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und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2017
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vor, einer Minderheit anzugehören!
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deswegen Spende Blut, denn es fehlt in der ganzen Welt!
Ich habe Ihn, Du auch?
Organspenden können andere zum Leben verhelfen, sei stolz auf dich selbst mache
Ihn Dir den Organspende Ausweis!
Hey you have it and need it, so donating blood,
because it is missing in the world!
I
had him, you also? Organ donation can help others to life, be proud of your self
doing Him Get donor card!
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denn Wissen ist Macht!
Der Kampf um das Geschlecht
2,5
Millionen Deutsche wandeln im Niemandsland zwischen Mann- und Frausein. Und aus
diesem Niemandsland wollen sie raus. Sie wollen Anerkennung. Dabei geht es um
Deutungshoheit, Sprachregelungen und um Wahrheit. Gekämpft wird mit
erstaunlicher Brutalität, mit Anfeindungen, Vernichtungsfeldzügen und
Shitstorms.
The struggle
for the sex
2.5 million Germans convert man and woman into
Niemandsland. And from this Niemandsland they want to get out. They want
recognition. This is about the importance of interpretation, language
regulation and truth. They fight with astonishing brutality, with hostilities,
extermination campaigns, and Shitstorms.
Die Signale
in der angesagten Bar Silver Future in Berlin-Kreuzberg sind klar: An der einen
Wand ein Porträt von Audrey Hepburn – mit Schnauzbart. An der anderen ein Bild
von Superman – mit voluminösen Brüsten. Hinter dem
Tresen das Schild: "Congratulations. You are leaving the heteronormative
Sector." Man
verlässt hier also den heteronormativen Sektor und wird dazu beglückwünscht.
"Heteronormativ",
das lernt schnell, wer in die Szene eintaucht, ist ein Kampfbegriff.
"Heteronormativ" ist ein permanenter Vorwurf an die Welt jenseits von
Orten wie Silver Future, an jene überkommene Gesellschaft da draußen, die die
Menschheit noch in Mann und Frau einteilt und zur Norm erklärt, dass Männlein
sich mit Weiblein paart. Ihr gegenüber stehen die, die anders leben wollen. Sie
fassen sich im sperrigen Akronym LGBTIQ zusammen: also Lesben, Schwule,
Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle und Queere. Lange Zeit forderten sie vor
allem die Akzeptanz der homosexuellen Liebe. Nun – nachdem dieses Ziel so wie
gut erreicht ist – hat sich ihr Streben weiterentwickelt: Sie bestehen auf dem
Recht, sich gar nicht mehr auf ein Geschlecht festlegen lassen zu müssen.
Laut der
groß angelegten ZEIT- Vermächtnis-Studie von 2016 wandeln 3,3 Prozent der
deutschen Bevölkerung in einem Niemandsland zwischen Mann- und Frausein.
Entweder weil sie heute ein anderes Geschlecht haben als bei ihrer Geburt oder
weil sie sich weder mit dem Attribut weiblich noch männlich identifizieren. 3,3
Prozent der Deutschen: Das sind knapp 2,5 Millionen, so viel wie alle Einwohner
der Großstädte München und Köln zusammen. Menschen, die die Öffentlichkeit
lange kaum wahrnahm, drängen nun mit aller Macht auf Anerkennung. Nicht nur
hierzulande, sondern in allen Ländern der westlichen Welt.
Erhebliches
Aufsehen erregten sie vor allem mit der Toilettenproblematik oder dem bathroom
war, wie die Debatte in den USA mittlerweile genannt wird. Dabei geht es – für
Einsteiger ins Thema – darum, ob in öffentlichen Gebäuden Toiletten für
Menschen vorgehalten werden sollten, die sich weder als Mann noch als Frau
fühlen. Oder ob man nur noch "Unisex-Klos" für alle Geschlechter
braucht.
Berlin,
dessen rot-rot-grüne Regierung im Koalitionsvertrag verspricht, die Stadt zur
Regenbogenhauptstadt zu machen, prüft gerade die Einrichtung solcher Toiletten.
Die Gegner des Plans greifen sich an den Kopf: Hat die Hauptstadt keine anderen
Probleme? Als eine seiner letzten Amtshandlungen verschickte Präsident Barack
Obama die Anordnung an alle Schulen, jedes Kind dürfe von nun an die Toilette
seiner Wahl benutzen, auch wenn Pass oder Körperbeschaffenheit ein anderes
Geschlecht nahelegten. Dies war eine der ersten Regelungen, die Donald Trump
kippte. Er ist ein heteronormativer Politiker, keine Frage.
Der
Toilettenstreit wirkt bizarr, ist aber Symptom einer weitaus grundsätzlicheren
Auseinandersetzung. Wer die Frontlinien abschreitet, merkt: Es geht um die
Frage, ob die Zweiteilung in die ewigen Menschheitskategorien Mann und Frau
künftig obsolet wird. Aber wer befindet über deren Abschaffung? Die Minderheit,
die sich diskriminiert fühlt? Oder die Mehrheit, die darauf beharrt, dass das
Schema für die allermeisten Menschen immer noch passt?
Es geht um
Deutungshoheit, um Sprachregelungen, um Wahrheit. Gekämpft wird mit
erstaunlicher Brutalität, mit Anfeindungen, Vernichtungsfeldzügen und
Shitstorms. Die Sache mit dem Geschlecht ist womöglich eins der am
verbissensten geführten ideologischen Gefechte der Gegenwart.
Beginnen wir
mit der biologischen Grundlage, am besten an der Hochschule Merseburg, in einem
Wissenschaftlerbüro, 20 Gehminuten von der Innenstadt, aber deutlich weiter vom
gesellschaftlichen Konsens entfernt. Professor Heinz-Jürgen Voss, Ende 30,
schwul, schwarzes Shirt, schwarze Wolljacke, hat sich Zeit genommen, um seine
Botschaft zu erläutern. Das ist auch notwendig. Denn Voss verkündet
Ungewöhnliches: "Die Einteilung in Männer und Frauen hat mit biologischen
Eigenschaften wenig zu tun." Unser Sortieren in zwei Geschlechter sei
vereinfachend und werde der Komplexität der menschlichen Biologie nicht
gerecht. Voss ist ein fachlicher Zwitter. Er hat Biologie mit Schwerpunkt
Genetik studiert, aber auch Sozialpolitik und Geschlechterforschung. Heute ist
er Professor für Sexualwissenschaft, und als solcher hat er ein Ziel. Er will,
dass Geschlecht als etwas Fließendes begriffen wird. "Es ist eine extreme
Zuspitzung, zu behaupten, dass es nur zwei Entwicklungsmöglichkeiten
gibt", sagt er.
In der Tat:
Am Anfang sind wir alle geschlechtslose Urwesen. Bis zur sechsten
Schwangerschaftswoche haben Embryonen äußerlich noch kein unterscheidbares
Geschlecht. Die Organe wachsen erst später, männliche bei den Embryonen, die
ein Y-Chromosom tragen. In der Regel.
Aber eben
nur in der Regel. Bei etwa jedem 500. Neugeborenen bricht die Natur mit diesem
Prinzip und erschafft Zwischengeschlechter, das ist ungefähr ein Kind in jeder
größeren Schule. Deren Schicksal nehmen wir aber kaum wahr, denn noch immer
formen Mediziner intersexuelle Babys mithilfe von Skalpell und Hormonen
entweder zu Jungs oder zu Mädchen. Dabei ist es inzwischen gesellschaftlicher
Konsens, dass Entscheidungen von derartiger Tragweite eigentlich jeder selbst
treffen sollte, vor der Pubertät zum Beispiel.
Für
Heinz-Jürgen Voss sind solche geschlechtlich unbestimmten Kinder der Beweis,
dass es zwischen der männlichen und der weiblichen Hemisphäre ganze Welten
gibt, die wir nicht länger ignorieren dürfen. Und vielleicht, sagt er, sei
unsere Geschlechtersortierung nach Chromosomensätzen sowieso willkürlich. Das
lehre doch schon ein Blick ins Tierreich. "Es gibt Säugetiere, bei denen
wir keinen Chromosomen-Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Tieren
erkennen", sagt er. Welche? "Japanische Landratten und
Mull-Lemminge."
In den
nächsten zwei Stunden dekliniert er alle messbaren Unterschiede zwischen den
Geschlechtern durch, erst Gehirn, dann Körper. In einem Punkt hat Voss fraglos
recht: Viele der neurologischen "Warum Frauen nicht einparken und Männer
nicht zuhören können"-Studien stehen auf extrem dünnen Daten-Beinchen. Da
wird von minimalen Fallzahlen hochgerechnet, da werden statistische Unschärfen
aufgeblasen, und es wird sehr munter verallgemeinert. Die amerikanische Psychologin
Janet Hyde hat 7.000 Einzeluntersuchungen zu Geschlechterunterschieden
ausgewertet. Ihre Liste der glasklaren Mann-Frau-Eigenschaften ist kurz: Frauen
werfen nicht so weit, sie lehnen Gelegenheitssex tendenziell eher ab, sind
weniger aggressiv und masturbieren seltener. Etliche Untersuchungen legen zudem
nahe, dass Männer ein besseres Raumverständnis haben. Eine überschaubare Liste.
Betrachtet
man aber die menschlichen Körper, sieht alles schon anders aus. Und da, so
scheint es, greift Voss in dieselbe Trickkiste wie die "Der Mann stammt
vom Mars"-Prediger. Er räumt ein, dass es im Durchschnitt
Geschlechterunterschiede bei der Muskelmasse, dem Fettgehalt, der
Hormonverteilung gibt. Allerdings nie ohne ein angehängtes Aber. Sind Männer
nicht größer, haben sie kein schmaleres Becken, sind sie nicht muskulöser, und
ist nicht der Testosterongehalt in ihrem Blut höher? Doch, das mag "im
Schnitt" so sein, sagt Voss, aber es gibt Frauen, die diese Werte
ebenfalls erreichen.
Er denkt
etwa an Caster Semenya, die 800-Meter-Läuferin mit dem kantigen Körper, die als
Teenager vor fast zehn Jahren bei der Leichtathletik-WM in Berlin all ihren
Konkurrentinnen spielend davonlief und an der nachher die Sportfunktionärswelt
verzweifelte, weil ihr weiblicher Körper die hormonelle Ausstattung eines
Mannes aufwies, wie der Dopingtest ergab. Ein Jahr lang brüteten die Experten
darüber, ob Semenya nun ein Mann sei oder eine Frau. Sie durfte als Frau
starten, musste aber zunächst Testosteronsenker nehmen. 2015 fiel diese Regel,
Semenya lief ohne medikamentöse Bremse gegen andere Frauen und gewann das
800-Meter-Rennen bei den Olympischen Spielen in Rio. Ihr Fall zeigt, wie schwer
wir uns, auf Schwarz und Weiß getrimmt, mit dem Grau zwischen den Geschlechtern
tun.
Der Kampf um
das Geschlecht
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Kommentare
Aber
ignoriert der Vorschlag des Geschlechterforschers Voss, auf
Geschlechtereinteilungen im Sport künftig ganz zu verzichten, nicht die Tatsache,
dass es im Durchschnitt eben doch Schattierungen gibt? (Und was würden die
Frauen sagen, die bei den Wettkämpfen dann meistens verlören?)
Das alles
könnte diskutiert werden. Langsam, vorsichtig und abwägend. Wenn es denn
möglich wäre. Aber so kompliziert männliche und weibliche Gehirne auch sein
mögen, eines scheint moderne Menschen unisex zu einen: Sobald die Sprache auf
das Thema Geschlecht kommt, brennen alle Sicherungen durch.
Gender-Gaga
heißt das Buch der Publizistin Birgit Kelle, für die jedes Nachdenken über die
Beschaffenheit des Geschlechts ein Angriff auf die naturgegebene Weiblichkeit
ist. Und natürlich der Schriftsteller Akif Pirinçci, der in seinem wirren Buch
Die große Verschwulung eine Entmännlichung des gemeinen Mitteleuropäers herbeifantasiert.
"Gender-Mainstreaming ist ein von geisteskranken und faulen Lesben, die
komplett vom Staat alimentiert werden, erfundener Scheißdreck", zetert er
in einem Interview. Heinz-Jürgen Voss beleidigt er sogar als
"geisteskranken Schwulen mit Dachschaden". Und auch die AfD nimmt
sich der Gender-Diskussion mit besonderer Leidenschaft an. Wer bei
AfD-Veranstaltungen zugegen ist, weiß, dass oft schon eine Bemerkung zu
zusätzlichen Toiletten für Transleute genügt, um den Raum in hämisches Gelächter
zu versetzen.
Auch die
Industrie besteht auf zwei Geschlechtern, denn Ordnung muss sein. Kinder werden
mit Produkten in Blau und Rosa zugeschüttet, als führten sämtliche Hersteller
den finalen Kampf zur Verteidigung von Geschlechterklischees. Das ist auch die
Weltsicht weiter Teile des Bürgertums. Als mein kleiner Sohn kürzlich bloß mit
rosafarbenem Jäckchen bekleidet am Strand entlanglief, schrie ein Kind
entsetzt: "Mama, warum hat das Mädchen einen Puller?" Doch anstatt
dem Kind zu antworten: "Weil es ein Junge mit rosafarbener Jacke
ist", zischte die Mutter mich an: "Ist doch krank, was manche Leute
ihren Kindern anziehen." Das ist die eine Seite. Die Eindeutigkeit des
Geschlechts wird mit Inbrunst verteidigt, als sei sie eine der letzten
Wahrheiten in unserer Welt.
Im jungen,
urbanen Milieu, das die Individualität zum allerhöchsten Gut erkoren hat,
gehört es hingegen mittlerweile dazu, sich in Geschlechterfragen uneindeutig zu
geben. Dem Time Magazine zufolge lehnen in den USA zwölf Prozent der Millennials,
also der um die Jahrtausendwende Geborenen, die Kategorien Mann und Frau für
sich selber ab. Facebook hat zuletzt einen PR-Erfolg gefeiert, als das
Unternehmen verkündete, die User nicht mehr auf zwei Geschlechter festzulegen,
sondern sie selbst aus 60 verschiedenen Angeboten wählen zu lassen, genderfluid
zum Beispiel oder weder-noch oder gendervariabel. Alle drei Begriffe bezeichnen
Menschen, die sich irgendwo zwischen Mann und Frau verorten. Das Angebot passt.
Soziale Netzwerke dienen dem Zelebrieren der eigenen Besonderheit – jetzt eben
auch beim Thema Geschlecht.
In Berlin
ist es mancherorts inzwischen üblich, genderneutral zu formulieren. Auch ich
selbst, wohnhaft in Kreuzberg, wurde schon mehrmals gemahnt, nicht zu sagen:
"Der Letzte macht das Licht aus." Sondern korrekt: "Die Person,
welche zuletzt den Raum verlässt, lösche das Licht." Und gerade hat mir
mein Bezirk mitgeteilt, man suche noch "Wahlhelfende". Wer das nicht
besonders gelungen findet – weil es, wie Max Goldt schrieb, dann seltsame Wesen
gäbe, wie "biertrinkende Studierende" oder "sterbende
Lehrende" –, gilt als das Allerletzte und reaktionär. So sieht die andere
Seite aus.
Überhaupt,
Berlin: Die Bezirksverordnetenversammlung in Friedrichshain-Kreuzberg
akzeptiert, genau wie in anderen Teilen der Stadt, ohnehin nur noch Anträge,
die geschlechtsneutral formuliert sind. An vielen deutschen Universitäten wird
Studenten heute mit Punktabzug gedroht, sollten sie ihre Hausarbeiten rein
männlich formulieren. Die vermeintliche Minderheit macht sich also immer
deutlicher bemerkbar im Alltag der Mehrheit. Und als mein kleiner Sohn eine
Kindergärtnerin bekam, die früher ein Mann war, herrschte Konsens, dass darüber
nicht gesprochen würde. Als mein größerer Sohn, gerade Grundschüler, den
Kleineren dann mit abholte und als Erstes laut rief: "Hey, wieso spricht
denn die neue Erzieherin wie ein Mann?", ignorierten alle peinlich berührt
das fragende Kind, als gäbe es da nichts zu erklären, als könnte man dem
Menschen verbieten zu staunen. Als könnte Akzeptanz gelingen durch
Totschweigen.
René_Hornstein
(der Unterstrich im Namen ist Absicht) kommt mir am Berliner Nordbahnhof
entgegen. Groß und schlank und optisch zweigeteilt: unten Jeans, oben Bluse,
links rasiert, rechts mit Bart, auf der einen Seite das blonde Haar lang und
wellig, auf der anderen kurz geschoren. Hornstein sieht sich als "nicht
binär", als Person jenseits der zwei Geschlechter. In Briefen soll keine
Anrede "liebe" oder "lieber" die Höflichkeit wahren, und in
diesem Text für das ZEITmagazin sollen kein er und kein sie auftauchen.
Folgende Formulierungen sind erwünscht: Hat René_Hornstein gesagt, hat die
Person gesagt, hat der Mensch gesagt, oder neu ersonnene, uneindeutige Pronomen
wie "hen" oder "sier" oder "per" sollen die
Person bezeichnen. Hornstein ist Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung der
Transmenschen namens Trans* und Dauererklärende(r) – in Ministerien, bei
Verwaltungen, auf der Straße. "Wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege,
wie ich möchte, also auch geschminkt, mit Absätzen, im Rock, ist das
gefährlich. Denn das heißt für mich: ausgelacht, beschimpft und angespuckt zu
werden, eigentlich bei jeder U-Bahn-Fahrt", sagt Hornstein. In Berlin hat
die Gewalt gegen Schwule, Lesben und Transpersonen nach deren eigenen Angaben im
vergangenen Jahr massiv zugenommen. Junge Transmenschen nehmen sich häufiger
das Leben als andere Jugendliche. "Wir haben das Selbstbild einer
liberalen Gesellschaft, in der Personen so leben können, wie sie wollen. Beides
ist falsch." Argentinien, Malta oder Irland seien in der Gesetzgebung viel
moderner. Jedes Geburtsregister, das in Jungen und Mädchen einteilt, jedes
Formular, das eine Entscheidung zwischen Frau und Mann verlangt, jede
Verwaltung, die das Geschlecht nach Aktenlage kategorisiert, so Hornsteins
Eindruck, stempelten nicht binäre Menschen als abnorm ab. Erst im Jahr 2011
kippte das Bundesverfassungsgericht die Regelung, wonach sich Personen, die ihr
Geschlecht ändern, sterilisieren lassen müssen. Seitdem können auch Menschen,
die der Erscheinung nach männlich sind, gebären. "Meine Utopie ist es,
irgendwann so, wie ich bin, nicht mehr aufzufallen", sagt René_Hornstein,
"und die Rolle als special snowflake, die nicht in der Masse der anderen
Schneeflocken verschwinden kann, hinter mir zu lassen."
Wie lange
könnte das dauern? Hornstein zuckt mit den Schultern. "Wir haben viel
erreicht in den letzten Jahren. Aber wenn ich mir den Populismus ansehe, in den
USA, in Polen, auch in Deutschland, fürchte ich mich davor, dass all das wieder
verloren gehen könnte." Mit "all das" meint Hornstein zum
Beispiel, dass auch Menschen, die in der Grauzone zwischen Mann und Frau
wandeln, präsent sind. Die amerikanische Whistleblowerin Chelsea Manning – als
Mann geboren, als Soldat namens Bradley berühmt geworden – schickte nach ihrer
Haftentlassung Mitte Mai das Foto ihres neuen, weiblichen Ichs um die Welt.
Sängerin Miley Cyrus bezeichnet sich als genderfluid, Conchita Wurst siegte
beim Eurovision Song Contest. In Transparent erzählt Hollywood im Rahmen einer
Familienserie die Wandlung eines Menschen von Papa Mort zu Mama Maura, der von
seiner Tochter dann zärtlich Mapa genannt wird. Und der Jugendroman George
schließlich ist die klassische Coming-of-Age-Geschichte, allerdings aus der
Perspektive eines Transkindes. Erste zaghafte Schritte in Richtung Normalität.
Dann muss
Hornstein los, "sier", "hen" oder "per" sind die
drei geschlechtslosen Pronomen, die ich nutzen soll. Wenn ich später anderen
von dieser Begegnung erzähle, gelingt es mir nie, männliche und weibliche
Pronomen ganz zu meiden.
"Wie
reagieren Sie, wenn jemandem ein er oder sie rausrutscht?", hatte ich
Hornstein gefragt. Antwort: "Das ist schwierig für mich, es ist eine
schmerzhafte Situation, eine verletzende Handlung, und ich wünsche mir, dass
die Person sich entschuldigt."
Gern. Damit
sind wir endgültig an der Hauptfront des Gender-Gefechts angelangt: dem Kampf
um die politisch korrekte Sprache. Man muss dem Deutschen nämlich ziemlich
Gewalt antun, um ihm die Zweigeschlechtlichkeit auszutreiben. Manche sagen,
Sprache sei durabel und dehnbar, andere befürchten, sie könnte unter der Last
dieser Anforderung brechen, reißen, zerstört werden. Auf jeden Fall aber wird
Sprache unter den Anforderungen vom Werkzeug, das Menschen verbindet, zum Code,
der die Zugehörigkeit zum richtigen Milieu bescheinigt. Eine Person, die *
(Sternchen) oder _ (Unterstrich) benutzt, die nie stolpert, wenn sie die
Buchstabenkombination LGBTIQ aufsagt, und Menschen in Verlaufsformen zwängt,
sie zu Radfahrenden und Arbeitenden und Steuerzahlenden macht, gilt also als
fortschrittlich. Alle anderen eben nicht. "Kann es denn nicht sein, dass
jemand Ihnen zugewandt ist und trotzdem nicht genderneutral spricht?",
hatte ich Hornstein gefragt. Die Antwort: Das sei schwer vorstellbar.
"Wenn jemand sagt: Liebe Studenten ..., finde ich es ganz schwierig. Dann
weiß ich: Die Person hat mich nicht mitgedacht und ist vielleicht sogar eine
problematische Person."
Die Grenzen
meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt, soll Wittgenstein gesagt
haben. Andere Länder zeigen sich in Sachen geschlechtsneutraler Sprache
flexibler als wir. England zum Beispiel hat die Anrede Mx. (gesprochen Mix oder
Max) ersonnen, tauglich für Männer, Frauen und alle dazwischen, und gerade ins
Oxford English Dictionary aufgenommen. In Schweden ist hen, als drittes,
geschlechtsloses Pronomen, seit zwei Jahren offiziell in den Sprachschatz
integriert.
"Alle
politische Veränderung funktioniert über Sprache", so formuliert es Lann
Hornscheidt, groß, blondes kurzes Haar, Jeans und Kapuzenpulli. Hornscheidt
sitzt in der Teeküche des kleinen Berliner Verlages w_orten & meer, der
eine Sprache jenseits der Zweigeschlechtlichkeit erschaffen will und manchmal
in Happenings alles Männliche und Weibliche aus Büchern und Gedichten tilgt.
Auch Hornscheidt will weder als Mann noch als Frau wahrgenommen werden,
"ich verstehe mich als entzweigendernd".
Gut 30 Jahre
lang hieß Hornscheidt Antje. "Aber ich konnte mich mit den Stereotypen
davon, was Weiblichkeit ist, nicht identifizieren. Wusste aber auch:
Männlichkeit ist für mich keine Option. Und dann habe ich gedacht: Vielleicht
stimmt die Kategorie Geschlecht für mich generell nicht."
Hornscheidt
nennt sich nun also Lann und bittet das Gegenüber um "respektvolle
Anreden, die nicht Zweigeschlechtlichkeit aufrufen". Dafür schlägt Lann
gleich selbst neue Wortformen vor. Vor drei Jahren zum Beispiel lehrte Lann
Hornscheidt noch an der Humboldt-Uni und bat, nicht als Professor oder
Professorin tituliert zu werden, sondern als Professx. Und peng, brannten
wieder tausend Sicherungen durch. Und rauchen noch heute. Journalisten posteten
Hornscheidts Foto, versehen mit Altherrenwitzen, im Internet. Kaum ein
Kommentar zum vermeintlichen Gender-Wahnsinn kommt ohne das Professx-Beispiel
aus. Und seither erhält Hornscheidt Hassmails und hat für all die
Beschimpfungen, Morddrohungen und Vergewaltigungsfantasien sogar ein eigenes
Postfach eingerichtet. "Manchmal schreiben mir Leute: Ist das schon eine
Hassmail? Oder kann ich das noch an Ihre normale Adresse senden?"
Hornscheidt lacht, wirkt überhaupt wenig verbittert. "Das wollen sie
vielleicht, dass ich frustriert bin und aufgebe. Dafür ist mir mein politisches
Ziel aber zu wichtig."
Hornscheidt
empfindet die Tatsache, dass sich Menschen ständig einem Geschlecht zuordnen,
als Zwang, als Diskriminierung, als Genderismus, vergleichbar mit anderen
-ismen wie Sexismus oder Rassismus. "Meine Vision ist, dass wir eine neue
Sprache finden. Dass wir Kindern nicht mehr bei Geburt ein Geschlecht zuweisen,
sondern sie mit 18 wählen lassen: Möchte ich als Frau oder als Mann
wahrgenommen werden oder weder noch? Dann wird das Geschlecht vielleicht zu
einer Art Hobby, aber wäre nicht mehr die bestimmende zweite Haut, die Menschen
übergestülpt wird."
Das ist das
Ziel der Anstrengung? "Ja, und ich glaube, ich werde es noch erleben, dass
Geschlecht als Eintrag in den Pass wegfallen wird, dass es nicht mehr bei
Geburt zwangszugeschrieben wird." Hornscheidt lehnt sich zurück und sagt:
Eigentlich zeige der Hass auf den Professx-Vorschlag, dass die Gegenseite
begriffen habe, es wird ernst. "Eine Veränderung hat begonnen und ist
nicht mehr aufhaltbar."
Hornscheidt
selbst hat mit der Professx-Phase übrigens abgeschlossen und nennt sich jetzt:
Prof.ecs – die Schlusssilbe steht für exit gender, "Geschlecht
verlassen". Auf der Homepage veröffentlicht Hornscheidt Sprachbeispiele:
"Lann ist Lesecs von vielen Romanen. Lann und ecs Freundecs haben ecs Rad
bunt angestrichen." (Lann ist Leser/in von vielen Romanen. Lann und
ihre/seine Freunde haben ihr/sein Rad bunt angestrichen.) Klingt wie Satire.
Ist aber ernst.
Bereits
vergangenen Juli persiflierte Steffen Königer, Brandenburger
AfD-Landtagsabgeordneter, die geschlechtssensible neue Sprache, als er unter
den irritierten Blicken des Präsidiums bei seiner Begrüßung im Plenum 60
Anreden aneinanderreihte: "Sehr geehrte Androgyne, sehr geehrte Bi-Gender,
sehr geehrte Frau-zu-Mann" und so weiter – zweieinhalb Minuten lang.
100 000 Menschen haben sich das Video auf YouTube bislang angeschaut. Sehen
öffentliche Auftritte in Zukunft so aus? Warum braucht es ein derart gewaltiges
Umerziehungsexperiment? Was soll es bringen? Lann Hornscheidt verspricht sich
davon ein Mehr an Freiheit: Wir würden uns wieder als Menschen wahrnehmen, so
ecs Utopie, nicht als männliche und weibliche Abziehbilder absurder
Idealvorstellungen. Klingt wie ein apartes Gedankenexperiment. Aber die meisten
Menschen scheinen von dieser Utopie nichts wissen zu wollen. Sie rufen unbeirrt
bei Geburt: "Es ist ein Junge!", und herzen das Schwesterchen als
Prinzessin.
Darf ich
offen sprechen? Auch mir gelingt es bei aller Mühe nicht, Menschen weder als
Frau noch als Mann "einzulesen", obwohl Hornscheidt mir das im
Gender-Jargon ans Herz legt.
Ich lese zum
Beispiel Sphinx, den in den 1980er Jahren erschienenen Roman der Französin Anne
Garétta. Es ist die Geschichte zweier Liebender: das lyrische Ich, Anfang 20,
am Beginn einer Karriere an der Universität, und A***, zehn Jahre älter, aus
New York, Star einer Cabaret-Revue, eine klassische Lovestory von Begehren und
Verlust. Allerdings erwähnt Garréta das Geschlecht der Liebenden nie. Sofort
versuche ich diesen Leerraum zu füllen, sammle Indizien dafür, dass die beiden
ein schwules Paar sind. Viele Rezensenten, so lese ich später, sind sich
sicher, es handle sich um zwei Lesben. So treiben die Menschen das Spiel mit
den ewigen Kategorien Mann und Frau eben weiter. Ganz reizlos ist das nicht.
Vielleicht
wird eines Tages tatsächlich die Prophezeiung der New York Times wahr werden:
"In einer Generation", heißt es dort, "wird uns die Einteilung
in Geschlechter vielleicht so seltsam vorkommen, wie uns die Rassensegregation
von einst heute erscheint." Es würde passen als letzte Evolutionsstufe des
hyperindividuellen Menschen. Vielleicht aber auch nicht. Und dabei könnte man
es eigentlich belassen.
"Das
wäre schön", sagt Patsy auf dem plüschigen Sessel in ihrem Berliner
WG-Zimmer. Aber viele in der Szene könnten nicht ertragen, dass die Menschen
nicht so weit sind und vielleicht nie sein werden. "Ihre Reaktion ist
dann: Wir müssen mit aller Härte gegen diese Menschen vorgehen."
Patsy l’Amour
laLove, so ihr vollständiger Name, nennt sich Polittunte. Abends trägt sie ein
schwarzes Paillettenkleid, Perücke und rosa Haarreif. Jetzt, an diesem Morgen,
erinnern nur die lackierten Nägel an das Frausein. Vor mir sitzt Patrick Henze,
Ende 20, schwuler Mann. Aber bleiben wir bei "Patsy" und
"sie", das ist Henze lieber.
Patsy lässt
sich ins Deutsche übersetzen mit: "Sündenbock". Das passt.
Nestbeschmutzer, Verräter, fügen viele aus der Gender-Szene hinzu, schicken
Drohfotos, kündigen an, Patsy l’Amour laLove die Perücke vom Kopf zu reißen
oder ihr die Zähne einzuschlagen. Es ist derselbe Hass, der auch aus Lann
Hornscheidts Postfach quillt, nur erreicht er Patsy von der anderen Seite, aus
der "queeren" Szene, wo all die vermeintlich fortschrittlichen Menschen
zu Hause sind, die für sich beanspruchen, auf der richtigen, der "guten
Seite" zu stehen.
Nun ist
Patsy l’Amour laLoves Sünde recht überschaubar: Sie hat ein Buch herausgegeben.
Beißreflexe heißt es, und es kritisiert ebenjenes, was sie selbst seit
Erscheinen des Buches im Frühjahr nun am eigenen Leibe studieren kann: die
totalitären Züge der Szene, in der jeder fertiggemacht wird, der im Verdacht
steht, die reine Lehre nicht zu 100 Prozent zu unterstützen.
Drei
typische Beispiele:
1. Ein
Seminar an der Humboldt-Universität im Fach Genderstudies im Jahr 2016 beginnt
mit einer Pronomen-Runde, in der jeder sagt, ob er oder sie mit sie oder er
oder lieber neutral angesprochen werden möchte. Später redet ein Student eine
gewünschte Sie fälschlich als Er an. Er wird für die nächsten Termine vom
Seminar ausgeschlossen und soll – für alle nachlesbar – in einem
Google-Dokument sein Vergehen "reflektieren".
2. Im
September 2016 soll es in Berlin einen Vortrag zum Thema "Sichtbarkeit von
Lesben" geben. Geladen ist auch Sookee, eine Rapperin, die in ihrem Song
If I Had a Dick fantasiert, was sie mit einem Penis so alles anstellen würde.
Ein derartiges Lied sei eine Beleidigung von Transpersonen, die ihr männliches
Geschlecht loszuwerden wünschen, tobt die Szene im Netz. Die Veranstaltung wird
abgesagt.
3. Als im
Jahr 2013 bei einem Konzert der linken Punkband Feine Sahne Fischfilet in
Bielefeld der Schlagzeuger sein T-Shirt auszieht, erzwingen einige, dass der
Auftritt unterbrochen wird. Ihr Vorwurf, der sich übrigens bei fast allen
Queer-Camps oder Festivals wiederholt: Wenn ein Mann sich oben ohne zeigt,
nutzt er schamlos seine Privilegien aus, da von Frauen erwartet wird, ihre
Brustwarzen bedeckt zu halten.
In
fanatischen christlichen Sekten gibt es Eltern, die ihren Kindern verbieten,
Bananen oder Zwieback zu essen, da sie Erstere an einen Penis und Letzterer
(die Oberkante!) an eine Scheide erinnern. Erstaunlicherweise scheint die
queere Szene ähnlich besessen vom Thema Geschlechter zu sein, obwohl gerade sie
vorgibt, diese Kategorien beenden zu wollen.
Die Reihe
der Zwangsmaßnahmen und Tugendwächtereien ließe sich endlos fortsetzen. Weiße
Feministinnen erzählen mir, dass sie als Rassistinnen beschimpft werden, weil
sie die Burka für problematisch halten. Heteropaare, die sich in der
Öffentlichkeit küssen, gelten als ekelerregend und dominant. Wer darauf hinweist,
dass dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange zwar Vergewaltigung vorgeworfen wird,
er aber bislang nicht verurteilt ist, wird behandelt, als sei er mitschuldig.
Das alles
klingt grotesk, es ist für die Betroffenen selbst aber ein Drama. Nur ein nicht
korrektes Wörtchen – und schon rollt die Anschuldigungswalze über den Frevler
hinweg. Die vermeintlichen Sünder, erklärt Patsy l’Amour laLove das Prinzip,
werden massiv beschuldigt und isoliert. Jeder, der sich nicht vom
"Täter" lossage, werde mit fertiggemacht. Patsys sich aufdrängendes
Fazit: "Stalinistische und K-Gruppen verhielten sich ähnlich."
"Diese
schnelle und harte Verurteilung Andersdenkender, das Unterdrücken offener
Diskurse: Mich erinnert das an die Denunziationspraktiken der DDR", sagt
auch die Feministin Katrin Rönicke, die – einst Ziel solcher Angriffe geworden
– ihren Twitter-Account löschte und sich ein ganz neues Umfeld suchte.
Das alles,
so fürchten beide Dissidenten, führt dazu, dass Menschen sich einander nicht
mehr neugierig und gutwillig annähern, sondern dem anderen von Anfang an das
Schlechteste unterstellen. Und so verschanzt sich die Szene in ihrer Blase,
zieht sich in sogenannte Schutzräume zurück, aus denen jeder verwiesen werden
kann, der diskriminierender Äußerungen geziehen wird.
Einst sei es
die Mission der queeren Aktivisten gewesen, einen Kampf für die Freiheit zu
fechten, sagt Patsy l’Amour laLove. Dafür, dass jeder so leben und lieben kann,
wie er will. Dieses Ziel sei vielen, die heute von der Unterdrückung und Umerziehung
des Menschen träumen, verloren gegangen. "Der Maßstab muss doch das schöne
Leben für alle sein", findet Patsy. "Damit muss man doch
locken."
Zum Schluss
erzählt sie von einer Szene, die klingt wie ein Witz: Sitzt ein Uni-Seminar zur
Pronomen-Runde beisammen. "Mein Pronomen ist heute er", sagte einer,
"meines sie", ein anderer, "ich bin hen", so geht die
Reihe. Dann kommt eine Transfrau dran, gerade in die große Stadt gezogen und
noch unerfahren mit dem großen Identitätsding. Sie schaut in die Runde und
sagt: "Also, ihr könnt einfach Du zu mir sagen."
Und dann
hocke ich noch im Büro von Mari Günther, langes Haar, mit schwarzer Spange
hochgehalten, enge Jeans. Glückliche Transfrau soll ich sie nennen, sagt sie,
oder Väterin. Auch zu Mari darf man Du sagen, Sie natürlich auch. Nur er bitte
nicht, wenn’s geht. Länger sei der Beipackzettel ihres Selbst aber nicht, sagt
Frau Günther, zum langen Theoretisieren über Mann oder Frau fehle ihr die Zeit.
Mari Günther
berät beim Projekt "Queer Leben" Jugendliche, die zweifeln, ob ihr
Geburtsgeschlecht für sie das richtige ist. Der Gesprächsbedarf sei riesig,
sagt sie. Sie zeigt auf zwei Zettel an der Wand: "Die sind mein
Antrieb." Auf dem einen ist ein Gesprächstermin notiert, den eine junge
Frau verlangte, die aber nie aufgetaucht ist. Daneben die Nummer der Mutter mit
Rückrufbitte, sie wollte wissen, was in ihrem Kind vorgegangen war. Das Mädchen
hatte sich das Leben genommen.
Daneben hat
Mari Günther einen kleinen Brief gepinnt. "Lieber Anton", steht da in
Schülerschreibschrift. "Herzlichen Glückwunsch zum Namenstag. Dein alter
Name Lisa ist jetzt Geschichte. Ich wünsche Dir viel Glück auf Deinem weiteren
Lebensweg. Dein Freund Joel." Kinder seien die wahren Buddhisten, sagt
Mari Günther. Die meisten reagierten völlig entspannt, wenn ein Mitschüler nun
nicht mehr Anton heiße, sondern Lisa. Das sei eine Haltung, die sie auch
Erwachsenen empfehle.
Am Ende der
Recherche stauen sich in meinen Blöcken tausend Überlegungen zu Mann und Frau,
zu Geschlecht und Rollenmustern. Kann die Beraterin Mari Günther, selbst
zwischen Mann und Frau wandelnd, helfen, das Dickicht zu durchdringen? Wie ist
es denn nun, frage ich zuletzt: Gibt es ein Geschlecht, Frau Günther? "Vor
zehn Uhr morgens schon mal gar nicht", antwortet sie. "Und dann kann
man sich natürlich über die Tatsache, was an unserem Bild von männlich und
weiblich konstruiert und was angeboren ist, nächtelang streiten. Aber ich
finde, man kann mit seinen Nächten viel Besseres anstellen."
Hinter der
Geschichte
Unsere
Autorin kam in Berlin mit dem Thema Geschlecht schon oft in Berührung, aber vor
den ersten Interviews für diese Geschichte musste sie das Vokabular der
Gender-Szene wie eine Fremdsprache lernen: nonbinär, Transfrau, heteronormativ.
Dann folgte die Lektüre einer knapp 300-seitigen Sammlung der größeren
Berichte, die von beiden Seiten der Gender-Front in den vergangenen drei Jahren
veröffentlicht wurden. Erst dann hat sich Julia Friedrichs in ein knappes
Dutzend Gespräche und Begegnungen gewagt.