transsexuelle sind, d.h. biologisch als Männer geboren wurden, und sich gefühlsmäßig nicht als "männlich" empfinden, jedoch streben sie mehrheitlich eine geschlechtsanpassende Operation an, um äußerlich vollständig zu einer Frau zu werden (sogenannte Mann-zu-Frau-Transsexuelle oder auch Transfrauen).

Trotz ihrer weiblichen Kleidung haben Hijras unter anderem durch eine starke Behaarung oft ein eher männliches Erscheinungsbild. Ältere Hijras haben oft Glatzen und tragen selten Perücken. Nicht nur bei Auseinandersetzungen treten sie durchaus mit lauter, männlich-tiefer Stimme auf. Sie benehmen sich aus Sicht der Mehrheit der von einem traditionellen Frauenverständnis geprägten Südasiaten häufig nicht sehr "ladylike". So verkörpern sie wiederum teilweise auch Männerfantasien, für die "anständige" Frauen nicht zur Verfügung stehen. Ihre frechen Sprüche, offenes Spielen mit sexuellen Reizen und Flirten scheinen im starken Gegensatz zu den oberflächlich eher prüden Gesellschaften in Südasien zu stehen. Dies verstärkt den Eindruck, dass es sich bei ihnen eher um eine eigene Mischform handelt, die in ihrer Art und mit einer eigenen "Teils-Teils-und-Weder-Noch-Ausprägung", eine individuelle gesellschaftliche Nische besetzt. Dies steht im Gegensatz zu der dichotomen Frau-Mann-Aufteilung andernorts. So herrscht beispielsweise in Europa größtenteils die Auffassung vor, dass transsexuelle Menschen entweder ganz Mann oder Frau zu sein haben. Mischformen werden kaum akzeptiert, von dem z.B. durch David Beckham vorgelebten Modetrend der "Metrosexualität" abgesehen, der weniger einer sexuellen Ausrichtung als einem extravaganten Lebensstil entspricht.

Hijras sind nach traditioneller Sichtweise eine bestimmte Form von Mann-zu-Frau-Transexuellen, für die es früher bekanntlich keine Option zu einer geschlechtsanpassenden Operationen gab, die sich aber in der Regel einer Kastration unterzogen oder als Hermaphrodit geboren wurden. Hijras unterscheiden sich aus eigener Sicht von den sogenannten Kotis (homosexuelle Transvestiten, die ihre männlichen Geschlechtsteile behalten und die mit ihren Männern (Giriyas) in eheähnlicher Gemeinschaft zusammenleben und dabei die Frauenrolle übernehmen). Hijras können ebenfalls in eheähnlichen Beziehungen mit Männern leben, sind in der Regel jedoch integriert in eine Hijra-Kommune. In den letzten Jahren verschieben sich jedoch diese Schranken, Transvestiten und Transsexuelle definieren sich neuerdings zunehmend auch als Hijras, was diese größtenteils akzeptieren. Mit den neuen Möglichkeit der Hormontherapie, operativer Geschlechtsanpassungen und kosmetischer Chirurgie ergeben sich neue Möglichkeiten und Formen. Hijras sind mehrheitlich im städtischen Umfeld zu finden, wobei sie zu den ärmeren Bevölkerungsschichten gehören. Dies beruht einerseits auf ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung - entsprechend ihrer Akzeptanz des Status als Hijra können sie sich nur in dem Rahmen der ihnen zugedachten Rollen bewegen. Andererseits haben sie selber häufig nur einen sehr begrenzten Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, 70 bis 80 Prozent von ihnen können kaum oder gar nicht lesen und schreiben. Viele kommen aus einem armen Umfeld und/oder wurden von ihren Familien verstoßen, um Spott und Häme von der Familienehre abzuwenden.

Hijras leben meistens in eigenen Gemeinschaften oder Kommunen, die hierarchisch geordnet sind. Mehrere Hijras folgen dabei als Chela (Schüler) ihrem Guru, diese Hijra leitet die lokale Gemeinschaft und ist wiederum überregionalen Nayaks unterstellt, die eine spirituelle Leitfunktion ausüben. Das Geld verwaltet meistens die Guru-Hijra, anderer Besitz wird zum großen Teil geteilt. Die Verwendung maskuliner Termini - ChelaGuru und Nayak - zur Bezeichnung interner Hierarchien im Gegensatz zu ihren bevorzugten femininen Vornamen und Verwandtschaftskategorien scheint dabei wiederum auf eine Zwischenstellung der Hijra zu verweisen.

Das Kastrationsritual

Die Mehrheit der Hijras Südasiens durchschreitet noch immer den schmerzhaften Weg der Kastration außerhalb jeglicher medizinischer Versorgung, zumal diese Operation Ärzten offiziell verboten ist, im Gegensatz zu Sterilisationseingriffen. Vielen fehlt schlicht das Geld und das Wissen über andere Möglichkeiten. Außerdem ist die halböffentliche Kastration als Ritual der Transformation in das dritte Geschlecht innerhalb traditionell ausgeprägter Hijra-Gemeinschaften noch immer sehr verbreitet. Inwiefern Hijras innerhalb ihrer Gemeinschaft vor oder ohne Kastration, z.B. im Falle von Intersexualität, als vollwertige Hijras anerkannt werden, ist schwer allgemeingültig zu bestimmen, da es regionale Unterschiede gibt.

Es gibt verschiedene Kastrationsrituale. Im folgenden soll die traditionelle Form des Rituals beschrieben werden, von der die meisten Berichte und Schilderungen existieren und welche vornehmlich in Westindien und im südlichen Pakistan praktiziert wird.

Über den geeigneten Zeitpunkt zur Kastration entscheidet hierbei die älteste Hijra, die zugleich die Position des Gurus innerhalb der lokalen Hijra-Gemeinschaft einnimmt. Die zu kastrierende Person hat zu diesem Zeitpunkt in der Regel schon einen längeren Zeitraum innerhalb der Gemeinschaft gelebt und hat einerseits ihre Eignung hierfür bewiesen und andererseits mehrfach ihre Bereitschaft für diesen endgültigen Schritt bekundet. Berichte über die Entführung von Jungen, die dann schnell "entmannt" wurden, werden zwar gerne von Außenstehenden erzählt, konnten aber in keinem Fall nachgewiesen werden.
Steht der Termin für das Ritual fest, so beginnt für die betroffene Person eine Fastenzeit, zugleich werden im Vorfeld häufig Opiate konsumiert, so dass am Tag des Rituals der Proband sich in einem berauschten Zustand befindet. In die Vorbereitungen im Vorfeld als auch in die eigentliche Kastration bzw. die zahlreichen rituellen Handlungen ist die gesamte Gemeinschaft involviert und Mitglieder benachbarter Hijra-Gemeinschaften werden dazu eingeladen.

Beim entscheidenden Ritual versammeln sich zahlreiche Hijras meistens in einem Hinterhof um die zu kastrierende Person. Dieser werden Hodensack und Penis abgeschnürt und dann mit einem Messer in einer bogenförmigen Bewegung abgeschnitten. Die versammelte Menge ruft im hinduistischen Kontext derweil Muttergottheiten an und fleht für das Gelingen, im muslimischen Kontext werden insbesondere Sufi-Heilige um Beistand gebeten. Nach dem Schnitt wird ein kleines Holz- oder Metallröhrchen in den Harnleiter eingefügt damit dieser beim Schließen der Wunde geöffnet bleibt. Die Wunde wird nicht sofort abgedeckt damit das Blut den Rest der Männlichkeit symbolisch hinausspült, teilweise wird dies auch als rituelle Menstruation angesehen. Schließlich wird heißes Öl über die Wunde gegossen und eine Kompresse mit Heilkräutern angelegt um den Heilungsprozess zu beschleunigen. Die zurückbleibenden Narben sind allerdings zumeist groß und entstellend. Wundinfektionen kommen häufig vor. Eine Geschlechtsanpassung findet hierbei nicht statt und ist auch nicht beabsichtigt, etliche Hijras haben nach dieser Kastrationsform Probleme mit der Kontrolle des Harnhaltens.

Da das Kastrationsritual offiziell verboten ist, jedoch von der lokalen Polizei meistens geduldet wird, bewegen sich die Beteiligten dabei in einer Grauzone und für die betroffene Hijra besteht erhebliche Lebensgefahr. Problematisch sind hierbei insbesondere die mangelhaften hygienischen Zustände bei der Kastration und bei den "Operationsinstrumenten", es fehlt an medizinisch-chirurgische Kenntnisse, zudem kann beim Auftreten von Komplikationen in den seltensten Fällen medizinische Nothilfe in Anspruch genommen werden. Einerseits reicht das Geld selten für eine Krankenhausbehandlung und die nötigen Bestechungsgelder können aufgrund des meldungspflichtigen Vorfalls auch nicht aufgebracht werden.

Mythologischer Hintergrund


Bei der mythologischen Betrachtung der Hijras dominiert in der westlichen Literatur der hinduistische Hintergrund, da der Hinduismus in seiner starken Vielfalt scheinbar sehr gute Erklärungsansätze bietet. Der ebenfalls wichtige muslimische Faktor wird dagegen eher selten erwähnt, obwohl der südasiatische Islam auch sehr verschiedene Formen und Ausprägungen beinhaltet, der wichtigen Einfluss auf die Hijra-Gemeinschaften ausübt. Rund die Hälfte der Hijras sind Muslims.
Die hinduistische Mythologie ist reich an Göttern und mystischen Wesen, die ihre geschlechtliche Identität wechseln, außerdem gibt es viele Zwitterwesen und jeder männlichen Kraft steht ihr weiblicher Konterpart entgegen, oftmals wiederum in ein und derselben Gottheit vereint.

Im Epos des Mahabharata finden sich mehrere Geschichten, die als mythologischer Ursprung der Hijras herangezogen werden können. Am verbreitetsten ist die Geschichte von der Hochzeit Avaranans, welche beim größten Hijra-Festival Indiens im Frühjahr jeden Jahres im Tempel von Koovagam, 250 km südlich von Chennai im Unionsstaat Tamil Nadu zelebriert wird. Avaranan, Sohn des Helden Arjuna, sollte in der darauffolgenden Nacht in einer Schlacht zwischen den Brüdern Pandava mit ihren Cousins Kaurava geopfert werden, um einen taktischen Vorteil zu erlangen. Jedoch wollte man nicht, dass er als Junggeselle stirbt. Allerdings gab es Schwierigkeiten eine geeignete Braut zu finden, denn niemand wollte seine Tochter verheiraten, damit diese tags darauf schon mit dem Stigma der Witwenschaft behaftet sei. Krishna erbarmte sich in dieser Situation, verwandelte sich in die schöne Mahoni, heiratete Avavaran und vollzog wohl auch die Ehe. Als sein Gatte dann starb, warf Krishna die Heiratssymbole (goldenes Eheband, Blumengirlande, Zehenringe und Glasreifen) gemäß des Trauerrituals in das Feuer des Scheiterhaufens. Allerdings verwandelte er sich nicht zurück in einen Mann und blieb in der Frauengestalt gefangen.

Dieses Schicksal ereilt Krishna auch in einer anderen Geschichte. Parvati, Ehefrau des Gottes Shivas, wird von einem König begehrt. Als sie in einem See badet, versucht dieser ihr nachzustellen. Krishna, der dies verhindern will, nimmt die Gestalt Parvatis an und der lüsterne König erlebt so eine erotische Begegnung mit der falschen Parvati. Auch in diesem Fall kann sich Krishna nicht mehr retransformieren. Einige Hijras deuten letztere Geschichte jedoch etwas anders und meinen, Krishna wollte sich nachdem Erlebten gar nicht mehr in einen Mann zurückverwandeln. Die vielfach Hijras zugedachte Zauberkraft im Hinduismus resultiert aus dem Glauben daran, dass zugleichen Teilen in ihnen männliche und weibliche Energie eingeschlossen ist, wobei dennoch beide kein neues Leben durch Geburt schenken können, was die Zaubermacht noch verstärkt .
Im Islam dominiert dagegen eher die mystische Seite. Hier geht man von einer weiblichen Seele aus, die in einem männlichen Körper gefangen ist. Ihre besonderen Kräfte resultieren daraus, dass ihre Gebete besonders kraftvoll sind, da Gott sie dafür entschädigt, dass sie weder Kinder bekommen noch in einer normalen Familie leben können. Sie sollen außerdem in der Tradition der Eunuchen stehen, die das Grab des Propheten Mohammed und die heilige Moschee in Mekka bewachten. Etliche hochrangige Hijras betonen Teil einer Gemeinschaft zu sein, die in den frühen Zeiten des Islam bis ins maurische Spanien reichte. 

Zahlreiche Sufi-Heilige und Derwische bezeichneten sich als Bräute Gottes, so wie z.B. etliche Anhänger des Suhrawardiyya-Suhagiyya-Sufi-Ordens oder auch der Sufi-Dichter Yatim Shah sowie zahlreiche andere historische Personen. Beim Urs-Festival von Khawaja Moinuddin Chisti in Ajmer versammeln sich Hunderte Hijras aus Pakistan und Indien (siehe auch Von heiligen Männern und ihrer "Heirat" mit Allah). Viele Hijras aus Südasien zelebrieren auch die Hadj nach Mekka.

Viele Sitten und Gebräuche ähneln sich stark innerhalb der südasiatischen Hijra-Gemeinden. Häufig wird auch ein synkretistischer Glauben praktiziert. Viele Sufi-Mystiker werden auch von hinduistischen Hijras verehrt und muslimische Vornamen scheinen sich ganz besonderer Beliebtheit zu erfreuen. Gemeinsamkeiten haben sie auch am Ende ihres Lebens, denn Hijras werden stets beerdigt und nicht verbrannt.


Geschichtliche Rolle der Hijras Südasiens

Neben ihren mystischen Kräften und damit verbundenen religiösen Dienstleistungen waren Hijras im hinduistischen Kontext anscheinend schon immer im weitergefassten Unterhaltungsbereich tätig, sei es als Sängerinnen und Tänzerinnen oder - wie u.a. im Kamasutra geschildert - auch als Tempelprostituierte. Im Kastenwesen waren sie weit unten angesiedelt, genossen aber eine kultische Sonderstellung, da sie weder Mann noch Frau sind.

Im muslimischen Kontext erhielten viele Hijras einen gehobeneren Status. Sie bewachten die Frauengemächer, arbeiteten als Dienerinnen, erzogen die Kinder, lehrten häufig auch den Koran. Zahlreiche Hijras gelangten auch in einflussreiche Positionen und übten wichtige politische Ämter aus oder wirkten auch im muslimischen Kontext im bereits erwähnten Unterhaltungsbereich.
Mit der britischen Herrschaft veränderten sich viele Bedingungen für Hijras. Kastrationen wurden verboten und gelegentlich hart bestraft. Die Kriminalisierung von jeglicher Homosexualität als sodomistische Handlung traf insbesondere Hijras. Tausende wurden oft willkürlich verhaftet. Das koloniale System des British Raj verdrängte sie aus angesehenen Positionen und zwang sie in die gesellschaftlichen Nischen, so dass ihnen außer im Unterhaltungsbereich nahezu keine Betätigungsfelder mehr offen waren. Die Unabhängigkeit brachte keine Besserung ihrer Situation, da die diskriminierenden kolonialen Gesetze ihre Gültigkeit behielten und die herrschenden Eliten und weite Teile der Gesellschaft die viktorianischen Prüderie längst verinnerlicht hatten.

Kleine Lichtblicke, wenig Besserung – heutige Lebenssituation von Hijras

Noch immer führen Hijras ihr Leben am Rande der Gesellschaften Südasien, ihre Diskriminierung hält weitestgehend an. Andererseits wandelt und öffnet sich die Hijra-Gemeinschaft ihrerseits und bindet so neue Kräfte ein. Hijras können sich in den seltensten Fällen für "hijra-untypische" Berufe bewerben. Wachleute hindern sie schon am Betreten von Büros und jedes Formular fragt danach, ob man weiblich oder männlich ist. Die meistens Berufe sind für sie weiterhin traditionell tabu. Die Analphabetenquote unter ihnen ist sehr hoch, viele mussten ihre Schulausbildung abbrechen und kommen aus den ärmsten Schichten, noch wenige beherrschen das Englische und haben Zugang zu Informationen oder können überregionale Netzwerke für ihre Interessenvertretung bilden. Die medizinische Versorgung ist in der Regel für sie weiterhin sehr prekär.
Sie werden oft Opfer von sexueller Gewalt durch Kriminelle und Zuhälter, sofern sie keinen Rückhalt durch eine starke Hijra-Gemeinschaft vor Ort haben. Außerhalb ihrer oft ghettoartigen Kommunen sind der Missbrauch durch Polizei und andere Sicherheitskräfte leider der Normalfall. (vgl. Homosexualität und Menschenrechte in Indien)
So gehen sie ihrem "normalen Handwerk" nach, versammeln sich vor Läden und treiben ihre Späße mit den irritierten Kunden bis der Ladenbesitzer sie mit einer Spende zum Weitergehen bewegt und ziehen bettelnd durch Züge. In den Städten erfahren sie über ein lokales Netzwerk von Geburten und Hochzeiten, kommen dann ungefragt, sofern sie nicht an sich geladen sind, und tanzen und singen vor dem Haus bis man sie einlässt, um das Neugeborene zu segnen. Insbesondere bei der Geburt von Intersexuellen hat dies einen historischen Grund, der aber teilweise noch heute relevant ist: War das Neugeborene offensichtlich intersexuell, so nahmen sie es auf und wandten so gesellschaftliche Missachtung oder Spott von der Familie ab und retteten so teilweise auch das Leben des Kindes, das sonst nicht selten vernachlässigt oder weggesperrt worden wäre. Dies geschieht gelegentlich noch heutzutage, insofern nehmen Hijras auch in diesem Bereich eine soziale Funktion war.

In pakistanischen Metropolen unterhalten einige Ehemänner eine außereheliche Beziehung zu einer Hijra, was nach einigen Traditionen nicht als Ehebruch gilt. Die Ausbreitung sehr strikter bis hin zu extrem-islamistischen Strömungen führt allerdings zu vermehrten gewaltsamen Übergriffen auf Hijras.
Die Mehrheit der Hijras in Südasien muss daneben der Prostitution nachgehen. Es gibt keine gesonderten Erhebungen über die HIV-Quote bei Hijras, aber in Mumbai beispielsweise wird insgesamt von einer Quote von mindestens 60 Prozent HIV-Infizierten unter den SexworkerInnen ausgegangen. In diesem Bereich droht ihnen zudem noch die sogenannte "trans / gay panic" durch Freier. Dies ist eine Ausrede mit der Freier ihre gewaltsamen Vergehen an Hijras gegenüber der Polizei und Gerichten verteidigen, weil sie angeblich die Hijras zuerst für Frauen hielten und dann in Wut über die "böswillige Täuschung" oder scheinbare "perverse Anmache" ausgerastet seien. Diese Ausrede wird von den Sicherheitskräften und der Judikative meistens akzeptiert. Hijras, die Übergriffe anzeigen wollen, droht häufig Spott bis hin zu Vergewaltigungen durch die Polizisten selbst.

Aber es gibt auch kleine Fortschritte: Hijras haben häufiger Auftritte in der Gesellschaft und in Filmen, einige thematisieren sogar das Leben von Hijras. So handeln etwa die Filme "Darmiyaan" und "Tamanna" vom Leben der Hijra Tikku. "Darmiyaan" erzählt die Geschichte ihrer Jugend und von der Beziehung zu ihrer Mutter, einer einst in den 1940er Jahren erfolgreichen Bollywoodschauspielerin, und in "Tamanna" nimmt sich Tikku, die inzwischen als Maskenbildnerin in Bollywood arbeitet, eines ausgesetzten Mädchens an. Um die Erziehung von Tamanna zu bezahlen, gründet sie mit mehreren Hijras eine Wohngemeinschaft – und als Tamanna entführt wird, halten alle zusammen und kämpfen für die Befreiung des Mädchens. In anderen Bollywood-Filmen treten sie allerdings eher zur Belustigung des Publikums auf und hierbei kommt es zur Bedienung von herrschenden Klischees. Zunehmend erobern sie sich jedoch andere Räume. In den letzen Jahren wurden in Indien zahlreiche Schönheitswettbewerbe für Hijras veranstaltet über die in der Presse ausgiebig berichtet wurde. In einigen Modeschauen liefen sie zusammen mit normalen Modells über den Laufsteg, wobei es sich bei diesen Veranstaltungen vielfach eher um gezielte Schockeffekte geschickter Marketingfachleute als um wahre antidiskriminierende Absichten dahinter handelte.

Einige Hijras betreten zunehmend die politische Bühne. Als Galionsfigur diente hierfür Shabnam Mausi, die ins Parlament des indischen Unionsstaates Madhya Pradesh einzog. Ihr folgten weitere Hijra-Politikerinnen, wie Asha Devi, Bürgermeisterin der mittelgroßen Stadt Gorakhpur und ihre Amtskollegin Kamala Jaan in Katni. Auf lokaler Ebene betätigen sich zunehmend Hijras, nicht nur in Indien - auch in den anderen südasiatischen Staaten -, auf die große politische Bühne hat es allerdings (noch) keine geschafft.
Wenn auch noch im kleinen Rahmen vernetzen sich Hijra-Aktivistinnen. Nationale Netzwerke in Indien, Pakistan, Bangladesch und Nepal sind in naher Zukunft unwahrscheinlich. Ein südasiatischer Zusammenschluss wird - falls er je realisiert werden könnte – noch erheblich länger auf sich warten lassen. Unterstützung erfahren Hijras nur in einem sehr geringen Maße, meistens im Kontext von AIDS-Präventionsprogrammen. Problematisch gestaltet sich ebenfalls die Zusammenarbeit im Bereich der Kooperation mit einigen Frauenrechtlerinnen, die teilweise den Hijra vorwerfen, der sexuellen Ausbeutung vorrang zu leisten. Vielen Hijras fehlt wiederum einfach der Zugang zu vielen Thematiken, da sie sich selber nicht als Frauen definieren sondern als drittes Geschlecht. So fordern sie keine besseren Frauenquoten, sondern eigene Quoten für sich und auch im Bereich von Erbrechten u.ä. nehmen sie konträre Positionen ein. Einige Aktivistinnen für Lesbenrechte kritisieren, dass ein Teil der Hijras lesbische Liebe argwöhnisch beäugen, wenn sie ihr nicht sogar aus einer traditionalistischen männlich-chauvinistischen Sichtweise ablehnend gegenüberstehen. In Bezug auf schwule und transsexuelle Diskurse verhält es sich ähnlich, wenn hier allerdings mehr Berührungspunkte bestehen. Generell wird von vielen Hijra-Aktivisten befürchtet, dass sie von bestimmten Seiten für deren Interessen vereinnahmt werden sollen und dabei ihr eigener gesonderter Status jenseits der sexuellen Dichotomie verloren ginge.
Vorerst aber bleibt ihnen ihre Besonderheit erhalten. Ihre unübersehbare Anwesenheit in Zügen und Basaren wird weiterhin ihre Mitmenschen irritieren. Sie werden weiter mit Diskriminierungen leben müssen.


Hijras - das selbstbewusste «dritte Geschlecht»

Weibliche Seele, männlicher Leib

Die südasiatische Tradition geht seit Jahrtausenden von drei Geschlechtern aus: Neben Männern und Frauen gibt es «Hijras», Menschen mit männlichem Körper und weiblicher Seele. In Indien leben etwa vier Millionen, in Pakistan einige hunderttausend.
Eine Schar kunterbunter Wesen bewegt sich singend, tanzend und händeklatschend auf eine prachtvolle Villa in Lahore zu, in der man eine Hochzeit feiert. Es ist eine ohren-, augen- und nasenbetäubende Schar von Paradiesvögeln, und ein Fremder könnte glauben, es handele sich um ausgelassene, leicht hysterische Frauen, doch auf den zweiten Blick erkennt er, dass es sich um Knaben und Männer handelt, die wie Frauen gekleidet, geschmückt und geschminkt sind. Sie sind zum Fest gekommen, um den Bräutigam zu segnen und dafür üppige Gaben in Empfang zu nehmen.
Auf den ersten Blick sind Hijras Männer in Frauenkleidern. Es sind also Transvestiten? Nein, denn während die meisten westlichen Transvestiten sexuell Frauen bevorzugen, häufig verheiratet sind und sich nur hin und wieder, oft nur heimlich als Frauen herrichten, leben die Hijras nach dem Eintritt in die Gemeinschaft immer als «Frauen», ihre Partner sind Männer oder Hijras. Was sind Hijras also? - Farrah, geboren als Ahmed, etwa 35 Jahre alt und seit über 20 Jahren in der Hijra-Gemeinschaft, erklärt es: «Wir sind weder Mann noch Frau. Wir haben einen männlichen Körper, aber eine weibliche Seele.»

Geschlossene Gemeinschaft
Wir sitzen in einer armseligen Gegend von Karachi in einem winzigen Zimmer, das Farrah sich mit Balli, einer anderen Hijra, teilt. Wie die meisten Hijras sind die beiden der Gemeinschaft in ihrer Jugend beigetreten: «Wir sind als Hijras geboren und fühlten schon mit fünf oder sechs Jahren, dass wir keine Knaben sind», erklärt Farrah. Sie haben, wie es der Tradition entspricht, Frauennamen angenommen, sich eine Guru, eine «Meisterin», gewählt, und tragen seitdem nur noch Frauenkleider, langes Haar und jede Menge Make-up. Seit vielen Jahren leben die beiden im Haus ihrer Guru zusammen mit fünf anderen «Töchtern» in einer Hijra-«Grossfamilie».

Die uralte, mächtige und respektierte Hijra- Meisterin Farzana verwaltet ihre Familie und ihr Haus mit eiserner Faust. Jedes Hijra-Haus, auch das Farzanas, besitzt seit Jahrzehnten ein genau abgegrenztes Gebiet, das die Guru kontrolliert und in dem die «Töchter» arbeiten. Traditionell verdienen die Hijras ihr Geld auf dreierlei Art: nachmittags durch das Einsammeln von «Gaben» im Basar ihres Gebietes, abends durch Segnen eines Bräutigams oder eines neugeborenen Sohnes und nachts durch Prostitution. Ihre Klientel sind «normale» Männer, die sich neben ihrer Ehefrau noch eine Hijra gönnen, oftmals in einer jahrelang andauernden Liebesbeziehung.
Prostitution, die normale wie die homosexuelle, ist im streng islamischen Pakistan verboten; ein Polizist habe ihr einmal die Verhaftung wegen unsittlichen Verhaltens angedroht, erzählt Farrah, und da habe sie einfach gesagt: «Mein Hintern gehört mir und nicht dem Staat Pakistan, und dabei bleibt es auch!» Die Sprache ist die Waffe der schlagfertigen, ansonsten meist friedlichen Hijras, die zu 80 Prozent Analphabeten, pardon, Analphabetinnen sind.

Die Geschichte der pakistanischen Hijras wurzelt in der indischen Kultur. Bereits um 1000 v. Chr. erwähnten altindische medizinische Texte die Existenz eines «dritten Geschlechts», welches dann entstehe, wenn die Zeugungssubstanz des Vaters und die der Mutter in genau gleicher Quantität vorhanden seien. Auch alte Rechtstexte beschäftigen sich mit dem dritten Geschlecht, dessen Angehörige nicht erbberechtigt waren, keine Opfer vollziehen durften und aus der Kaste ausgestossen wurden. Das heisst, das dritte Geschlecht war diskriminiert, aber in seiner Existenz anerkannt. - Die Spaltung des Subkontinents am Ende der britischen Kolonialzeit betraf dann auch die Hijra-Gemeinschaft; doch trotz seiner streng muslimischen Ausrichtung hat Pakistan die organisierte und starke «Subkultur» der Hijras akzeptieren müssen - wohin mit den Hunderttausenden? -, und auch das Volk war und ist ja daran gewöhnt. Die pakistanischen Hijras sind selbst ebenfalls Muslime, und nach ihrem Glauben ist ihr drittes Geschlecht der Wille Allahs.
Was macht das dritte Geschlecht aus, frage ich Farrahs Langzeitliebhaber, einen hochgewachsenen Paschtunen mit stachelbeergrünen Augen. Er lacht verlegen und meint, na ja, Hijras seien keine echten Männer, es fehle ihnen das . . . Entscheidende. Er spielt darauf an, dass sich viele Hijras, aber beileibe nicht alle, kastrieren lassen. Dies zeigt, dass viele Hijras den westlichen Transsexuellen verwandt sind, die sich im falschen Körper gefangen sehen und unbedingt Frauen werden wollen. Während im Westen eine operative Angleichung an das Wunschgeschlecht erfolgt, lassen sich Hijras auf eigenen Wunsch von ihrer Guru kastrieren, und auch dies hat eine lange Tradition.

Die in Indien und Pakistan immer wieder vorgebrachten Anschuldigungen, Hijras raubten Knaben und kastrierten sie gewaltsam, müssen als Versuche verstanden werden, die Hijras zu kriminalisieren und ihre Ausgrenzung zu rechtfertigen; alle kastrierten Hijras, die ich in Indien und Pakistan traf, hatten dies aus einem inneren Bedürfnis heraus getan, ebenso freiwillig, wie sie der Gemeinschaft beigetreten waren. Aber viele lehnen den Eingriff ab, und Farrah nimmt weder weibliche Hormone (was viele Hijras tun, um ihren Körper zu verweiblichen), noch strebt sie eine Kastration an: «Meine Seele ist eine Frau. Mein Körper ist mir egal; du siehst, ich kann ihn durch Kleider und Schmuck in eine Frau verwandeln.»

Spielarten und Regeln

Nicht alle Hijras sind mit Transsexuellen vergleichbar. Einige sind eher Transvestiten oder Männer mit homosexueller Neigung. Wie die westliche «gay scene» ist ihre Gemeinschaft ein Raum, in dem sich Männer mit verschiedenen Neigungen und unterschiedlichem Selbstverständnis zusammenfinden. Hijras kann man am ehesten als «Transgenders» bezeichnen, als Menschen, die ihr biologisches und soziales Geschlecht aus einem tiefen Bedürfnis ablehnen und daher überschreiten und die es in allen Kulturen und zu allen Zeiten gegeben hat. Im Gegensatz zu westlichen «Transgenders» sind Hijras aber keine unsichtbaren Einzelkämpferinnen, sondern seit Jahrtausenden «familiär» organisiert und in der Gesellschaft präsent.
Der Hijra-Kodex, eine Sammlung ungeschriebener Regeln, verpflichtet alle in die Gemeinschaft Eingetretenen zum Tragen von Frauenkleidern und weiblichen Frisuren. So sehen sie zwar oft Frauen zum Verwechseln ähnlich, aber es geht ihnen nicht darum, der Gesellschaft etwas vorzutäuschen. «Nein», meint Farrah, «jeder soll sehen, dass wir Hijras sind, wir sind stolz darauf!» Und Hijras kann man schon von weitem sehen. Laut in die Hände klatschend, ziehen sie nachmittags durch «ihren» Basar, machen vor den Lädchen, in denen sich Kunden befinden, obszöne Gesten und führen unflätige Reden. Die Hijras, das weiss jeder, ziehen erst ab, wenn der Ladenbesitzer ihnen Geld gegeben hat, meist 10 oder 20 Rupien. Sie beleidigen und spotten aber nicht etwa aus einem inneren Bedürfnis heraus, sondern weil es die Tradition so will. Es ist ihr Job.
Hijras gelten als gefährlich. Sie können nämlich nicht nur segnen, sondern auch verfluchen. Selbst mit dem Fluch der Kinderlosigkeit belegt, können sie, so glaubt man, dieses Leid als Waffe gegen alle verwenden, die sie verspotten oder ihnen Gaben verweigern. Fast jeder in Pakistan fürchtet den Fluch «Du sollst kinderlos sein!» Oder: «Du sollst impotent werden!» Aber Hijras segnen viel öfter, als dass sie verfluchen, denn nur für eine Segnung bekommen sie Geld, und zwar bis zu 1000 Rupien (was etwa 15 Franken entspricht, aber die Kaufkraft von etwa 300 Franken hat).

Das Verhältnis der Pakistaner zu ihren Hijras ist widersprüchlich: Von einigen Menschen werden sie akzeptiert, von anderen gehasst, von vielen gefürchtet, von manchen bewundert, von wenigen geliebt, von vielen verspottet, von niemandem eingeladen; sie gelten als unrein, und niemand, mit Ausnahme ihrer Freier, würde mit ihnen essen. Letztlich leben sie in einem Ghetto, das ihnen Heimat ist, und «Nur eine Hijra versteht eine andere Hijra!», so Farrah. Auch für mich, die ich Monate mit ihnen lebte, blieben die Hijras geheimnisvoll und unverständlich, und als ich einmal eine kühne Behauptung anzweifelte, warnte Farrah mich verschmitzt: «Sei bloss vorsichtig, denn alle Hijras lügen!» «Nein», protestierte Balli aus dem Hintergrund, «das stimmt nicht!» «Siehst du?», lachte Farrah, die immer das letzte Wort hatte.



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