Sonntag, 8. Mai 2016

Wer das Geschlecht anpassen will, muss sich vorher nicht sterilisieren lassen. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2016

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Europarat setzt Maßstäbe
Der Europarat hat eine historische Resolution zu Trans*-Rechten vorgelegt. Jetzt muss Deutschland nachziehen. Wie man es macht, zeigt Malta.

Seit Jahren arbeiten Trans*-Aktivist_innen auf institutioneller Ebene für eine Anerkennung ihres Kampfes um Menschenrechte. Sie marschieren nicht durch die Institutionen, sondern zu ihnen hin: Organisationen wie Transgender Europe (TGEU) leisten beharrlich Lobbyarbeit und weisen immer wieder auf die ungenügenden rechtlichen Umstände für Trans*menschen hin.

Nun zeigt ihre Arbeit Früchte: Mit einer überwältigenden Mehrheit hat der Europarat am 22. April eine wegweisende Resolution gegen die Diskriminierung von Trans*menschen (Englischer Volltext beim Europarat / deutsche Übersetzung von Triq e.V.) verabschiedet – auch mit den Stimmen der Bundesregierung.

Der Europarat ruft seine Mitgliedsstaaten auf, Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität explizit zu verbieten und in alle zukünftigen Antidiskriminierungsgesetzen explizit mitaufzunehmen. Die Personenstandsänderung, also die formelle Änderung des Geschlechts auf Dokumenten wie Ausweis, Reisepass und Geburtsurkunde, müsse schnell, transparent und niedrigschwellig möglich sein. Die Staaten sollten erwägen, ein drittes Geschlecht als zusätzliche Geschlechtsoption in Ausweisdokumenten anzubieten.
Außerdem müsse das Verfahren der Geschlechtsangleichung (Hormontherapie, Operation und psychologischer Support) einfach zugänglich sein und von den Krankenkassen bezahlt werden. Auch dürfe Transsexualität nicht als Krankheit gelten oder als solche behandelt werden, ein Stigma-freier Zugang zu notwendigen medizinischen Maßnahmen sei zu gewährleisten.

„Historisch“, „wegweisend“, „bahnbrechend“


Trans*-Interessengruppen sind von der Resolution begeistert: Transgender Europe (TGEU) bezeichnet das Dokument als „historisch“, der Verein Transinterqueer (TRIQ) nennt es „wegweisend“ und „bahnbrechend“. TGEU-Sprecher Richard Köhler erklärte: „Wir sind begeistert, diese Empfehlungen senden eine klare Botschaft an Trans*leute, dass sie die gleichen Rechte haben wie alle anderen auch.“ Die Resolution sei die wichtigste und weitestgehende Erklärung für die Rechte von Trans*menschen, die je auf europäischer Ebene gegeben wurde. „Nun ist es an den Mitgliedsstaaten, diese maßgebende Resolution in eine gelebte Realität umzusetzen“, ergänzt der TGEU-Co-Vorsitzende Alecs Recher.

Und da ist noch viel Raum für Verbesserungen, gerade in Deutschland. „Der Europarat bestätigt, was Trans*-Aktivist_innen und die Forschung schon lange gefordert haben. Die engen Kriterien der deutschen Standards zur Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen sind weder stigmafrei noch menschenrechtskonform“, heißt es in einer Pressemitteilung des Vereins Transinterqueer. Es gebe Zwangsmaßnahmen (ein Jahr Alltagstest mit „begleitender“ Psychotherapie), eine pathologisierende und stigmatisierende Diagnostik. „Es bedarf grundlegender Reformen des medizinisch-juristischen Umgangs mit Trans*menschen in Deutschland“, heißt es weiter. „Dem Selbstbestimmungsrecht von Trans* muss endlich Vorrang eingeordnet werden.“

Wie man es gut macht, zeigt das Beispiel Malta: Dort hat das Recht auf selbstbestimmte Geschlechtsidentität seit Anfang April Verfassungsrang. Das „Gesetz über Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmale“ (Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics Bill) erlaubt den Einwohner_innen Maltas die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität ohne vorherige medizinische Diagnose, Behandlung oder Operationen und ohne Zwangsscheidungen. Zudem soll intersexuellen Babys oder Kindern kein Geschlecht zurechtoperiert werden, sondern erst, wenn sie alt genug sind, das selbst entscheiden zu können – was Inter*-Aktivist_innen seit Langem fordern. Die Resolution des Europarates begrüßt die maltesische Gesetzgebung ausdrücklich.


Wer das Geschlecht anpassen will, muss sich vorher nicht sterilisieren lassen. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Es ist ein Grundsatzurteil für die Menschenrechte von Trans*menschen: Wer das Geschlecht anpassen will, muss sich vorher nicht sterilisieren lassen. Mit seinem am Dienstag verkündeten Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg der Klage eines Trans*mannes aus der Türkei stattgegeben: Der Mann, der nur mit der Abkürzung Y. Y. bezeichnet wird, wollte sich 2005 einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen. Das zuständige Gericht verbot ihm jedoch die OP: Erst müsse er sich sterilisieren lassen. Dagegen klagte er.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte nun einstimmig: Sterilität darf keine Voraussetzung für eine Geschlechtsangleichung sein. Vorschriften dieser Art widersprächen dem Artikel 8 der Menschenrechtskonvention, die das allgemeine Recht jeder Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens festschreibt. Zudem sei die Freiheit, das eigene Geschlecht auszuleben, ein essentieller Teil des Rechts auf Selbstbestimmung.

„Wir sind sehr zufrieden, dass das Gericht diese absurde Regelung für ungültig erklärt hat“, kommentiert Richard Köhler von der Menschenrechtsorganisation Transgender Europe (TGEU). „So können Trans*leute in der Türkei Zugang zu medizinischer Behandlung bekommen, die ihre Lebensqualität signifikant verbessern kann.“ Es sei nun an der Türkei, das Urteil des Europäischen Gerichts auch im türkischen Recht umzusetzen.
Transgender Europe hatte bereits vor knapp zwei Wochen mit einem berührenden Youtube-Video auf die demütigende Behandlung von Trans*menschen durch Staat, Medizin und Gesellschaft hingewiesen. Der Clip ist aus der Sicht einer Trans*frau gedreht, die versucht, ihren Personenstand zu ändern, um auch offiziell als Frau leben zu können.

Wegweisender Charakter für Trans*aktivisten

Für Y.Y. hat das Gerichtsurteil vor allem symbolische Wirkung, ihm wurde 2013 eine geschlechtsangleichende Operation dann doch erlaubt. Doch für Trans*aktivist_innen und Menschenrechtler_innen hat das Grundsatzurteil wegweisenden Charakter: 47 Staaten sind derzeit Mitglied des Europarates, sie alle sind an die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofes gebunden. 

Doch nach Angaben von Transgender Europe gilt noch in 20 dieser Länder Sterilität als Voraussetzung für geschlechtsangleichende Operationen.

Auch Deutschland arbeitet noch an der angemessenen Behandlung von Trans*menschen. Das 1981 eingeführte Transsexuellengesetz erlaubte eine Personenstandsänderung (also die formale Angleichung des Geschlechts) nur, wenn die beantragende Person „dauernd fortpflanzungsunfähig“ sei und sich auch körperlich voll dem gefühlten Geschlecht angeglichen habe. 2011 kassierte das Bundesverfassungsgericht diese Regelung: Eine vom Staat verordnete Operation sei unvereinbar mit der im Grundgesetz garantierten Menschenwürde und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Vier der sieben Richter hätten diese Regelung, die so ähnlich immer noch in vielen Ländern gilt, am liebsten auch gleich mitbehandelt. „Auch dies ist ein wichtiges Zeichen für die Trans-Community", sagte Alecs Recher, Anwalt und Co-Vorsitzender von Transgender Europe. Der Weg zur Anerkennung der Rechte von Trans*menschen ist noch weit. Doch das vorliegende Urteil macht Mut.




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