„Wie war mein Name?“
Kann ein
normaler Junge als Mädchen aufwachsen, wenn sein Penis gravierend verletzt
wurde? Triumphiert die Erziehung? Schlägt die Biologie durch? Das Experiment
eines US-Forschers hatte für einen eineiigen Zwilling fatale Folgen.
Für den
New Yorker Journalisten John Colapinto war die Geschichte des Zwillings Bruce
Reimer der Fall seines Lebens. Nach minutiösen Recherchen schrieb er über das
Schicksal des Jungen ein faszinierendes Buch: "As nature made him"*.
Die deutsche Übersetzung wird Ende Juli im Düsseldorfer Patmos-Verlag
erscheinen.
Es ist
die Geschichte eines verzweifelten Kindes, das sich gegen die Macht der
Sozialisation wehrte, eine moderne Heldengeschichte von archaischem Format,
auch eine Geschichte von wissenschaftlicher Arroganz und Rivalität, zugleich
die Geschichte eines tragischen Irrtums: Denn alle wollten nur das Beste für
das Kind.
Die
Geschichte begann im kanadischen Winnipeg am Red River mit der Liebe zwischen
zwei Teenagern aus dem Arbeitermilieu. Beide stammten aus Mennoniten-Familien,
aber lösten sich im Sog der aufziehenden Rock-''n''-Roll-Ära aus der Tradition
ihrer Elternhäuser.
Es war
für beide der erste Sex, und als sich Folgen herausstellten, heirateten Janet
und Ron Reimer, sie war 18, er 19 Jahre alt. Am 22. August 1965 wurden ihre
eineiigen Zwillingssöhne geboren, erst Bruce, zwölf Minuten später Brian. Der
Vater brachte seine Familie als Arbeiter in einer Fensterfabrik und später auf
dem Schlachthof durch.
Weil sich
die junge Mutter so aufmerksam um die Kinder kümmerte, nahm das Verhängnis
seinen Lauf. Ihr fiel auf, dass die Zwillinge nicht weinten, weil ihre Windeln
nass waren, sondern schon beim Pipimachen. Der Kinderarzt diagnostizierte eine
Vorhautverengung (Phimose) und riet zur Beschneidung. Als die Zwillinge ins St.
Boniface Hospital gebracht wurden, waren sie acht Monate alt. Während in
Winnipeg ein legendärer Blizzard tobte und in das angebrochene Frühjahr 1966
Unmengen Schnee schüttete, wurde der erste Zwilling narkotisiert, zufällig
Bruce.
Der
erfahrene Operateur Dr. Jean-Marie Huot führte einen Elektrokauter (ein Gerät,
das zum Verschmurgeln von Blutgefäßen dient, um Nachblutungen zu verhindern) an
die Vorhaut des Babys, aber der Mechanismus versagte: zweimal null Reaktion.
Beim dritten Versuch war ein zischendes Geräusch zu hören, und Grillgeruch lag
in der Luft des OP.
Die
entsetzten Eltern fanden Bruce in der Abteilung für Verbrennungen wieder, sein
geschwärzter Penis wirkte auf den Vater leblos wie ein "Stück
Holzkohle". Das malträtierte Organ trocknete und brach nach ein paar Tagen
in Stücken ab. Als Entschädigung zahlte das St. Boniface Hospital 66 000
Dollar. Schmerzliche Ironie der Geschichte: Bei Brian, den die Ärzte nach dem
Unglück nicht angetastet hatten, gab sich die Vorhautverengung von selbst.
Die
Eltern suchten eine Kapazität nach der anderen auf, aber die Chirurgen konnten
ihnen keine Hoffnungen machen, die bitterste Prognose kam von einem Psychiater:
Bruce werde in der Pubertät ein Trauma seiner Unvollständigkeit erleben und
erkennen, "dass er abseits leben muss".
Der Vater
schreckte nachts aus Alpträumen auf, in denen er Dr. Huot erdrosselte. Da kam
wie ein himmlischer Fingerzeig der berühmte Professor John Money vom Bildschirm
in das ärmliche Wohnzim- mer der Reimers. Eloquent beschrieb der
Psychoendokrinologe vom Johns Hopkins Hospital in Baltimore die Leiden von
Menschen, die sich im Gefängnis eines falschen Körpers fühlten und Erlösung
durch eine Geschlechtsumwandlung erfuhren.
Durch
Moneys Inspiration nahm seinerzeit die Johns Hopkins University bei der
Behandlung von Transsexuellen eine Pionierstellung ein. Von da aus ging der
Anstoß für die Akzeptanz derartiger Operationen in das medizinische
Establishment des Westens. Dann sahen die Reimers Diane, eine attraktive
Blondine auf hohen Hacken, die vor kurzem ein Richard war. Am Ende der
Fernsehsendung erwähnte der charismatische Doktor noch seine Erfahrungen mit
Kindern, die bei ihrer Geburt unvollständige Geschlechtsorgane hatten. Die
Reimers waren fasziniert. Janet schrieb sofort an Money und schilderte den Fall
von Bruce.
Der aus
Neuseeland stammende Psychologe hatte über Hermaphroditen promoviert, jene
seltsamen Wesen, die nach dem griechischen Götterboten Hermes und der
Liebesgöttin Aphrodite benannt worden waren. Die Zwitter waren für ihn
Wegweiser zu einem Opus magnum. Er schickte sich an, "altes und neues
Wissen" aus der Genetik und Embryologie, aus der Hormon- und
Hirnforschung, aus der Anthropologie, der Soziologie und der Psychologie
zusammenzufassen und daraus eine Theorie über die Geschlechtsunterschiede im
Verhalten abzuleiten.
Mit
Spannung verfolgte er in der internationalen Forschung Experimente mit Fröschen
und Fischen, Mäusen und Ratten, Kaninchen und Affen zu den ihn interessierenden
Fragen. Eine Überprüfung beim Menschen verbot sich, wie er wiederholt betonte,
"aus selbstverständlichen, ethischen Gründen". Umso dankbarer war er
für Einblicke durch Experimente der Natur im Mutterleib (siehe Kasten Seite
128).
Bei
zahlreichen Intersex-Menschen, wie Zwitter wissenschaftlich genannt werden,
fiel Money ein merkwürdiges Phänomen auf: Aus Individuen mit den gleichen Genen
und der gleichen hormonellen Vorgeschichte im Mutterleib waren sowohl Jungen
als auch Mädchen geworden, je nachdem, für was sie nach der Geburt fälschlich
oder richtig gehalten worden waren.
Erst in
der Pubertät zeigten sich ernsthafte Probleme, aber dann konnten genetisch
weibliche Jungen mit Testosteron behandelt werden: Sie entwickelten eine
typisch männliche Statur und Bartwuchs. Dagegen modellierten Östrogene bei
genetisch männlichen Mädchen den Busen und verteilten das Fett zu weiblichen
Rundungen. Sexuell waren sie in der Regel, wenn auch nicht immer, am
entgegengesetzten Geschlecht interessiert, also dem anderen, obwohl es
genetisch das eigene war.
Daraus
schloss der Wissenschaftler, dass der Mensch mit einer neutralen Identität auf
die Welt kommt und fortan durch seine Umwelt, die sich an seinen äußeren
Geschlechtsmerkmalen orientiert, gesagt bekommt, ob er Mann oder Frau werden
soll.
Money sah
ein offenes Tor bis zum 18. Lebensmonat, das sich dann allmählich schließt;
wenn ein Kind die Sprache beherrsche, wisse es genau, ob es ein Junge oder ein
Mädchen ist. Danach sei eine Geschlechtsidentität nur noch schwer zu ändern, es
sei denn, ein Intersex-Kind oder ein erwachsener Transsexueller will es
unbedingt.
Die
Rollen, in denen das normalerweise sehr sichere Gefühl "ich bin
weiblich" oder "ich bin männlich" der Umwelt gegenüber
ausgedrückt wird, hielt Money für flexibel. Er verwies auf verschiedene
Kulturen, die ihre Geschlechterrollen höchst unterschiedlich ausgestalteten,
aber alle gemeinsam bemüht waren, den Unterschied an sich zu betonen. Das hielt
er - im Gegensatz zu postmodernen Verwirrungstendenzen - für unbedingt richtig.
Auch die Entwicklung von Stolz auf das Geschlecht, in dem ein Kind aufgezogen
wird, erschien ihm als sehr wichtig.
In
illustren Wissenschaftszirkeln wurde Moneys Theorie, die er bereits in
Aufsätzen skizzierte, begeistert aufgenommen. Aber ein unbekannter
Nachwuchsforscher forderte die Koryphäe heraus. Milton ("Mickey")
Diamond, Sohn jüdischer Emigranten aus der Ukraine, hatte an Hormonexperimenten
mit Meerschweinchen mitgearbeitet. Sie ergaben bei den Föten eine
geschlechtsspezifische Vorprägung im Gehirn. Daraus schloss er, dass auch beim
Menschen das Tor keineswegs offen wäre.
Selbstverständlich
wusste auch Money, dass die Hormongeschichte im Mutterleib Spuren im kindlichen
Hirn hinterließ. Denn das war der Part seiner engsten Mitarbeiterin Anke
Ehrhardt, einer aus Hamburg stammenden Kaufmannstochter. Am Johns Hopkins
Hospital studierte sie die geheimnisvolle Macht der männlichen Androgene, und
zwar an Mädchen, die als Föten unter ihrem Einfluss gestanden hatten, entgegen
der Naturregel.
Alles,
was die traditionellen Klischees für richtige Jungen vorsahen, war an diesen
Mädchen zu beobachten. Sie verschmähten Puppen und liebten wilde, raumgreifende
Spiele, natürlich auch Sport, sie waren ausgesprochen wettbewerbsorientiert und
strebten in Kindergruppen nach Dominanz - zweifellos ein vorgeburtliches
Androgen-Programm. Aber sie waren sicher als Mädchen identifiziert, und darin
sah Money seinen Trumpf, schließlich hatten Diamonds Meerschweinchen keine
Identität.
Trotzdem
höhnte Diamond, er würde die Theorie des offenen Tors erst glauben, wenn Money
"unverzüglich" einen Jungen mit normaler vorgeburtlicher Hormongeschichte
vorweisen könne, der "erfolgreich zur Frau erzogen wird".
Genau das
Experiment bot sich an, als der Brief aus Winnipeg kam. Money schrieb
unverzüglich zurück, und Anfang 1967 reisten die Reimers mit den Zwillingen ins
2200 Kilometer entfernte Baltimore. Sie waren tief beeindruckt von Moneys Aura
in seinem Arbeitszimmer: überall Orientteppiche, selbst über die Armstühle
geworfen, und dann all die fremdartigen Aborigines-Plastiken, Phallus, Vulva,
Brüste inmitten eines tropischen Pflanzenparadieses. "Ich schaute zu ihm
auf wie zu einem Gott", erinnerte sich Janet Reimer.
Money
riet bei Bruce genau zu dem Programm, das er für Zwitter mit Mikropenis
entwickelt hatte, weil die chirurgische Rekonstruktion eines Penis höchst
unbefriedigend war, eine Neovagina dagegen ein gutes Ergebnis versprach. An der
Johns Hopkins University bestand reichlich Erfahrung, die Jungen gleich nach
der Geburt zu kastrieren, äußerlich einem Mädchen anzugleichen, im Schulalter
chirurgisch mit einer Vagina zu versehen und in der Pubertät mit Östrogenen zu
feminisieren.
Die
Reimers waren verwirrt und flogen wieder nach Hause. Ihr Kinderarzt in Winnipeg
riet ab, aber ihre Überlegung, dass es ihr Kind als Mädchen leichter haben
werde, als im Schatten seines unversehrten Zwillingsbruders zu stehen, gewann
schließlich die Oberhand.
Die
Eltern gaben Bruce den Namen Brenda Lee, ließen dem Kleinkind die Haare wachsen
und brachten es im Alter von 22 Monaten, also während Moneys postuliertem
Toresschluss, zur Kastration in das Johns Hopkins Hospital. Mit den Hoden
verlor das Kind ein für alle Mal die Chance auf spätere Fruchtbarkeit. Der
Penisstumpf wurde chirurgisch abgetragen, so dass sich äußerlich ein annähernd
mädchenhaftes Erscheinungsbild ergab.
Die junge
Mutter nähte aus dem weißen Satin ihres Hochzeitsgewandes für ihre neue Tochter
das erste Kleidchen, aber Brenda versuchte, es sich vom Leib zu reißen. "O
mein Gott, sie weiß, dass sie ein Junge ist." An diesen quälenden Gedanken
sollte sich die Mutter bis heute erinnern. Dem Vater blieb unvergessen, wie
Brenda seinen Rasierer haben wollte und unglücklich war, als sie hörte, dass
sich Mädchen nicht rasieren. Obwohl sie mit Puppen überhäuft wurde,
interessierte sie sich nur für das Spielzeug ihres Zwillingsbruders, besonders
für Autos.
Als
dominierender Zwilling haute sie zu, um Brian aus misslichen Lagen zu befreien.
Sie pinkelte vorzugsweise im Stehen, obwohl sie das nicht durfte, weil so viel
daneben- ging. Aber sie konnte, so schrieb die Mutter an Money, auch sehr
feminin sein, immer dann, wenn sie ihren Eltern besonders gefallen wollte.
Als
Brenda im Alter von vier Jahren zur ersten Nachuntersuchung zu Money gebracht
wurde, schlug und trat sie um sich, weil sie sich nicht testen lassen wollte.
Brian, als perfektes Vergleichsobjekt ebenfalls hoch gefragt, witterte, dass
ihn und seine Schwester irgendein finsteres Geheimnis umgab, etwas, über das
niemand sprach: "Wir waren wie Aliens", so drückte er dies Gefühl
später aus.
Obwohl
Brian nie am weiblichen Geschlecht von Brenda zweifelte, fiel ihm schon in der
ersten Klasse auf, dass sie anders als alle anderen Mädchen war. Sie benahm
sich grob und ungebärdig, sie wurde verspottet und ausgegrenzt - eine
schmerzliche Erfahrung, die sich durch ihre ganze Schulzeit ziehen sollte.
Mit sechs
Jahren malte sie beim Test im Johns Hopkins Hospital einen Jungen als
Selbstbildnis. Money intervenierte auf seine Art. Nach seiner Theorie kreiste
die Identität um den harten Kern des genitalen Unterschieds. Deshalb hielt er
kindliche Sexspiele, "fucking games", wie er gern sagte, für
förderlich im Sinn einer gesunden Entwicklung, Prüderie erschien ihm dagegen
als schädliches Unheil. So zeigte er den Zwillingen Fotos von nackten Kindern.
Was dann geschah, erinnerten sie noch als Erwachsene mit großer Scham. Money
soll sie aufgefordert haben, sich auszuziehen. Zwei Szenen sind den beiden ins
Gedächtnis gebrannt: Brenda mit gespreizten Beinen und Brian auf ihr, Brenda
auf allen Vieren und Bruce von hinten über ihr.
1972, als
Brian versetzt wurde, die unangepasste Brenda dagegen in der ersten Klasse
sitzen blieb, veröffentlichte Money sein Opus magnum mit seiner Co-Autorin Anke
Ehrhardt.
In der Bundesrepublik erschien es als Rororo-Taschenbuch
"Männlich - Weiblich". Darin wurde der sensationelle Zwillingsfall als
Erfolgsgeschichte enthüllt. Moneys Theorie erregte wissenschaftliches Aufsehen
in der westlichen Welt.
Sie fegte bei gestandenen Medizinern, Soziologen,
Psychologen und Philosophen das traditionelle Geschlechterbild hinweg,
beflügelte die noch junge Frauenbewegung und erreichte in simpler Form über die
Medien weite Kreise.
Mit
sieben Jahren weigerte sich Brenda, nach Baltimore zu reisen, aber sie wurde
durch einen Besuch von Disneyland bestochen. Um sie auf die Operation zur
Anlage einer Vagina vorzubereiten, zeigte ihr Money Fotos von einer
Hippie-Mutter bei ihrer Geburt. Aber die verstörte Brenda wollte kein
"Babyloch". Money diagnostizierte eine tief sitzende Angst vor der
Chirurgie. Brenda sah das, wenn die Erinnerung stimmt, ganz anders, ihre Gedanken
kreisten um einen jungen Mann mit Schnurrbart und Sportwagen: So einer wäre sie
zu gern geworden.
Wenig
später, im Herbst 1973, traf sich eine Forscher-Creme in Dubrovnik zu einem
Symposium über Geschlechtsidentität. Der Star Money und der als Fanatiker
verschrieene Diamond gerieten über den Zwillingsfall in einen Streit, der nach
einer Anrempelei zu einer Prügelei auszuarten drohte. Kollegen trennten die
Kontrahenten. Sie repräsentierten zwei konkurrierende Lebensstile: Money, der
lonely wolfe, der wegen seiner avantgardistischen Freizügigkeit von manch einem
beneidet wurde; Diamond, der Familienmensch, der es zu vier Töchtern bringen
sollte.
Vor der
nächsten Reise nach Baltimore, 1974, hatte Brenda einen Nervenzusammenbruch.
Sie konnte nur noch in einer Ecke hocken und heulen. Als sie nach ein paar
Monaten Aufschub doch wieder Money gegenübersaß, murmelte sie unverständliche
Antworten. Kaum dass er auf das Thema der Operation kam, rannte sie aus dem
Raum.
Money
legte den Eltern als Hausarbeit auf, sich vor Brenda nackt zu zeigen. Dass ihre
Mutter plötzlich unbekleidet den Haushalt versah, verstörte das Kind. Die
Reimers gingen mit den Zwillingen zum Nacktbaden an einen einsamen Fluss.
Auftragsgemäß
sprach die Mutter immer wieder über die notwendige Operation. Verzweifelt über
die Verschwörung ihrer Eltern und ihrer Hassfigur Money, rebellierte Brenda.
Der schulpsychologische Dienst verzeichnete, dass sich ihre Verhaltensprobleme
verschlimmert hätten. Auch Brian reagierte auf die Nöte seiner Schwester mit
Niedergeschlagenheit. Eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die sie erhielt,
wandte er sich von ihr ab, was er sich als Erwachsener nicht verzieh.
Als
Versuch, den auf Brenda fixierten Argusaugen der Großeltern, Onkel, Tanten und
Lehrer zu entkommen, verkauften die Reimers ihr Haus und zogen mit einem
Wohnwagen aufs Land. Aber alles wurde nur noch schlimmer. Vater Ron
realisierte, dass die Verwandlung seines Sohnes Bruce in Brenda nicht
funktionierte, aber er konnte darüber nicht sprechen, stürzte sich als
Workaholic in seinen Job bei einer Sägemühle und ließ sich abends vor dem
Fernseher mit Bier volllaufen.
Der
nächste Test im Johns Hopkins Hospital, den Brenda nur unter großem Zwang
absolvierte, konfrontierte die Eltern mit einem neuen Problem. Nach Exploration
der erotischen Phantasien der fast Zehnjährigen bereitete Money die Reimers
darauf vor, dass sie möglicherweise eine lesbische Tochter aufzögen - zu viel
für die schon fragile Familie.
In dem
kleinen Wohnwagen herrschte eine Stimmung, die sich Brenda als Abfolge der
immer gleichen Szene einschrieb: "Mama weinte und schrie, Papa
trank." Janet Reimer geriet in eine Depression und rächte sich an ihrem
verstummten Mann durch eine flüchtige Liebschaft. Vor lauter Schuldgefühlen
versuchte sie, sich durch Schlaftabletten umzubringen. Ihr Mann fand sie gerade
noch rechtzeitig und brachte sie ins Krankenhaus. Schließlich brannte auch noch
der Wohnwagen aus.
Während
die Reimer-Familie ihre tiefste Krise erlebte, erschien Moneys Theorie in einem
populärwissenschaftlichen Werk. Der Zwillingsfall wurde kitschig mit
Haarbändern und Rüschenblusen von "Daddy''s little Sweetheart"
ausgeschmückt: "Ein dramatischer Beweis, dass die Option der
Geschlechtsidentität bei der Geburt für normale Kinder offen ist."
Brenda
merkte sehr wohl, dass sie der Grund der Familientristesse war. Wieder zurück
in Winnipeg, versuchte sie, ihre Eltern aufzuheitern, indem sie sich
"ladylike" benahm. Dagegen reagierte sich Brian mit Gewalttätigkeiten
an anderen Kindern ab.
Schulpsychologen
diagnostizierten bei Brenda "stark maskuline Interessen" und
"Suizidgedanken". Der Psychiater Keith Sigmundson trommelte alle
fachlichen Größen von Winnipeg zusammen und zeigte ihnen ein Video von dem
Mädchen, das wie ein Junge war. Es herrschte Übereinstimmung, dass der
mittlerweile in der wissenschaftlichen Literatur in vielen Facetten zitierte
Fall bisher fehlgeschlagen, aber zu weit fortgeschritten war, um ihn rückgängig
zu machen.
Also
sollte weiter vorangeschritten werden, um Brenda schließlich doch zu einer
weiblichen Identität zu verhelfen. Unter der Supervision von Sigmundson wurde
sie einer weiblichen Therapeutin anvertraut. Money bedrängte diese brieflich,
Brendas Widerstand gegen die Vaginaloperation zu brechen. Die Therapeutin
scheiterte und reichte den Fall weiter. Die nächste Therapeutin kapitulierte
vor dem Problem, dass Brenda wie eine Detektivin ihr Rätsel lösen wollte, aber
genau das nicht sollte.
Ferngesteuert
von Money, bekam Brenda kurz vor ihrem zwölften Geburtstag Östrogene
verschrieben. Der Vater kam mit den Pillen, als ob sie ein Weihegeschenk wären:
"Damit du einen Büstenhalter tragen kannst." Brenda wollte keinen
Büstenhalter. Schon gar nicht den Busen, der ihr alsbald wuchs, während sie zugleich
wie Brian in den Stimmbruch kam. So oft es ging, versteckte sie die Pillen
unter der Zunge und spuckte sie ins Klo.
Noch
einmal brachte sie die geballte therapeutische und elterliche Anstrengung 1978
in Moneys Sanktum. Als er ihr seine Hand auf die Schulter legte, flüchtete sie
in Panik bis auf ein Hausdach. Wieder zu Hause, drohte sie mit Selbstmord, wenn
sie noch einmal gezwungen würde, Money zu sehen. Die dritte Therapeutin riet,
das Mädchen unverzüglich zu einem Jungen zu machen, aber die Eltern befürchteten,
das Leben ihres Kindes zu riskieren.
Brenda
tanzte auf Festen mit Jungens. Als der erste sie zu küssen versuchte, war es
für sie wie "ein Nackenschlag". In der Verwirrung ihrer Gefühle
glaubte sie, wahnsinnig zu werden. Dagegen erlebte sie auf einer Pyjama-Party
von Mädchen, die sich ungeniert auszogen, wunderbare Wonnen, was noch
verwirrender war.
Die
vierte Therapeutin half Brenda schließlich aus ihren Selbstmordphantasien. Sie
bestärkte das Kind, Money nicht mehr wieder zu sehen. Aber da kam er zu ihrem
Entsetzen angereist, hielt einen Vortrag in Winnipeg und besuchte die Reimers.
Die Zwillinge tauchten ins Kellergeschoss ab. Der illustre Gast verpasste sein
Flugzeug und nächtigte auf einer Luftmatratze in dem bescheidenen Haus. Es war
das letzte Mal, dass Brenda ihm begegnete.
Im Alter
von 14 Jahren nahm sie ihr Schicksal in die eigenen Hände und hörte einfach
auf, als Mädchen zu leben. In Jungsklamotten zog sie wie ein verschlampter
Freak durch die Gegend, verspottet als "Höhlenfrau" oder "Gorilla".
Sie pinkelte wieder im Stehen und wurde aus der Schultoilette erst von den
Mädchen, dann den Jungs auf die Straße vertrieben.
Der Arzt,
der fasziniert von dem großen Money Brendas Hormonbehandlung überwachte,
erreichte seine Grenzen: 20 Minuten saß das verstockte Mädchen ihm gegenüber
und weigerte sich, die Brust betasten zu lassen. Schließlich stellte er ihr die
Frage ihres Lebens: "Willst du ein Mädchen werden oder nicht?" Ihre
Antwort: "Nein." Der Arzt war zu Brendas Überraschung nicht ärgerlich,
sondern sagte ruhig: "Okay, du kannst dich wieder anziehen."
Unverzüglich setzte er sich mit der Therapeutin in Verbindung und überzeugte
sie, dass dem Teenager endlich die Wahrheit gesagt werden müsse.
Das war
die Aufgabe von Vater Ron. Er holte Brenda von ihrer Therapiestunde im Auto ab,
spendierte ihr ein Eis und wirkte so nervös, dass sie ein Familiendesaster
befürchtete. Während er sie in der Intimität des Wagens über ihr Schicksal
aufklärte, sah sie ihren Vater zum ersten Mal in ihrem Leben weinen. Sie weinte
nicht. Zorn, Ungläubigkeit, Erstaunen erschütterten sie, aber das alles
überwältigende Gefühl war Erleichterung: "Plötzlich machte alles
Sinn." Mit dem zerschmolzenen Eis in ihrer Hand stellte sie nur eine
Frage: "Wie war mein Name?"
In einem
kleinen Häuschen, in dem seine Mutter als Parkplatzaufseherin arbeitete, erfuhr
Brian zur selben Zeit, dass seine Zwillingsschwester sein Bruder war. Vor Wut
durchschlug er mit der Faust zwei Scheiben: "Scheiße, die ersten 14 Jahre
meines Lebens waren eine Lüge."
Brenda
nahm nach dem biblischen Kampf gegen Goliath den Namen David an. Kurz vor
seinem 15. Geburtstag hatte er bei der Hochzeit eines Onkels den ersten
Auftritt als Jüngling im Anzug. Hingebungsvoll tanzte er mit der Braut. Er
bekam Testosteronspritzen und ließ sich den Busen wegoperieren.
Gleich
nach der schmerzhaften Prozedur kaufte er sich ein Schießeisen für 200 Dollar.
Gefährlich ausgestattet marschierte er ins St. Boniface Hospital und stellte
Dr. Huot: "Wissen Sie, in welche Hölle Sie mich gestürzt haben?" Der
Arzt realisierte, dass sein Patient mit dem verschmorten Penis vor ihm stand
und fing still zu weinen an. David stürzte aus dem Raum und weinte sich am Ufer
des Red River aus. Dann zerschmetterte er die Waffe mit einem Stein und warf
sie in den Fluss.
Die
Rekonstruktion eines rudimentären, nicht funktionstüchtigen Penis und
nachfolgende Infektionen brachten ihn 18-mal ins Krankenhaus. Mit 18 Jahren
bekam David das Schmerzensgeld ausgezahlt, inzwischen über 170 000 Dollar. Um
Mädchen zu imponieren, kaufte er sich eine Karosse mit Bar und TV, die als
rollendes Schlafzimmer ganz mit Plüsch ausgeschlagen war. Darin küsste er viele
Mädchen, vermied aber mehr Intimität.
Der
ersten richtigen Freundin gestand er sein Penisunglück. Sie plauderte das
Geheimnis aus. Als David realisierte, dass die Mädchen über ihn kicherten,
schluckte er den ganzen Vorrat der Antidepressiva seiner Mutter. Die Eltern
fanden ihren bewusstlosen Sohn und fragten sich im ersten Anflug des Schocks,
ob sie seinen Todeswunsch akzeptieren sollten. Dann brachten sie David
schleunigst ins St. Boniface Hospital. Nach einem zweiten Selbstmordversuch
rettete ihn Brian.
Eine
13-stündige Operation bescherte David im Alter von 22 Jahren einen einigermaßen
funktionstüchtigen Penis. Er beneidete seinen Zwillingsbruder, der bereits
verheiratet war und zwei kleine Kinder hatte. Aber er schlug sich mit dem
Problem herum, ob er einer Frau seine Unfruchtbarkeit zumuten könnte.
Durch ein
von Brian sorgfältig vorbereitetes Arrangement lernte David eine junge Frau
kennen, deren Problem wie ein Puzzle-Teil zu dem seinen passte. Jane hatte drei
Kinder von drei Vätern, weil sie grundsolide jedes Mal an die Liebe geglaubt
und nicht abgetrieben hatte, aber immer wieder verlassen worden war. Die beiden
feierten 1990 Hochzeit mit 130 Gästen. David adoptierte Janes Kinder und fand
vor allem in seinem Sohn die verlorene Kindheit wieder.
"Mickey"
Diamond, längst Professor für Reproduktionsbiologie an der Universität von
Hawaii, hatte immer wieder nach Informationen über den Zwillingsfall gesucht
und schließlich sogar per Inserat in einem Fachdienst behandelnde Ärzte
gebeten, sich bei ihm zu melden. Angeregt durch eine BBC-Recherche, stieß er
schließlich auf den Psychiater Sigmundson, dem Supervisor von Brendas Therapie.
Mit der
Genehmigung von David, der zum ersten Mal von der wissenschaftlichen Bedeutung
seines Schicksals erfuhr, veröffentlichten Diamond und Sigmundson den Fall 1997
unter dem Pseudonym "John/ Joan" in einer angesehenen
Wissenschaftszeitschrift. Die beiden Autoren erlebten einen Ansturm von
Journalisten und legten David eine lange Liste mit Interviewwünschen vor. Da er
wie sein Vater ein Rock-''n''-Roll-Fan war, suchte er den unbekannten Vertreter
des Magazins "Rolling Stone" aus. Colapinto interviewte David über
hundert Stunden und wertete alle Protokolle über dessen Behandlung aus. Sein
Artikel, ebenfalls unter dem John/Joan-Pseudonym, wurde preisgekrönt.
1998
präsentierte eine Wissenschaftlergruppe den Gegenfall. Der Junge aus Toronto,
der seinen Penis ebenfalls bei einer Beschneidung verloren hatte, wurde bereits
mit sieben Monaten im Johns Hopkins Hospital kastriert. Inzwischen 26 Jahre
alt, äußerte die junge Frau keinen Zweifel an ihrer weiblichen Identität,
beschrieb aber ihre Interessen als ausgesprochen maskulin: schon ihr
Jungens-Spielzeug in der Kindheit und schließlich ihren handwerklichen
Männerberuf. Zwar hatte sie sexuelle Erfahrungen mit drei Männern, aber es war
ihr lieber, wenn sie ihre Unterhosen anbehielten. Ihre erotischen Phantasien
kreisten um Frauenkörper. Von ihrem letzten Freund ging sie über in eine
lesbische Beziehung.
Colapinto
stieß bei seinen Recherchen noch auf die Fälle von zwei Jungen, deren
Beschneidung in Atlanta misslungen war: an ein und demselben Tag, genau dem Tag
von Davids 20. Geburtstag. Ein Elternpaar kassierte 22,8 Millionen Dollar
Schadensersatz und reflektierte auf eine Penis-Rekonstruktion bei Sohn Antonio.
Dagegen wurde "Baby Doe", wie das zweite Kind in den Gerichtsakten
hieß, nach Moneys Programm zum Mädchen gemacht. Dabei war der Wissenschaftler
durch eine Korrespondenz mit Janet Reimer, der er Persönliches wie seinen
Prostatakrebs anvertraute, über David wohl informiert.
Money,
inzwischen 78 Jahre alt und emeritiert, verweigerte zu Davids Fall jeden
Kommentar. Aber indirekt nahm er doch Stellung: Als er zum Fall eines Jungen,
dessen Penis von einem kleinen Hund abgebissen worden war, konsultiert wurde,
hatte er keinen Rat mehr zu geben. Was immer er falsch gemacht haben mag, sein
Werk enthält viele Erkenntnisse, die bis heute als richtig gelten.
Moneys
Mitarbeiterin Anke Ehrhardt machte in den USA eine spektakuläre Frauen-Karriere
als Professorin. Sie wurde in New York Chefin eines großen Forschungszentrums
für die psychosozialen Folgen von Aids und förderte als Feministin begeistert
Frauen. Auch andere Forscher aus Moneys Entourage besetzten Schlüsselpositionen
im Wissenschaftsbetrieb.
Bei
seinen umfassenden Recherchen kam Colapinto, inzwischen Vater eines Sohnes,
auch in Kontakt mit Selbsthilfegruppen von Zwittern, die mit ihrer
Geschlechtszuweisung und all den Operationen viele Schwierigkeiten hatten.
Übers Internet formierte sich in den USA eine Bewegung von Intersex-Menschen.
Ihre Ausläufer reichen inzwischen bis nach Deutschland, wo in der Regel ein
Mikropenis unter 2,5 Zentimetern beim Baby abgeschnitten wird und eine
Zuweisung zum weiblichen Geschlecht erfolgt.
Die
Forderung von amerikanischen Intersex-Aktivisten trifft sich mit einer
avantgardistischen medizinischen Linie, die Diamond und Sigmundson vertreten:
Weg mit dem Messer in der Kindheit. Gleichwohl müsse in der dualen
Geschlechterwelt eine sehr klare, wenn auch vorläufige Entscheidung getroffen
werden, auf welche Seite das Kind gehört, und dann vorsichtig abgewartet
werden, was es selber will.
Der über
sein eigenes Schicksal hinausragende Kontext, auch Alpträume von "Baby
Doe", bewogen David, in Colapintos Buch seine Anonymität zu lüften.
Inzwischen 34 Jahre alt, blickt er gelassen in den "Abgrund von
Dunkelheit" und auf die "Gehirnwäsche" in seiner Kindheit. Auch
hat er Trost für seine noch immer von Schuldgefühlen zerfressenen Eltern übrig.
Durch die
Kastration und die Östrogene in der Pubertät sieht er mit seiner zarten Haut
ohne sonderlichen Bartwuchs sehr viel jünger und zierlicher aus als sein
eineiiger Zwillingsbruder mit seiner wuchtigen Statur und einem dicken
Schnurrbart - ein Unterschied, über den David gern witzelt: "Ich bin der
junge coole Elvis, er ist der fette alte Elvis."
Sichtlich
genoss er seinen ersten Fernsehauftritt in einer Talkshow. Seine öffentliche
Mission geht gegen die phallische Arroganz, die ihn zur "Null" und
zum "Nichts" absinken ließ: "Es ist nicht der Penis, der den
Mann ausmacht."
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