Samstag, 21. Mai 2016

Only today I live the way I am // Erst heute lebe ich so, wie ich bin

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2016

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«Erst heute lebe ich so, wie ich bin»

«Transidentität hat es immer gegeben, zu allen Zeiten und in allen Kulturen»: Psychologin Myshelle Baeriswyl. 

Transsexuelle sind zwar körperlich eindeutig Mann oder Frau. Doch sie fühlen sich nicht so.

Was ist weiblich, was ist männlich? Wer bestimmt, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist? Was selbstverständlich erscheint, ist kulturell geprägt und erlernt. Andere Kulturen gehen mit Geschlechterfragen anders um: In Polynesien gibt es zum Beispiel die so genannten Fa'afafine: Menschen, die körperlich eindeutig Männer sind, sozial aber als Frauen leben. Sie sorgen für die Kinder und kümmern sich um den Haushalt. In Südasien sind die Hijras bekannt: Auch sie sind meist männlich, wurden aber kastriert oder sie weisen von Geburt an keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale im Sinne intersexueller Menschen auf.
Die heutige westliche Gesellschaft hat jedoch Mühe mit Geschlechtsvarianten. Das spüren auch transsexuelle Menschen. Sie nennen sich allerdings lieber «transident», weil dieser Begriff deutlich macht, dass es um die Identität geht und nicht um Sexualität. Denn Transmenschen können zwar körperlich eindeutig einem der beiden Geschlechter zugeordnet werden, sie fühlen sich diesem Geschlecht aber nicht zugehörig. Warum das so ist, wissen die Forscher bis heute nicht.

Unklar ist auch, wie viele Transmenschen in der Schweiz leben. Eine von ihnen ist die promovierte Psychologin Myshelle Baeriswyl, die die St. Galler Fachstelle für Aids- und Sexualfragen leitet. Auch sie bestätigt, dass die Angaben sehr unterschiedlich sind. Zum einen sei aufgrund von Angst und Scham die Dunkelziffer sehr hoch, zum anderen tritt Transidentität in unzähligen Schattierungen auf. Die operative und medikamentöse Geschlechtsangleichung ist ein möglicher Weg, andere sind damit zufrieden, dauernd oder auch nur zeitweise die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen. Viele gehen einen Mittelweg: Sie begeben sich in psychotherapeutische Begleitung, lassen sich Hormone verschreiben, beantragen eine Namensänderung, verzichten aber teilweise oder ganz auf geschlechtsangleichende Operationen. «Als Fachfrau, Betroffene und Mitglied des Transgender Networks Switzerland kenne ich viele transidente Menschen», sagt Baeriswyl. Die einen bekennen sich dazu, andere leben dies heimlich.

Das schmerzhafte Outing

Myshelle Baeriswyl engagiert sich politisch und wissenschaftlich für die Akzeptanz von Transmenschen, zum einen als Beraterin für Transmenschen, aber auch in der Fachgruppe Trans* am Universitätsspital Zürich. «Das Thema Transsexualität wird in den Medien zwar immer präsenter, die Berichterstattung seriöser, und dadurch wagen möglicherweise immer mehr Betroffene, sich zu outen», sagt sie. Das Outing sei aber nicht nur das Ende eines langen Bewusstwerdungsprozesses, sondern vor allem der Anfang einer Veränderung, einer «Transition», die praktisch jeden Moment des Alltags umfasst und Jahre, ja lebenslang dauern kann. Das ist oft nicht nur eine Herausforderung, sondern eine Überforderung. Die Suizidrate von Transmenschen liegt deshalb weit über dem Durchschnitt, auch weit über dem von homosexuellen Menschen.

Die meisten Transmenschen suchen deshalb psychologischen Beistand. Umgekehrt sind Psychotherapeuten oft zum ersten Mal mit einem Transmenschen konfrontiert und deshalb überfordert. An diesem Punkt setzt die schweizweit einmalige interdisziplinäre Fachgruppe Trans* des Universitätsspitals Zürich an. «Einmalig deshalb», so Baeriswyl, «weil das Team nicht nur aus Psychiatern, Psychotherapeuten, Ärzten und Sozialarbeitern besteht, sondern weil einige von uns selbst Transmenschen sind.» Es sei wichtig, dass «nicht bloss Experten über uns reden, sondern dass wir selbst über uns bestimmen».

Umstrittene Diagnose

Dass diese Gruppe an einem Spital angesiedelt ist, ist kein Zufall: In der Medizin und Psychiatrie gilt Transsexualität noch immer als Krankheit. Transsexuelle stehen dem widersprüchlich gegenüber: Einerseits haben sie nur mit der entsprechenden Diagnose Zugang zu Krankenkassenleistungen, die für psychotherapeutische Begleitung, Hormonbehandlungen und geschlechtsangleichende Operationen nötig sind, andererseits empfinden sie sich nicht als krank.

Das Coming-out, der Moment also, in dem sich ein Transmensch zu seiner Identität bekennt, ist einschneidend. «Trans zu sein, bedeutet Sichtbarkeit», erklärt Baeriswyl. Und damit habe die Umwelt Probleme. Zum Beispiel am Arbeitsplatz. Wie viele andere Transmenschen in der Schweiz verlor auch sie ihren früheren Job. «Als Mann gefeiert, als Frau gefeuert», so ihr lakonisches Fazit. Damit steht sie nicht allein da: Eine Untersuchung des Transgender Networks kam zum Ergebnis, dass die Arbeitslosenrate unter Transmenschen in der Schweiz über 20 Prozent liegt. Trotz im Durchschnitt besserer Ausbildung.

Brüche im Privatleben

Auch im Privaten hinterlässt ein Coming-out tiefe Spuren. So auch bei Baeriswyl. Sie selbst hatte ihr Coming-out vor rund dreieinhalb Jahren, im Alter von 48 Jahren. Damit gehört sie zu den Spätzündern. «Dass ich anders bin als andere, habe ich zwar schon mit 6 Jahren gespürt, aber gewusst, worum es sich handelt, das habe ich erst mit den ersten Medienberichten und vor allem dank des Internets», sagt sie. Es folgten Jahre des Zweifels, des Mit-sich-Ringens, der gespielten Normalität. Irgendwann ging es nicht mehr. «Dank psychologischer Begleitung kam ich zur Erkenntnis, dass nur ein Coming-out mir zu einem lebenswerten Leben verhelfen kann», sagt sie.

Danach ging es Schlag auf Schlag: Erste Hormone, die Ehe ging in die Brüche, Freunde und Verwandte kehrten ihr den Rücken, die beruflichen Beziehungen gingen verloren, Epilation, Namensänderung. Die beiden Kinder, damals 13 und 16 Jahre alt, hatten zunächst Probleme und baten sie, sich nicht in der Schule zu zeigen. Mit der Zeit hätten sie sich daran gewöhnt. «Ich stand aber auch schon auf dem Balkon und dachte: Jetzt habe ich alles, Haus, Familie und Job verloren – was soll das alles noch?» Der Preis sei hoch.
Eine Konsequenz davon ist, dass Myshelle Baeriswyl oft das Wort «Kampf» fallen lässt, wenn sie von ihrer Transition spricht. Das betrifft etwa Schwierigkeiten bei den Krankenkassen, bei der Jobsuche, im Umgang mit Spitälern, aber auch bei der amtlichen Anerkennung. «Die Vornamensänderung war zwar aufwendig, ging aber noch relativ einfach», sagt sie. Das eidgenössische Amt für Zivilstandswesen hat jüngst die Bedingungen für Transmenschen etwas vereinfacht. Problematisch sei, dass in der Schweiz für die Änderung des Geschlechtseintrages in der Regel noch immer eine geschlechtsangleichende Operation oder zumindest der Nachweis «irreversibler Sterilität» verlangt werde. «Ein staatliches Fortpflanzungsverbot für eine Bevölkerungsgruppe, in diesem Fall für Transmenschen, ist ein ungeheurer Verstoss gegen grundlegende Menschenrechte und eines modernen humanitären Staates unwürdig.»

Wie schwierig es ist, nach einem Outing wieder ein ganz normales Leben zu führen, realisieren viele Transmenschen erst mit der Zeit. So schrieb die Psychologin und Transfrau Annette Güldenring: «In den meisten Fällen wird erst mit der Zeit realisiert, dass die Aussenseiterrolle zeitlebens weiter bestehen wird. Diese Erkenntnis muss geleistet werden, um eine selbstsichere Position in einer transsexuellen Identität zu finden.» Auch Myshelle Baeriswyl erlebt fast täglich, wie schwierig dieser Weg ist. Sie erlebt häufig sexuelle Anmache. Aber nicht etwa an Parties, wo es zu erwarten wäre – nein: Am helllichten Tag an Tramhaltestellen, in Bussen, im Hauseingang, ja selbst an der Kasse im Supermarkt. «Dies hat wohl auch damit zu tun, dass in der Pornoindustrie die sogenannten Shemales äusserst gefragt sind», so Baeriswyl, «also Transfrauen, die zwar noch ihren Penis haben, ansonsten aber extrem weiblich aussehen.»

Wie gefährlich Transmenschen weltweit leben, zeigt der Bericht von Trans Murder Monitoring, einem Projekt von Transgender Europe (TGEU). Zwischen 2008 und 2012 wurden weltweit mehr als tausend Transmenschen ermordet. Am meisten in Südamerika, vor allem in Brasilien. Auch Europa ist keine Insel. Allein in der Türkei wurden in diesem Zeitraum 30, in Italien 20 und in Spanien 6 Transmenschen, fast ausschliesslich Transfrauen ermordet.

Doch trotz dieser negativen Erlebnisse überwiegen die positiven Reaktionen bei weitem und Myshelle Baeriswyl sagt: «Ich würde den Schritt jeder Zeit wieder machen. Denn ich wache jeden Morgen als der Mensch auf, der ich eigentlich schon immer war, und bin glücklich.»

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