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und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2016
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Grenzverläufe zwischen den
Geschlechtern
Ob zwei oder mehr Geschlechter anerkannt werden, ist vom
jeweiligen kulturellen Kontext abhängig. In vielen Gesellschaften, vor allem
außerhalb Europas, unterscheiden sich Geschlechterkonstruktionen von den uns
bekannten Mustern.
Was einen Mann oder eine Frau ausmacht, ob zwei oder mehr
Geschlechter anerkannt werden, inwieweit Körper, Sexualität und soziale Rollen
als konstitutiv für Geschlecht gelten - all dies ist vom jeweiligen kulturellen
Kontext abhängig und unterliegt Prozessen des kulturellen Wandels. In vielen
Gesellschaften, vor allem außerhalb Europas, unterscheiden sich
Geschlechterkonstruktionen und auch die Grenzverläufe zwischen den Kategorien
"Mann" und "Frau" von den uns bekannten Mustern, gibt es
temporäre oder auch dauerhafte Alternativen zu geschlechtlicher Eindeutigkeit,
die als "drittes Geschlecht" bekannt wurden. Anhand einiger
prominenter Beispiele sollen im Folgenden die Besonderheiten, aber auch die
Gemeinsamkeiten des Phänomens erläutert werden.
Zu den bekanntesten Formen des dritten Geschlechts gehören
die indischen hijras, die in vielen lokalen Diskursen als Intersexuelle bezeichnet
und mit einer vergangenen göttlichen Ordnung in Verbindung gebracht werden, von
der man annimmt, dass sie ungleich besser war als die Gegenwart, weil sich die
Gegensätze der Welt noch nicht herausgebildet hatten. Hijras gelten als mit
übernatürlichen Kräfte begabt, die sie zum Guten oder zum Bösen einsetzen
können. Eine ihrer vornehmsten Aufgaben besteht darin, Neugeborene zu segnen
und die Kontinuität menschlicher Fruchtbarkeit zu sichern. Zu diesem Zweck
besuchen sie Familien, in denen gerade ein Kind geboren wurde, tanzen, singen
und führen Imitationen der Geburtsszene auf. Religiöse Handlung und
Entertainment gehen dabei Hand in Hand. Für ihre Dienste erhalten sie
Naturalien und Geld. Wie sehr diese Entlohnung im Vordergrund der Aktivitäten der
hijras steht, wird daran ersichtlich, dass es auf solchen Festen häufig zu
Streitigkeiten über die Höhe der Bezahlung kommt und dass hijras nicht nur auf
Einladung einer Familie erscheinen. Sie ziehen eigenständige Erkundungen über
zu erwartende Entbindungen ein und kommen, wenn eine Einladung ausbleibt, auf
eigene Initiative. Diejenigen, die den bezahlten Segen verweigern, bedrohen sie
mit einem Fluch. Säuglinge mit unbestimmtem Geschlecht sollen, so sagt man, von
den hijras als ihresgleichen mitgenommen und in ihren Gemeinschaften aufgezogen
werden.
Entgegen dieser idealisierten Konzeption spirituell
begnadeter Intersexueller werden die meisten hijras allerdings nicht mit
uneindeutigem, sondern mit eindeutig männlichem Geschlecht geboren. Sie sind
Homosexuelle oder Transsexuelle, die hijras werden, da die indische
Gesellschaft sexuelle männliche Devianz nur in dieser Form akzeptiert. Einige
von ihnen lassen sich kastrieren. Die Ethnologin Serena Nanda vergleicht die
kastrierten hijras mit dem Gott Shiva, der sich selbst kastrierte und seinen
zur Erde geschleuderten Phallus zu einem reinen Symbol der Fruchtbarkeit
transformierte.
Ob entmannt oder intersexuell, hijras haftet in jeder der
beiden Formen ein Aspekt des Göttlichen an: Sind sie Intersexuelle, so gelten
sie von Natur aus mit dem Heiligen gezeichnet und stehen der Göttin nahe; sind
sie Männer, so bringen sie sich selbst zum Opfer und symbolisieren die
vollkommene Hingabe.
Aller Heiligkeit zum Trotz ist der Alltag der hijras durch
ein Leben am Rand der Gesellschaft gekennzeichnet. In der Vergangenheit dienten
sie als Haremswächter, Ratgeber und Narren an den Höfen der Mogule, und es war
ihnen erlaubt, obszöne und beleidigende Reden zu führen, ohne dafür zur
Rechenschaft gezogen zu werden.
Auch heute noch ist ihr gesamtes Auftreten burlesk,
provokativ und strotzt vor sexuellen Anspielungen. Damit Segnungen allein der
Lebensunterhalt nicht bestritten werden kann, arbeiten hijras primär als
aggressive Bettler und Prostituierte und drohen damit, ihr unverhülltes
kastriertes Genital zu entblößen, wenn man ihnen die geforderten Almosen
verweigert. Ihre Gemeinschaften, stets unter Führung eines Gurus, gleichen
organisierten Bordellbetrieben, in denen Ausbeutungsstrukturen vorherrschen und
die Führerinnen sich auf Kosten der anderen Mitglieder bereichern.
Obwohl der religiöse Hintergrund des Phänomens gern in den
Vordergrund gestellt wird, ist die Motivation, hijra zu werden, nur selten
religiös begründet. In einem eindrucksvollen Dokumentarfilm hat Michael Yorke
einige hijras über einen längeren Zeitraum beobachtet und herausgearbeitet,
dass sich in dieser Institution ein gesellschaftlich akzeptiertes Lebensmodell
für männliche Homosexualität verbirgt, für das in der konservativen indischen
Gesellschaft kein Platz ist.
Dies gilt allerdings nur für Homosexuelle, die einen
weiblichen Part für sich beanspruchen, Personen, die wir in unserem
Kategoriensystem als Mann-zu-Frau-Transsexuelle bezeichnen. Für sie stellt die
Gemeinschaft der hijras einen Schutzraum oder sogar eine neue Familie dar, die
einen Ersatz für das Zuhause bietet, dass sie verlassen mussten. Hier können
sie ihre Vorliebe für weibliche Kleidung und Make-up ausleben, eine neue
Identität und einen angemessenen Rahmen für ihre erotischen Passionen finden.
Häufig definieren sie ihre Entmannung auch als Beweis ihrer Hingabe an ihren
männlichen Geliebten - für den sie ganz Frau sein wollen - und erwarten im
Gegenzug für ihr Opfer seine Treue. Das angestrebte Ideal orientiert sich an
der heterosexuellen Beziehung, und manche hijras adoptieren sogar Kinder, für
die sie die Rolle einer Mutter übernehmen.
Obgleich das Phänomen der hijras im hinduistischen Kontext
angesiedelt ist, hat die Religion keine konstituierende Funktion. Es gibt nämlich
ein pakistanisch-muslimisches Äquivalent, das khusra genannt wird. Wie von
hijras erzählt man sich von khusras, sie wären eigentlich Intersexuelle und
würden intersexuelle Babys von deren Eltern fordern und in ihre Gemeinschaften
integrieren. Die Anthropologin Hanya Rais bestreitet den Wahrheitsgehalt
solcher Erzählungen und reduziert das Phänomen auf eine homosexuelle Subkultur.
Khushras seien
"individuals in whose male bodies a female spirit is trapped".
Die Idealisierung der Intersexualität produziert eine eigene
Hierarchie innerhalb der khusra-Subkultur, an deren Spitze, nach Rais,
diejenigen stehen, die sich dem Kastrationsritual unterzogen haben, während
khusras, die noch nicht kastriert sind, oder temporäre Homosexuelle (zenanas)
als weniger rein gelten. Wie hijras begründen khusras das Besondere ihrer
Existenz mit religiösen Erklärungen, denen zufolge das intermediäre Geschlecht,
das weder Mann noch Frau sei, vor Gott privilegiert würde. Khusras behaupten,
ihre Vorfahren hätten das Grab des Propheten Mohammed gepflegt; sie sind häufig
Anhänger lokaler Heiligenkulte und praktizieren eine mystisch ausgerichtete
Form des Islam. Wegen ihrer Frömmigkeit - viele wohlhabende khusras haben eine
Pilgerreise nach Mekka unternommen - und ihrer guten Werke werden sie von der
Bevölkerung, mit der sie leben, geachtet.
Die positive Konnotation des Intersexualismus, des
Weder-Mann-noch-Frau-Seins, geht sowohl bei hijras als auch bei khusras auf
spezifische religiöse Vorstellungen zurück, die entweder auf lokale Kulte
beschränkt sind oder, wie im Hinduismus, Anschluss an verschriftlichte Ideen
über das göttliche Pantheon gefunden haben. Dabei steht entweder die natürliche
geschlechtliche Uneindeutigkeit mit der Konnotation des Zeichens als
Auserwählte oder das Opfer im Vordergrund. In beiden Fällen fungiert das
religiös legitimierte Muster als Vorlage für geduldete erotische Passionen,
seien sie primär homosexuell oder transvestitisch, die in der jeweiligen
Gesellschaft unterdrückt werden. Die Institution der hijras und khusras ist
somit kein Zeichen von Liberalismus oder gar der Nicht-Existenz einer rigiden
Geschlechterordnung, sondern ein Ventil für diejenigen, die aufgrund ihrer
Biologie oder ihres devianten Begehrens aus dem vorgegebenen starren Rahmen
herausfallen.
Two spirits
Ähnliches gilt für die indigenen Gesellschaften des
nördlichen Amerikas, bei denen die Institution des dritten Geschlechts seit dem
16. Jahrhundert überliefert ist.
Soldaten der kolonialen Armeen, Missionare, Siedler und
Handelsreisende berichteten immer wieder über sogenannte Sodomiten, Mannweiber
und Weibmänner, für die sich im 19. Jahrhundert der Sammelbegriff berdache
durchsetzte. Aufgrund der problematischen Implikationen wurde er Ende des 20.
Jahrhunderts von indianischen Aktivistinnen und Aktivisten kritisiert, und die
Bezeichnung two spirit setzte sich durch. Ähnlich wie bei den hijras gibt es
auch in vielen indianischen Gesellschaften Mythen, die auf einen idealisierten
doppelgeschlechtlichen Zustand verweisen. Dies gilt beispielsweise für die Zuni
im Nordwesten der USA. Sie verehren das Geistwesen Kolhamana, das aus der
inzestuösen Verbindung eines Geschwisterpaares entstanden sein soll. Kolhamana
erinnert an eine vorkulturelle Zeit, in der die Menschen als noch
"ungekocht" galten. Als Mann/Frau sei er/sie wie ein Maiskolben mit
zwei Herzen, sagen die Zuni, das Zweifache einer Art und daher ein vollkommenes
Wesen. Die lebenden Manifestationen Kolhamanas waren die ihamanas, Personen,
die männliche und weibliche Attribute auf sich vereinigen konnten. Die
bekannteste ihamana des 20. Jahrhunderts war We'wah, die eine langjährige
Freundschaft mit der Ethnologin Mathilda Coxe Stephenson unterhielt und in
mehreren Publikationen verewigt wurde.
We'wah pendelte Zeit ihres Lebens zwischen den
Geschlechtern, war einerseits Mitglied eines religiösen Männerbundes und
beteiligte sich wie ein Krieger an gewaltsamen Auseinandersetzungen, trug
andererseits Frauenkleidung und verrichtete weibliche Arbeiten. Nach
ihrem/seinen Tod wurde sie/er mit Frauenkleidung und Männerhose beerdigt.
Entscheidend für die Annahme eines "dritten
Geschlechts" war in indianischen Gemeinschaften allerdings nicht nur die
sexuelle Präferenz, sondern eine generelle "Tätigkeitspräferenz". Two
spirits strebten die soziale Rolle des anderen Geschlechts an, dessen Position
im Arbeitsprozess und in der Familie, in der Politik und im Krieg.
Wenn ein Kind dadurch auffiel, dass es sich nicht der dem
biologischen Geschlecht entsprechenden sozialen Rolle verhielt, wenn ein Junge
am liebsten mit Mädchen spielte, und ein Mädchen sich kämpferisch und wild
gebärdete, dann galt dies in den meisten indianischen Gesellschaften als
Hinweis auf eine mögliche Bestimmung zu einer nicht-stereotypen
Geschlechterrolle.
Ein expliziter Verweis auf Doppelgeschlechtlichkeit ist in
der Figur der nádleehé der Navajo enthalten, "jemand, der/die sich in
einem ständigen Prozess des Wandels befindet".
Ein nádleehé konnte ein Hermaphrodit sein oder ein Mensch,
der sich aus eigenem Antrieb für ein ambivalentes Geschlecht entschied.
Hermaphroditen galten den Navajo dabei als die Urform oder das Original aller
nádleehé, während man von allen anderen als von denjenigen sprach, "die
vorgeben, nádleehé zu sein". Ausschlaggebend für die Wahl einer
nádleehé-Rolle war eine Tätigkeitspräferenz, so dass man die nádleehé, die
keine Hermaphroditen waren, zusätzlich unterschied. Der Anthropologe Thomas
Wesley spricht daher von fünf verschiedenen Geschlechterrollen der Navajo:
Männer, Frauen, Hermaphroditen, weibliche nádleehé (womanly male) und männliche
nádleehé (manly female).
Eine spezifische Form von Geschlechtsrollenüberschreitung
für Frauen, die sowohl temporär als auch dauerhaft sein konnte, war die
Kriegerinnentradition der manly-hearted women bei den Plains-Indianern. Die
Mehrheit dieser Kämpferinnen wechselte aber nicht ihr Geschlecht, sondern
bewegte sich lediglich erfolgreich im männlichen Terrain. Sie begleiteten
Ehemänner, Brüder und Väter oder wurden vom Wunsch nach Rache eines
Familienmitglieds in den Kampf getrieben. Wenn sie sich dort unerschrocken
zeigten und sich vielleicht sogar durch das Töten eines Feindes einen Namen
machten, nannte man sie manly-hearted, da man von einer Frau, der binären
Geschlechterkonstruktion entsprechend, Furchtsamkeit erwartete.
Manly-hearted women waren anerkannt und hoch geachtet, weil
sie sich dort bewährt hatten, wo Männer Prestige erwerben. Ihre Identität als
Frau sowie ihr soziales Geschlecht wurde von diesen Auszeichnungen nicht
zwangsläufig tangiert. Allerdings gab es auch Ausnahmen, die eine vollständige
männliche Identität annahmen und als Mann Frauen heirateten.
Wie im südasiatischen Kontext tangierte das Phänomen des
dritten Geschlechts auch bei nordamerikanischen Indianern keinesfalls die
heterosexuelle Norm, sondern bestätigte diese vielmehr.
Homosexualität war verpönt, und sexuelle Kontakte waren nur
zwischen Personen erlaubt, die als gegengeschlechtlich identifiziert waren.
Traditionelle indianische dritte Geschlechter gehören weitgehend der
Vergangenheit an, was nicht zuletzt auf den Einfluss von Kolonisatoren,
Missionaren und einer Abwertung durch die hegemoniale weiße Kultur
zurückzuführen ist.
Trotz dieser Umstände erlebt das Phänomen derzeit eine
politische Renaissance, auch motiviert durch indianische ethnologische
Forschung und den Einfluss der panindianischen Schwulen- und Lesbenbewegung,
die sich um Abgrenzung zur weißen urbanen Schwulen- und Lesbenkultur und die
Rückbesinnung auf eine homosexuelle indianische Kultur bemüht. Letzteres stellt
die Aktivistinnen und Aktivisten vor eine Reihe schwer lösbarer Probleme, von
denen die traditionelle indianische Homosexuellenfeindlichkeit sicherlich die
gravierendste ist.
Homosexuelle Indianer und Indianerinnen bewegen sich heute
weitgehend außerhalb dieses Rasters; sie sind urban sozialisiert und orientieren
sich an der weißen Schwulen- und Lesbenbewegung. In ihren Familien und in den
lokalen indianischen Kommunen werden sie deshalb mit Ablehnung und
Diskriminierung konfrontiert.
Geschworene Jungfrauen
Die überwiegende Anzahl aller Phänomene des dritten
Geschlechts betreffen Personen, die als Mann-zu-Frau-Wechsler bezeichnet werden
kann. Nur in Ausnahmefällen übernehmen Frauen männliche Identitäten und Rollen.
Daher ist das Beispiel der "geschworenen Jungfrauen" des südlichen
Balkans ein ganz besonderes. Es handelt sich um Personen weiblichen
Geschlechts, die einen männlichen Habitus pflegen und in ihrer männlichen Rolle
von der Gesellschaft anerkannt werden. Geschworene Jungfrauen besitzen einen
männlichen Namen, tragen männliche Kleidung, einen männlichen Haarschnitt,
rauchen und trinken. Sie gehen ausschließlich "männlichen"
Tätigkeiten wie pflügen, Holz hacken oder Heu machen nach, tragen Waffen und
nehmen an Jagden und kriegerischen Handlungen teil. Ihre Verhaltensweisen
entsprechen dem albanischen Männlichkeitsstereotyp, und man findet sogar
ausgesprochene Mysogynisten.
Häufig haben sich die "geschworenen Jungfrauen"
ihr Schicksal als Mann nicht selbst ausgesucht, sondern sind, nach dem Tod des
Vaters oder Bruders oder schlicht weil sie die einzigen Erben eines Hauses
waren, in diese Rolle hineingedrängt worden. Der Hintergrund eines solchen
sozialen Geschlechtswechsels ist die patriarchale albanische
Gesellschaftsordnung, die auf einer strengen geschlechtlichen Arbeitsteilung
und der Vorrangstellung des Mannes basiert. Da die Aufgaben im Haus und auf dem
Feld geschlechtsspezifisch definiert werden, ist es für Frauen wie für Männer
unmöglich, alleine zu leben. Wenn eine Frau fehlt, hilft jemand aus der
Verwandtschaft aus, doch ein Mann lässt sich nicht so leicht ersetzen. Er muss
die Familie nach außen vertreten, muss in Konflikten Stärke demonstrieren, die
Ehre der weiblichen Mitglieder des Hauses verteidigen und Angriffe
gegebenenfalls mit der Waffe in der Hand zurückschlagen. Interessanterweise
verbindet man die maskulinen Qualitten Stärke, Aggression, Mut und die
Bereitschaft, im Kampf zu sterben, nicht mit einem spezifisch männlichen oder
weiblichen Körper. So lange genügend Männer zur Verfügung stehen, ist es keine
Frage, wer diese Aufgaben übernimmt, doch im Bedarfsfall traut man einer
biologischen Frau durchaus zu, als vollwertiger Mann zu agieren.
Dennoch muss man jedwede Idealisierung eines problemlosen
Geschlechts(rollen)wechsels infrage stellen. "Geschworene Jungfrauen"
sind keine wirklichen Männer, sondern eben Jungfrauen, eine besondere Gattung
der Zwischen-den-Geschlechtern-Stehenden. Die Begriffe muskobanja,
"männliche Frau", zena covjec, "Frau-Mann", oder momak
djevojka, "Mädchen-Junge", verdeutlichen dies. Meist nennt man sie jedoch
tobelija, "die einen Schwur abgelegt haben", den Schwur nämlich,
niemals zu heiraten oder eine sexuelle Beziehung einzugehen. Tobelija verharren
in einem intermediären Status zwischen den Geschlechtern. Eine männliche
Funktion bleibt ihnen immer versagt: die physische Reproduktion der Familie und
eine eigene Sexualität. Offizielle Verlautbarungen betonen, dass diesbezügliche
Vergehen mit dem Tod geahndet werden, doch nach dem Anthropologen René Grémaux
soll es in der Praxis vorgekommen sein, dass "geschworene Jungfrauen"
sich von ihrem Status verabschiedet und geheiratet haben.
Ungeklärt ist, ob lesbische Beziehungen möglich sind und der
Jungfrauenstand eventuell eine Nische für weibliche Homosexualität darstellt.
Kommentierungen weiblicher Attraktivität sind den Jungfrauen im Rahmen ihres
männlichen Habitus erlaubt, und Grémaux vermutet, dass die Institution der
"Blutsschwesternschaft" ein weiteres Indiz dafür sein könnte.
Eine soziale Alternative für eine traditionelle weibliche
Lebensweise scheint die Jungfrauenschaft auf jeden Fall zu sein, denn entgegen
der üblichen Rechtfertigungsnarrative sind nicht alle tobelija das Produkt
eines familiären Männermangels. Einige haben sich für die Rolle der Jungfrau
entschieden, um einer unliebsamen Heirat zu entgehen, andere, weil sie die
weibliche Rolle ablehnen.
Die Institution der tobelija macht solche Subversionen
möglich, ist aber, darüber besteht in der Forschung kein Zweifel, keine
institutionalisierte Nische für weibliche Rebellinnen. Der vornehmliche Zweck
ist vielmehr die Aufrechterhaltung der patriarchalen heterosexuellen Ordnung in
Zeiten des Männermangels.
Travestis
Eine Besonderheit "dritter" Geschlechtlichkeit
stellen die brasilianischen travestis dar, die vordergründig nicht anders als
viele hijras oder two spirits Homosexuelle mit einer weiblichen Identität zu
sein scheinen. Der erste Eindruck trügt allerdings. Travestis verwandeln sich
nämlich optisch tatsächlich in Frauen. Da sie glauben, dass
"richtige" Männer eigentlich heterosexuell sind und Frauen begehren,
versuchen sie, nach eigenen Aussagen, Frauen ähnlich zu werden. Zu diesem Zweck
führen sie sich Östrogene in hoher Dosierung zu und injizieren Silikon in
Brüste, Hüften, Oberschenkel und Po. Bis zu 20 Liter sollen dabei verwendet
werden. Das Ergebnis ist ein perfekter weiblicher Körper mit männlichen
Genitalien: ein künstlicher Weib-Mann. Travestis sind sehr stolz auf gelungene
Ergebnisse, von denen sie behaupten, dass sie besser und vor allem
"haltbarer" seien als die weibliche Natur. Auch sozial und sexuell
stehen sie in jeder Beziehung zwischen den Geschlechtern.
Travestis klassifizieren sich selbst als bichas oder viados,
als Männer, die sich penetrieren lassen und dadurch ihre Männlichkeit
verlieren. Den Gegenpol zu viados bilden die homems, Männer, die penetrieren
und auf diese Weise ihre Männlichkeit demonstrieren. Homems dürfen niemals die
passive Rolle beim Sex einnehmen, wenn sie ihren Status als Mann nicht
verlieren wollen, viados dagegen steht es frei, je nach Situation die eine oder
die andere Rolle zu spielen. Travestis haben sexuelle Kontakte, in denen sie
aktiv und solche, in denen sie passiv sind. Als Prostituierte begegnen sie
Kunden, die penetriert werden wollen - und sie kommen diesen Wünschen gerne nach,
wenngleich sie die Männer dafür verachten, dass sie keine homems sind. Private
Beziehungen gehen sie ausschließlich zu "wirklichen" Männern ein.
Eine Geschlechtsumwandlung lehnen sie ab, da sie nicht auf maskuline genitale
Lust verzichten wollen. Sie distanzieren sich bewusst von Transsexuellen und
verstehen sich eindeutig als Männer, wenngleich innerhalb eines Rasters, das
zwischen zwei Klassen unterscheidet: solche, die beim Sex immer penetrieren,
und solche, die unterschiedliche Positionen einnehmen. Implizit differenzieren
sie Männlichkeit in eine eindeutige und eine uneindeutige Variante.
Travestis belassen ihre Anstrengungen, für homems attraktiv
zu wirken, nicht bei der Umgestaltung des Körpers. Sie tragen aufreizende
weibliche Kleidung, schminken sich und tragen lange Haare. Im Geschäft der
Prostitution zahlen sich diese mimetischen Feminisierungen aus: je weiblicher,
desto größer der Verdienst. Vom Verdienst wiederum sind die Chancen abhängig,
einen ansprechenden boy friend zu finden. Diese werden regelrecht
"eingekauft", mit Geschenken und finanziellen Zuwendungen bedacht und
von anderen travestis abgeworben. Ein attraktiver Geliebter ist ein
öffentliches Zeichen für wirtschaftlichen Erfolg. In dieser Hinsicht verkörpern
travestis das brasilianische Macho-Ideal, wonach der Erfolgreiche die schönsten
Frauen für sich monopolisieren kann. Die boy friends, die in der Vorstellung
der travestis die eigentlichen Männer darstellen, werden in dieser Hinsicht auf
die Stufe von Frauen gestellt, von abhängigen Personen, die dorthin wandern, wo
es sich materiell auszahlt, während travestis als die eigentlichen Männer im
sozialen Sinn agieren. Auch im Hinblick auf ihre viado-Kunden gebärden sich
travestis alles andere als feminin: Sie sind brutal, gewalttätig und haben
einen zweifelhaften Ruf als Beischlafräuber. Ihre Weiblichkeit reduziert sich
auf den perfekt modellierten Körper, die Befolgung des Diktats der Mode und ein
hegemoniales Stereotyp sexueller Praxis. Nimmt man die Selbstinszenierung der
travestis in der Gesamtheit ihrer physischen, sozialen, emotionalen und
sexuellen Aspekte, so ergibt sich ein Bild, das in jeglicher Hinsicht auf einer
Kombination weiblicher und männlicher Attribute beruht - eine perfekte
intersexuelle Konstruktion.
Resümee
Die vorgestellten Beispiele zeigen, dass Geschlecht und
Geschlechtsidentität keineswegs ein universales Muster bildet, das sich
biologisch fundieren ließe. Vielmehr existiert eine Vielfalt von Zwischenformen
und Kombinationen zwischen den Polen eines Männlichen und eines Weiblichen,
wobei auch diese Kategorien keineswegs eindeutig definiert werden. In der
wissenschaftlichen Debatte wird die Existenz von drei oder mehr Geschlechtern
häufig als Indikator für eine liberale Geschlechterordnung definiert, die man
der vermeintlich repressiveren Ordnung westlicher Gesellschaften entgegensetzt.
Das lässt sich allerdings empirisch nicht bestätigen. Die Existenz des dritten
Geschlechts bestätigt vielmehr häufig explizit ein hegemoniales System
heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit, welches Homosexuelle zwingt, ihr
Geschlecht zu wechseln.
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