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und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2016
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Gender in der Biologie
Es gibt mehr als
zwei Geschlechter
Nur „weiblich“ und „männlich“ ist zu wenig. Es gibt mehr als
zwei Geschlechter. In der Biologie ist das inzwischen anerkannt.
Die Wissenschaftszeitschrift „Nature“ – sie gehört zu den
anerkanntesten in der Disziplin Biologie – veröffentlichte unlängst einen
Übersichtsartikel, der gesellschaftliche Gewissheiten auf den Kopf stellt.
Biologisches Geschlecht sei nicht einfach in zwei Varianten – „weiblich“ versus
„männlich“ aufzuteilen. „Die Annahme, es gebe zwei Geschlechter, ist zu
simpel“, erläutert Claire Ainsworth im Artikel „Sex redefined“. Sie fasst damit
den Forschungsstand der Biologie zusammen, der von einem größeren Spektrum
geschlechtlicher Entwicklungsmöglichkeiten ausgeht.
Kombinationen galten lange als "Störungen"
In der Biologie ist diese Sichtweise nicht so neu. Ganz im
Gegenteil: Die Biologie nahm ihren Ausgangspunkt aus der sicheren Überzeugung,
dass jeder menschliche Embryo in seiner Entwicklung zunächst das Potenzial
habe, sich in weiblicher und in männlicher Richtung zu entwickeln. Es könnten
bei den sich entwickelnden Menschen dabei Merkmale weiblichen Geschlechts
deutlicher hervortreten oder solche männlichen Geschlechts. Bei anderen
Menschen würden Kombinationen auftreten – lange Zeit untersuchte man diese mit
den Mitteln der modernen Biologie und Medizin genauer, beschrieb sie aber bald
als „Störungen“ und versuchte sie zu vernichten.
Die Furcht vor Ambiguität schwindet
Mittlerweile ändert sich die Perspektive. Auch in den
westlichen Gesellschaften verschwindet zunehmend die Furcht vor geschlechtlicher und sexueller Ambiguität, im Sinne von
Widersprüchlichkeit und Widerspenstigkeit. In den anderen Weltregionen war die
Toleranz gegenüber Ambiguität ohnehin deutlicher ausgeprägt, wie der
Leibniz-Preisträger und Arabist Thomas Bauer in seinem Werk „Die Kultur der
Ambiguität“ (2011) zeigt. Erst die moderne europäische Wissenschaft nahm auch
dort ihr fragwürdig Erscheinendes ins Visier, deutete und tilgte es.
Seit den 1970er/80er Jahren wurden auch in der Biologie die
Einwände gegen biologische Modelle strikter geschlechtlicher Zweiteilung wieder
deutlicher. Zentrale Denkanstöße gaben Arbeiten feministischer
Wissenschaftskritik. Für die Diskussion geschlechtlicher Vielfalt waren hier
unter anderem Veröffentlichungen der US-amerikanischen
Naturwissenschaftlerinnen Anne Fausto-Sterling und Evelyn Fox Keller
bestimmend. Fausto-Sterling publizierte als Extrakt ihrer Untersuchungen 1985
ein Buch, das unter dem Titel „Gefangene des Geschlechts“ kurz darauf auch auf
Deutsch erschien. Darin diskutiert sie aktuelle biologische Theorien kritisch –
und konfrontiert sie mit gegenläufigen Beobachtungen und Studien. Mit ihren
Aufsätzen „Die fünf Geschlechter: Warum männlich und weiblich nicht genug sind“
(Zeitschrift The Sciences, 1993) und „Die fünf Geschlechter erneut betrachtet“
(The Sciences, 2000) legte sie die Grundlage für weiterführende Debatten und
bot wissenschaftliche Unterstützung für die Kämpfe der Intersexuellen-Bewegung.
Intersexuelle Menschen galten als Problemfälle
Fausto-Sterling fokussierte in diesen Aufsätzen die
vielfältigen geschlechtlichen Ausprägungsformen, die in der biologischen und
medizinischen Forschung (und Behandlungspraxis) als „Störungen“ eingeordnet und
als behandlungsbedürftig betrachtet wurden, und wandte sich gegen die Einordnung intersexueller Menschen als „Problemfall“.
In weiteren Arbeiten wie dem Buch „Sexing the Body“ (2000) sezierte sie
biologische Theoriebildung etwa in Bezug auf Geschlechtshormone. Da die als
männlich betrachteten Hormone „Androgene“ und die als weiblich betrachteten
Hormone „Östrogene“ in allen Menschen vorkommen und wichtige physiologische
Funktionen übernehmen, sollten sie nicht als „Geschlechtshormone“ bezeichnet
werden, sondern vielmehr als Wachstumshormone, argumentierte Fausto-Sterling.
Chromosomen - Diktatorinnen der Zelle?
Auch lieferte sie kritische Betrachtungen zu Studien, die
zeigen wollten, dass Frauen diese und Männer jene Gehirne hätten. Sie
diskutierte die Studien für ihre gewählten Methoden und konfrontierte sie mit
anderen Ergebnissen. Noch in den 1990er Jahren und zu Beginn der 2000er Jahre
erntete Fausto-Sterling für ihre Ansätze Kritik und Auseinandersetzung.
Mittlerweile ist anerkannt, dass sie wesentlich zur kritischen Reflexion
methodischer und inhaltlicher Setzungen der Biologie beigetragen hat. In der
Biologie wurden – und werden oft noch immer – die Proband_innen schon zu Beginn
einer Studie in die Gruppen „weiblich“ und „männlich“ aufgeteilt, und diese
Einteilung präformiert bereits die Ergebnisse. Regelmäßig wurde dabei die
Bedeutung männlichen Geschlechts überhöht. Neu war die Erkenntnis mehrerer
Geschlechter aber auch bei Fausto-Sterling nicht mehr. Hingegen hatte etwa
Richard Goldschmidt in den 1920er Jahren eine „lückenlose Reihe geschlechtlicher
Zwischenstufen“ postuliert, und das nachdem einige Jahre zuvor die für die
Geschlechtsbestimmung als wichtig angenommenen Chromosomen X und Y gefunden und
benannt worden waren. Was ist in einer Gesellschaft los, die bei Nennung von X-
und Y-Chromosom gleich an Zweigeschlechtlichkeit glaubt? Und warum kam
Goldschmidt zu einer solch anderen Einordnung? Goldschmidt sah die Chromosomen
nicht als „Diktatorinnen“ der Zelle an, vielmehr ordnete er sie in ein
komplexes System weiterer wirkender Faktoren ein.
In der Folgezeit wurde aber das Paradigma der Erblichkeit in
der Biologie bestimmend. Die Erbsubstanz DNS wurde in der Biologie als
Schaltzentrale angenommen, Fördergeld floss in Massen in ihre Untersuchung.
Schließlich wurde versucht, für die einzelnen körperlichen und psychischen
Merkmale „Gene“ zu finden, die sie codieren sollten, wie bei einer zu
entschlüsselnden Geheimschrift. Der Rest der Zelle wurde als nachrangig
betrachtet oder gleich gar nicht untersucht. Das galt auch für das Geschlecht.
Hier ging man davon aus, dass es ein zentrales Gen für die Ausbildung von Hoden
geben müsste oder zumindest ein Gen, das als zentraler Schalter fungierte und
die Entwicklung auf „männlich“ schaltete. Diese einfache Sicht wurde für das
Geschlecht zunächst auch dann noch aufrechterhalten, als in anderen
Forschungsfeldern der Genetik differenziertere Modelle der Regulation und
Wirkung von Genen etabliert wurden. Schließlich relativierte das
Humangenomprojekt die Bedeutung von Genen. Es zeigte, dass die Spezies Mensch
kaum mehr Gene als der unscheinbare Fadenwurm Caenorhabditis elegans hat. Ein
diesbezüglich bemerkenswertes Buch stammt von Evelyn Fox Keller: „Das
Jahrhundert des Gens“ (deutsch 2001).
X- und Y-Chromosomen kommt bei manchen Säugetieren nicht
vor
Seitdem ist auch der Blick auf biologische
Geschlechtsentwicklung kritischer geworden. Es werden nun differenzierte
Aussagen getroffen, die nicht stets „weiblich“ oder „männlich“ schon in der
Untersuchungsfrage voraussetzen. Komplexe Modelle werden für alle Merkmale und
„Ebenen“ verfolgt, die in der biologischen Geschlechtsentwicklung Bedeutung
haben: Chromosomen; Gene; Regulation der Gene; Hormone; Rezeptoren, an die die
Hormone sich anbinden können; Keimdrüsen (Hoden, Eierstöcke, Mischgewebe);
innere Genitalien; äußere Genitalien; weitere Bestandteile des Genitaltraktes.
So wurden etwa in der Genetik in Modellversuchen an Mäusen mittlerweile
ungefähr 1000 Gene als möglicherweise an der Geschlechtsentwicklung beteiligt
beschrieben, von denen gerade einmal 80 etwas untersucht sind, durchaus mit
widersprüchlichen Befunden. Die allermeisten dieser Gene finden sich im
Regelfall nicht auf dem X- oder dem Y-Chromosom. Bei einigen Säugetierarten
konnte die Unterscheidung eines X- und Y-Chromosoms überhaupt nicht gezeigt werden.
Gene und DNS sind nur Faktoren in einem komplexen
Zusammenspiel
Und nun – nach den ernüchternden Ergebnissen des
Humangenomprojekts – werden die Zelle und die weitere Umgebung wieder wichtiger
genommen, so wie es Goldschmidts Ansatz war. Galt bis vor wenigen Jahren noch
die DNS als heimliche „Diktatorin“ der Zelle, so wird sie nun entthront. Heute
heißt es, dass die DNS nicht schon Information beinhalte und die Zelle über
Abläufe informieren würde, vielmehr gibt es in der Zelle ein ganzes Netzwerk von
Faktoren, die miteinander in Wechselwirkung stehen, sich zusammenlagern und
letztlich entscheiden, welches tatsächlich wirksame Produkt hergestellt wird
und wie ein Abschnitt der DNS abgelesen, das Produkt verändert und schließlich
gefaltet werden muss, damit ein wirksames Produkt entsteht. Kurz gesagt: „Gene“
und DNS sagen eben nicht die Entwicklung eines Organismus beziehungsweise hier
eines „Genitaltraktes“ voraus. Vielmehr stellen sie lediglich einen Faktor im
komplexen Zusammenspiel von Faktoren der Zelle dar. So zeigte sich für einige
Gene, die als bedeutsam für die Geschlechtsentwicklung angenommen werden, dass
aus ein und demselben Gen mehr als zwei Dutzend unterschiedliche Produkte
gebildet werden, die in der Zelle unterschiedliche Aufgaben erfüllen.
Das einfache Modell der Zweigeschlechtlichkeit hat
ausgedient
Claire Ainsworth fasst den Forschungsstand für die
Geschlechtsentwicklung nun in ihrem Überblicksartikel zusammen. Es gibt demnach
nicht nur zwei Geschlechter. Einen differenzierten Einblick in die Thematik
bietet in deutscher Sprache das Buch „Geschlecht: Wider die Natürlichkeit“ (Voß
2011). Beiträge von Biolog_innen, die zum Weiterdenken über die Gehirnforschung
einladen, sind etwa: „Wie kommt das Geschlecht ins Gehirn?“ (Sigrid Schmitz 2004,
online) und „Warum Frauen glauben, sie könnten nicht einparken – und Männer
ihnen Recht geben“ (Kirsten Jordan/Claudia Quaiser-Pohl 2007).
Eines scheint dabei gesichert: Das einfache Modell
biologischer Zweigeschlechtlichkeit, das sich an der europäischen Geschlechterordnung mit ihrer Zurücksetzung der Frauen orientierte,
hat ausgedient.
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