Freitag, 16. Juni 2017

Eine Geschlechtsumwandlung ist besonders effektiv, wenn bereits früh in der Pubertät Hormone verabreicht werden

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2017
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Sie wollte keine langen Haare, keinen Busen, keine Menstruation. Sie war sich schon als Kind sicher, ein Knabe zu sein
Eine Geschlechtsumwandlung ist besonders effektiv, wenn bereits früh in der Pubertät Hormone verabreicht werden. Jedoch ist Vorsicht geboten, denn manche Kinder rücken wieder von ihrem Wunsch ab.
Nico* wollte keine langen Haare, keinen Busen, keine Menstruation. Er war sich schon als Kind sicher, ein Knabe zu sein – obwohl er biologisch betrachtet als Mädchen zur Welt kam. Aber er konnte diesen weiblichen Körper nie akzeptieren. Die Medizin half ihm: Mit 13 Jahren bekam er Hormonblocker (GnRH-Blocker), um die Produktion der vom Körper produzierten weiblichen Sexualhormone zu unterbinden. Seit er 15 ist, erhält er Testosteronspritzen, die ihn in Aussehen und Stimme zu einem jungen Mann machen, sein Äusseres also seinem inneren Empfinden anpassen.

«Was würde ich darum geben, auch solche Hormonblocker bekommen zu haben und nicht diese unangenehm tiefe Stimme zu haben», seufzt Manu. Bei ihr ist es allerdings umgekehrt. Manu kam biologisch gesehen als Knabe zur Welt, sie empfindet sich aber als Frau. Heute nimmt sie weibliche Hormone, hat glatte Haut und halblange Haare. Aber da sie in der frühen Pubertät keine Hormonblocker erhielt, sind ihre Stimme und ein bisschen auch ihr Körperbau männlich. «Mich nervt das immer wieder, wenn ich in Arbeitskleidung nicht als Frau wahrgenommen werde», sagt die Physiklaborantin. So gesehen hatte Nico Glück, weil er früher behandelt wurde.

Leidvolle Pubertät

In der Schweiz, in Deutschland und anderen Ländern steigt seit einigen Jahren die Nachfrage nach Beratungsangeboten für Kinder, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren können. «Bis zum Jahr 2000 hatte ich ungefähr eine Beratungsanfrage pro Monat, heutzutage erhalte ich jede Woche vier neue», sagt der Arzt Bernd Meyenburg, der 1987 in Deutschland am Uniklinikum der Goethe-Universität in Frankfurt in der psychiatrischen Institutsambulanz die erste Sprechstunde für diese Gruppe eröffnet hat. Auch Dagmar Pauli, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich, erhält immer mehr Anfragen.

Die Bedürfnisse und Sorgen von Kindern, die sich im falschen Körper fühlen, werden seit ein paar Jahren auch ernster genommen. Heute wisse man, welches Leid die Pubertät bei Transjugendlichen auslösen könne – bis hin zu Suizidversuchen, betonen die Experten. Denn in der Pubertät werden die äusserlichen Zeichen des Geschlechts immer deutlicher sichtbar und sind somit kaum noch kaschierbar. Allerdings ist die Geschlechtsidentität bei Kindern noch nicht klar ausgeprägt. Eine Diskrepanz im biologischen und empfundenen Geschlecht kann sich also noch auswachsen.

Gemäss den wenigen durchgeführten Studien empfinden sich nur 15 bis 20 Prozent der Kinder mit einem gestörten Geschlechtsempfinden auch im Erwachsenenleben noch als Transgender. Zwischen einem Viertel und der Hälfte der Transkinder (je nach Studie) sind später lesbisch oder schwul. Gemäss der Fachliteratur können Kinder aufgrund von Missbrauch, anderen Traumata oder auch wegen ihrer Familienkonstellation eine Störung der eigenen Geschlechtsidentität haben, aber eben nur eine vorübergehende. Allerdings umfassen diese Studien jeweils nur wenige Personen, und es ist nicht immer klar, wie intensiv die Teilnehmer vor Studienbeginn ihre Transidentität empfanden. Bei Jugendlichen ist die Geschlechtsidentität hingegen schon recht stabil.

Betroffene für frühe Gabe

Die Ärzte stehen also vor der grossen Frage, wer wirklich dauerhaft ein Transgender ist. «Nur diese Personen dürfen wir nach medizinethischen Massstäben mit den pubertätsblockierenden Medikamenten behandeln», sagt Alexander Korte, Kinder- und Jugendpsychiater an der LMU München. Denn niemand wisse, wie sich eine jahrelange Einnahme solcher Substanzen auf die Gehirnentwicklung auswirke. Man will aber mögliche gravierende Nebenwirkungen nur in Kauf nehmen, wenn es sich um eine dauerhafte Transidentität handelt.

Es existieren derzeit keine handfesten Kriterien, nach denen sich entscheiden liesse, wer sich dauerhaft als Transgender fühlt. Als Faustregel gilt, dass Kinder, die schon sehr früh und/oder sehr vehement und über einen längeren Zeitraum hinweg ihr angeborenes Geschlecht ablehnen sowie sich strikt weigern, die für ihr Empfinden falsche Kleidung anzuziehen und sich der traditionellen Geschlechternorm entsprechend zu verhalten, dauerhaft als Transgender einzustufen sind. Sehr ernst zu nehmen ist auch, wenn Kinder versuchen, die in ihren Augen falschen Genitalien zu entfernen. Wichtig für die Einstufung ist zudem, dass keine anderen psychischen Erkrankungen vorliegen.
Derzeit werden Hormonblocker in der Schweiz wie in Deutschland meist erst dann verschrieben, wenn die Kinder sich in der frühen Phase der Pubertät befinden, medizinisch spricht man dann von Tanner-Stadium II. Dann beginnt sich das Brustdrüsengewebe zu entwickeln, der Hoden fängt an zu wachsen. Gegengeschlechtliche Hormone werden meist ab dem 16. Lebensjahr eingesetzt – wobei nicht das kalendarische Alter, sondern die psychosexuelle und kognitive Reife entscheidend sein sollte.

Betroffene plädieren hingegen für eine noch frühere Gabe von Hormonblockern, unter Umständen bereits in der Vorpubertät, weil keine irreversiblen Geschlechtsanpassungen damit verbunden seien. Man müsse sich in der jeweiligen Lebensphase in seinem Körper wohl fühlen, wenn nötig auch mit Medikamenten, sagen sie. Und auch schon allererste sichtbare Anzeichen der pubertären Körperumwandlungen könnten grosse seelische Belastungen verursachen.

Suche nach Ursachen

Noch wenig geklärt ist die Frage, woher der gestiegene Beratungsbedarf rührt. Wahrscheinlich gibt es heute nicht wirklich mehr Transkinder und Transjugendliche als noch vor zehn Jahren. Betroffene und Ärzte sind eher der Meinung, dass man jetzt in der Gesellschaft offener darüber redet. Ganz wichtig sei zudem auch, dass man gerade im Internet viele Informationen erhalten könne, meint Manu. So könne man heutzutage die eigenen Gefühle und die erlebte Ablehnung des biologischen Geschlechts besser einordnen und nach psychologischer Beratung fragen.

Experten gehen davon aus, dass eines von 1000 Kindern zumindest vorübergehend ein Transgender ist. Erik Schneider, Psychiater und Psychotherapeut von Intersex & Transgender Luxemburg, meint dagegen, dass gemäss neuerer Forschung eines von 100 bis 200 Kindern transgeschlechtlich sei. Zwar kämen in die Beratungszentren mehr Transmädchen (Personen mit einem männlichen Geburtsgeschlecht, die sich als Mädchen empfinden). Doch das sei vor allem darauf zurückzuführen, dass man in unserer Gesellschaft nach wie vor bei einem Knaben viel weniger akzeptiere als bei einem Mädchen, sich nicht geschlechtskonform zu verhalten. Bei Erwachsenen gibt es ungefähr gleich viele Transfrauen wie Transmänner.
Offen bleibt, ob auch Faktoren zum Beispiel in der Umwelt das Empfinden einer Transidentität beeinflussen. Experten diskutieren zudem über biologische Ursachen wie spezifische Hormonspiegel, Abweichungen bei den Funktionen der Rezeptoren für Sexualhormone oder bestimmte neuronale Entwicklungen während der Schwangerschaft, die eine anhaltende Geschlechtsidentitätsstörung auslösen könnten. Doch bis anhin haben Untersuchungen von Transmenschen keine solchen Abweichungen von der medizinischen Norm gefunden. – ähnlich, wie man auch kein «Homosexuellen-Gen» kennt.

Viele Transfrauen und Transmänner empfinden solche Analysen als erniedrigend, ebenso wie auch die immer wieder von neugierigen Mitmenschen gestellten Fragen nach operativen Massnahmen. «Man sollte einen Menschen als das akzeptieren, als das er sich vorstellt», sagt die Transfrau Sabrina.



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