Freitag, 24. August 2018

Mindestens 11.000 chirurgische Eingriffe seit 2005! Fälle von schwerer Körperverletzung! Bei etwa jedem dreihundertsten Jungen weicht der Penis von der Norm ab

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2018
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Diese Kinder sind nicht krank – trotzdem werden sie operiert

Bis heute werden intersexuelle Kinder medizinisch behandelt, um sie männlicher oder weiblicher zu machen. Damit verletzen Ärzte medizinische Richtlinien, zeigt eine Recherche von BuzzFeed News.

Etwa 150 Kinder kommen in Deutschland jährlich mit uneindeutigen Genitalien zur Welt. Nach Recherchen von BuzzFeed News werden immer noch zu viele von ihnen operiert.
Als Nicole P. nach einem Kaiserschnitt in einer Klinik in Süddeutschland zu sich kommt, sagt ihr die Hebamme, dass sie einen Jungen bekommen hat. Die Eltern nennen das Kind Jonas. Am folgenden Tag telefoniert die Oberärztin mit dem Vater und sagt: „Es handelt sich doch eher um ein Mädchen.“ Ärzte von der Station kommen in das Zimmer der Mutter, raten zu einer kosmetischen Operation. „Sie sagten, das macht nichts, das sieht nachher keiner mehr“, sagt Nicole P.
Die Eltern machen sich Sorgen, fühlen sich alleine gelassen. Und sie müssen sich entscheiden, welches Geschlecht sie für das Neugeborene beim Standesamt angeben. „Es gab so wenig Informationen. Wie geht man da den richtigen Weg?“, sagt Nicole P. „Mein Eindruck ist, gut geschultes Personal dafür gibt es nicht“, sagt ihr Mann.
Nicole P. aus Süddeutschland hat ein intergeschlechtliches Kind, das heute elf Jahre alt ist und sagt: „Ich bin beides.“ Melina heißt das Kind heute und ist offiziell kein Sohn mehr, sondern eine Tochter. Melina wurde mit einem Penis und einer Vagina geboren, „Hermaphroditismus verus“ lautet die Diagnose. Nicole P. und Melina heißen eigentlich anders, doch die Mutter möchte, dass ihre Familie anonym bleibt. „Weil das Thema mit einem Tabu belegt ist, auch heute noch“, sagt sie. Deshalb möchte sie ihre Tochter vor der Öffentlichkeit schützen.
Trotz mehrerer Anfragen bei verschiedenen Betroffenenverbänden per Telefon und Email hat sich nur Familie P. zu einem Gespräch mit BuzzFeed News Deutschland bereit erklärt.
Etwa 150 Kinder kommen in Deutschland jährlich mit uneindeutigen Genitalien zur Welt, gibt die Bundesärztekammer an. Eine andere, verbreitete Schätzungen geht davon aus, dass 1,7 Prozent der Menschen weltweit intergeschlechtlich sind. Damit gäbe es so viele intergeschlechtliche Menschen, wie es Rothaarige gibt. Eine korrekte Zahl gibt es nicht, weil es sich mit Intergeschlechtlichkeit verhält, wie mit einem Farbspektrum: Es ist schwer zu sagen, wo das eine anfängt, und das andere aufhört.
Als intergeschlechtlich oder auch intersexuell werden Menschen bezeichnet, die weder eindeutig Mann noch eindeutig Frau sind. Etwa, weil sie mit einem Penis und einer Vagina geboren werden, oder weil der Körper bestimmte Sexualhormone nicht erkennt.
Die Reaktion der Ärzte bestand über Jahrzehnte oft darin, weitgehend unkontrollierte und kontroverse Operationen und Hormontherapien durchzuführen, um die Genitalien und Geschlechtsorgane der Säuglinge „normaler“ zu machen – das geschieht teilweise bis heute.
Anwältinnen halten das für Körperverletzung oder schwere Körperverletzung. Doch für die Ärzte hat das so gut wie nie rechtlichen Konsequenzen. Der größte Fachverband in Deutschland, Intersexuelle Menschen e.V., bietet bundesweit kostenlose Beratungen für betroffene Familien an. Doch diese werden kaum genutzt.
Viele Ärzte und Hebammen kennen die aktuellen medizinischen Leitlinien zum Thema nicht. Das ergibt sich aus zahlreichen Gesprächen, die BuzzFeed News in den vergangenen Monaten geführt hat. So finden noch immer dutzende oder gar hunderte Genitaloperationen jährlich an intersexuellen Kindern statt – die nach Recherchen von BuzzFeed News Deutschland teilweise klar gegen medizinische Richtlinien verstoßen. Und die Politik interessiert sich kaum für das Thema.
BuzzFeed News hat mit Ärztinnen, Fachvereinen, Betroffenen und Anwältinnen gesprochen. Das Ergebnis: Die Medizin will Menschen heilen, die sogenannte „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ haben, auch als DSD bezeichnet. Doch Betroffene sehen ihre Diagnosen oft nicht als Krankheit. Und in der aktuellen medizinischen Praxis vermischen sich gesellschaftliche und medizinische Vorstellung davon, was das ist: ein gesundes Geschlecht.
„Unsere Gesellschaft ist leider immer noch so zweigeschlechtlich“, sagt die Mutter Nicole P.
Die Oberärztin rät Nicole P. und ihrem Ehemann, das Kind als Mädchen aufzuziehen, aber mit einer Operation abzuwarten. Sie gibt ihnen die Adresse einer Intersex-Selbsthilfegruppe. Die Eltern recherchieren im Internet und vereinbaren einen Termin in einer Spezialklinik in Lübeck bei dem bekannten Intersex-Arzt Olaf Hiort, der dort das Hormonzentrum leitet.
In Lübeck machen die Ärzte einen Ultraschall von Melina: Das Kind hat einen Eierstock auf der einen Seite, einen Hoden auf der anderen sowie eine Gebärmutter. Und es ist ein gesundes Kind. Die Eltern ziehen das Kind als Mädchen auf, sprechen aber im engeren Freundes- und Familienkreis offen über die Intergeschlechtlichkeit.
Trotzdem ist sich Nicole P. nicht sicher, ob sie damals richtig entschieden haben. „Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass Melinas Geschlechtsrolle heute so festgelegt ist, auch wenn sie sich natürlich immer umentscheiden kann.“ Nicole P. hätte sich nach der Geburt mehr Zeit gewünscht. „Unsere Tochter ganz intergeschlechtlich aufzuziehen und es allen zu erzählen, fand ich damals nicht richtig. Ich hatte einfach Angst, dass sie ausgegrenzt wird.“
Als Nicole P. Melinas Kindergärtnerin und später auch der Schuldirektorin von der Intergeschlechtlichkeit erzählt, haben beide noch nie etwas davon gehört. „Unsere Gesellschaft ist leider immer noch so zweigeschlechtlich“, sagt Nicole P. „Man lernt erst mit der Zeit, dass es eben nicht nur schwarz und weiß gibt“, sagt ihr Mann.
Entscheiden sich Eltern für eine Operation, ist die Liste der Folgeschäden oft lang: Schmerzen, verminderte sexuelle Lebensfreude und Empfindungsfähigkeit, Unfruchtbarkeit, lebenslange Hormontherapien, Entzündungen, Depressionen, Suizidgefahr, zerbrochene Familienverhältnisse. Und es gibt viele Fälle von heute erwachsenen Intersexuellen, die als Kinder zu einem Jungen oder Mädchen operiert wurden, sich aber heute im falschen Körper fühlen und eine andere Identität leben.
„Macht ein Mädchen daraus.“
Eine der Personen, die wünschten, die Operationen aus der Kindheit hätten niemals stattgefunden ,ist  Maxi Bauermeister.
Als Maxis Mutter Christiane Bauermeister hochschwanger ist, ist sie für einen Ultraschall bei einem Arzt. Sie denkt, sie bekommt einen Jungen. „Der Penis ist nicht darstellbar“, sagt der Doktor zu ihr. Bauermeister macht sich keine weiteren Gedanken, der Penis werde schon wachsen, glaubt sie. Doch am dritten Tag nach der Geburt kommen Ärzte an ihr Bett und sagen: „Es ist ein Kind, bei dem wir das Geschlecht nicht feststellen können. Es hat keinen Penis. Es ist das Beste, wenn sie das Kind als Mädchen erziehen.“
„Ich war unheimlich erschrocken und dachte: Ich kann doch nicht einfach aus einem Jungen ein Mädchen machen? Ich bin doch nicht der liebe Gott“, sagt Bauermeister im Gespräch mit BuzzFeed News.
Sie berät sich mit dem Vater, beide fühlen sich betroffen und hilflos. Es ist 1984, das Wort intersexuell kennt niemand. Außer den Ratschlägen der Ärzte gibt es keine Informationen zu dem Thema. Die Mediziner sagen: „Macht ein Mädchen daraus.“

Die Eltern entscheiden sich zunächst gegen einen chirurgischen Eingriff, der Eintrag in der Geburtsurkunde bleibt leer. Als Bauermeister zu ihrer Familie nach Westdeutschland reist, schmuggelt sie das Kind in einem Beutel ins Flugzeug, weil es keinen Reisepass hat. Bauermeister geht zu verschiedenen Fachärzten. Alle sagen ihr dasselbe: Nur als Mädchen wird das Kind ein glückliches Leben führen können.

Als ihr Kind zwei ist, stimmt Bauermeister einer Operation zu. Ihrem Kleinkind werden die Hoden entfernt, welche im Bauchraum liegen. Es wird für immer zeugungsunfähig sein. Dann wird ein Loch für eine künstliche Vagina in den Körper operiert.

Damit das Loch nicht wieder zuwächst, fand bei Mädchen früher häufig eine sogenannte „Bougierung“ statt. Mit kerzenförmigen Metallstäben in verschiedenen Größen wurden die sogenannten Neo-Vaginas der Kinder regelmäßig geweitet. Maxi blieb das erspart.

Heute hat sich vieles verändert. Seit 2005 wurden immer wieder neue medizinische Leitlinien veröffentlicht. „Keine medizinische oder psychologische Intervention wird an dem Zustand der Uneindeutigkeit per se etwas ändern“, steht in der aktuellen deutschen Leitlinie von 2016. Es soll nun schonender und weniger operiert werden, Betroffene sollen besser informiert und beraten werden. Ob die aktuellen Leitlinien von 2016 umgesetzt werden, sei jedoch „nicht bekannt“, schreibt die Bundesärztekammer auf Anfrage.
Rechtlich bindend sind die Leitlinien nicht. Und niemand überprüft, ob sie von Ärzten oder medizinischem Fachpersonal wie Hebammen gelesen werden.
Eine Studie der Humboldt Universität zeigt, dass auch heute jedes Jahr noch etwa 1.700 Genitaloperationen an intergeschlechtlichen Kindern stattfinden. Der Anteil der Operationen an Kindern mit einer Intersex-Diagnose ist seit 2005 kaum gesunken.
„Mir ist es unverständlich, dass die Gesellschaft und die Regierung tatenlos zusehen, wie Tag für Tag in Deutschland Genitalverstümmelungen an intergeschlechtlichen Kindern vollzogen werden“, sagt Lucie Veith, eine der bekanntesten Intersex-Aktivist*innen in Deutschland und Mitglied im Verein Intersexuelle Menschen e.V., im Gespräch mit BuzzFeed News.
Susanne Krege, Leiterin der Urologischen Klinik in Essen, sieht das anders. „Die [...] Beschuldigung, dass wir Verstümmeler-Eingriffe durchführen, das würde ich so nicht stehenlassen. Das ist sicherlich vor zwanzig, dreißig Jahren so gewesen, heutzutage arbeiten wir wirklich mit Mikroinstrumenten und Lupenbrillen und können das sehr gut rekonstruieren, sowohl in weibliche als auch in männliche Richtungen“, sagt Krege BuzzFeed News am Telefon.
In der Frage, wann eine Operation an intergeschlechtlichen Kindern notwendig ist, stehen sich Ärzte und Aktivist*innen unversöhnlich gegenüber. Das liegt auch daran, dass beide Seiten ein anderes Verständnis davon haben, wo Intersexualität anfängt.

Bei etwa jedem dreihundertsten Jungen weicht der Penis von der Norm ab
Ärzte argumentieren häufig, dass Korrekturen nötig sind, wenn ein Kind sich eindeutig zu einem Jungen oder Mädchen entwickeln wird, die Geschlechtsorgane aber von der Norm oder in der Funktion abweichen. Etwa, wenn das Loch eine Penisses nicht an der Spitze endet, sondern irgendwo anders, was bei Jungen bei etwa jeder dreihundertsten Geburt vorkommt, eine sogenannte Hypospadie. Oder wenn bei Mädchen die Klitoris ungewöhnlich groß ist.
Auch eine Eltern- und Patientenintiative, die Menschen mit einer besonders häufigen Diagnose namens AGS vertritt, hält frühe Operationen für richtig, meist handelt es sich um Klitorisoperationen. Die jungen Frauen in den Gruppentreffen „sind sehr zufrieden mit den Operationsergebnissen“ schreibt die Initiative in einer Stellungnahme.
„Diese Fälle sind Genitalbeschneidungen. Wenn Ärzte und auch Eltern bei einer vergrößerten Klitoris behaupten, dass es sich um ein Mädchen handelt, wird eben ein Mädchen genitalverstümmelt“, sagt Aktivist*in Lucie Veith.

Mindestens 11.000 chirurgische Eingriffe seit 2005
Eine Anfrage von BuzzFeed News beim Bundesamt für Statistik zeigt, dass zwischen 2010 und 2016 tatsächlich mindestens 55 Kinder unter neun Jahren an der Klitoris operiert wurden, obwohl sie eine Intersex-Diagnose hatten.
Eine weitere Anfrage von BuzzFeed News ergibt, dass zwischen 2005 und 2016 insgesamt mehr als 11.000 chirurgische Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern stattgefunden haben. Darunter sind mehr als 500 plastische Rekonstruktionen des Penis, ein besonders drastischer Eingriff – obwohl die Richtlinien seit 2005 zu Zurückhaltung mahnen.
Schon 2015 schrieb die Bundesärztekammer in einer Stellungnahme: „Bei Neugeborenen und Kleinkindern ist keine wirksame Einwilligung in einen Eingriff möglich.“ Betroffene Minderjährige hätten das „Recht auf eine offene Zukunft“. An ihnen sollten „keine irreversiblen chirurgischen Eingriffe“ durchgeführt werden, sofern dies nicht medizinisch notwendig sei.
Auch die Agentur für Europäische Grundrechte kam 2015 zu dem Ergebnis, das in der EU die Menschenrechte von Intersexuellen durch die Operationen missachtet werden. Viele Ärzte wollen deshalb nicht mit der Presse sprechen.
Olaf Hiort ist Vorsitzender des internationalen Intersex-Ärztenetzwerkes DSD-Net. Trotzdem ist er auch nach mehrfacher schriftlicher und telefonischer Anfragen von BuzzFeed News über Monate hinweg nicht zu einem Gespräch bereit. Ein Pressesprecher von Hiorts Klinik in Lübeck sagte BuzzFeed News in einem Telefongespräch Anfang des Jahres, dass er die Ärzte vor der Öffentlichkeit schützen müsse. Man habe in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht.
Eine andere Ärztin, die selber intergeschlechtlich ist und mehrere Beiträge zu dem Thema publiziert hat, möchte weder über das Thema sprechen noch zitiert werden.
Die Ärztin Susanne Krege, Leiterin der Urologischen Klinik in Essen, ist eine der wenigen Ärztinnen, die überhaupt öffentlich über das Thema spricht. „Wir argumentieren immer nur, dass das Kind geschädigt wird, wenn es so früh operiert wird. Es gibt aber keine Untersuchungen dazu, wenn wir das Kind erst einmal in einem uneinheitlichen Geschlecht lassen, ob es nicht auch irgendwelche Schäden von sich trägt“, sagt Krege.

Tatsächlich gibt es kaum Untersuchungen dazu, wie intergeschlechtliche Kinder sich ohne hormonelle oder chirurgische Behandlung entwickeln. Für eine größere Zahl seriöser Studien auf diesem Gebiet gibt es zu wenige dieser Kinder. Eine Studie von 2014 zeigt jedoch, dass Kinder, die in uneindeutigen Geschlechtern aufwachsen, nicht automatisch diskriminiert werden.

Fälle von schwerer Körperverletzung
Doch es wird nicht nur darüber gestritten, ob und wann diese Operationen stattfinden dürfen – sondern auch, wer darüber entscheiden darf. „Ich finde es fraglich, ob Eltern in diesen Fällen ihre Kinder vertreten dürfen“, sagt die Rechtswissenschaftlerin Konstanze Plett, die sich seit Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt.
Wenn eine Operation im Nachhinein als falsch oder fehlerhaft empfunden wird, kommt es so gut wie nie zu Gerichtsverfahren gegen Ärzte oder Kliniken. Wer sollte auch klagen? Die Eltern haben selbst in die Operation eingewilligt. Hinterher zu beweisen, dass sie nicht ausreichend informiert waren, ist kaum möglich. Bei strafrechtlichen Verfahren werden die medizinische Praxis zur Zeit der Operation und die damals verbreiteten gesellschaftlichen Werte und Normen berücksichtigt. Und sind die Kinder alt genug, um selbst gegen Kliniken und Ärzte vor Gericht zu ziehen, sind die Fälle oftmals verjährt oder die Akten nicht mehr in den Archiven.

Auf einer Fachkonferenz im November 2017 in Berlin sagte die Medizinhistorikerin Anette Grünewald, dass es regelmäßig Operationen ohne medizinische Indikation bei unter zweijährigen Kindern gebe. „Die fallen in den Bereich der Wunschmedizin und sind damit Schönheitsoperationen.“ Das sei auch nach gegenwärtiger Rechtslage strafbar, werde aber nicht durchgesetzt. „Es findet keine Strafverfolgung statt“, so Grünewald.
Die Rechtswissenschaftlerin Konstanze Plett sagt gegenüber BuzzFeed News: „Es gibt Fälle von Körperverletzung oder schwerer Körperverletzung.“ Damit meint sie etwa die Klitoriseduktionen – oder wenn einem Kind wie Maxi Bauermeister die Hoden entfernt und das Kind unfruchtbar gemacht wurde. „Das wäre dann nicht nur ein Vergehen, sondern ein Verbrechen – wie seit 2013 die weibliche Genitalverstümmelung.“
„Das Bewusstsein bei Ärzten ist deutlich gewachsen in den letzten Jahren, dass man das nicht tun soll“, sagt die Ärztin Susanne Krege gegenüber BuzzFeed News auf die Frage, ob heute noch Operationen an intergeschlechtlichen Kindern stattfinden, um ihr Geschlecht eindeutig festzulegen. „Aber ob die Durchdringung jetzt wirklich bis ins hinterste Dorf reicht, ist fraglich. Und dann gibt es natürlich die ein oder anderen Kollegen, die das nun überhaupt nicht einsehen wollen, dass man es nicht mehr so macht wie früher. Die wollen diese Argumente nicht wahrhaben.“ Konkrete Namen will sie gegenüber BuzzFeed News nicht nennen.
Auch Nicole P., die Mutter mit dem elfjährigen Kind, bestätigt das aus ihren Erfahrungen in den Selbsthilfegruppen. Sie schätzt, dass die Hälfte der Kinder aus den Gruppen operiert wurde, ohne dass es eine medizinische Notwendigkeit gab.
Nur einmal hat in Deutschland eine intersexuelle Person erfolgreich gegen einen Arzt geklagt. 2009 erhielt Christiane Völling 100.000 Euro Schadensersatz. Völling wurden 1977 im Alter von 18 Jahren bei einer Operation ohne Einwilligung und Aufklärung Uterus und Eierstöcke entfernt. Der behandelnde Chirurg ließ sich – ein Jahr, nachdem er den Prozess verloren hatte – die 100.000 Euro von seinem Arbeitgeber erstatten.
„Das war ein Ausnahmefall“, sagt die Rechtswissenschaftlerin Konstanze Plett. „Was nützt das beste Recht, wenn es diejenigen, die es schützen soll, nicht nutzen können.“

Die Beratungspflichten werden nicht eingehalten
Eigentlich sollte jede Familie in Deutschland mit einem intergeschlechtlichen Kind vor einer Operation unabhängig beraten werden. So schreiben es die Leitlinien von 2016 fest. Doch es gibt nur einen einzigen Anbieter für solche Beratungen: Den Verein Intersexuelle Menschen e.V. – und der hat nach eigener Aussage nur 33 ehrenamtliche Berater*innen.
Der Verein geht davon aus, dass die kostenlose Beratung bundesweit nur 15 Prozent der Familien erreicht, in denen intergeschlechtliche Kinder operiert werden. Ein Großteil der Eltern, so schätzt der Verein deshalb, werde nur durch die Ärzte aufgeklärt. Das sei nicht ausreichend – und verstößt zudem gegen die Leitlinien von 2016.
„Wir sind noch nie aus einer Hamburger Klinik zur Peer-Beratung angefragt worden“, sagte die Beraterin Ursula Rosen vom Verein Intersexuelle Menschen e.V. während einer Expertenanhörung im Hamburger Senat im Juni 2018. Das ist deshalb bemerkenswert, weil zwischen 2010 und 2015 in Hamburg mehrfach Operationen an Kindern mit Intersex-Diagnose stattgefunden haben. Das zeigt die Antwort auf eine große Anfrage an den Hamburger Senat von Juli 2017. Und bereits 2015 hatte sich die Bundesärztekammer einer Stellungnahme des Deutschen Ethikrates von 2012 angeschlossen. Darin steht, dass eine Peer-Beratung für Betroffene sichergestellt werden soll.
„Unser Verein ist gar nicht allen Kliniken bekannt. Und wir wurden lange nicht ernst genommen“, sagt Rosen gegenüber BuzzFeed News.
Den neuen Leitlinien zufolge soll zudem nach der Geburt eines Kindes mit einer vermuteten Diagnose eine psychologische Beratung und Begleitung stattfinden. Doch Expertinnen und Experten sind auf diesem Gebiet selten. Sucht man etwa auf einer der bekanntesten Webseiten, auf der Fachpsychologen für solche Diagnosen aufgelistet werden, finden sich in ganz Hessen nur 13 Psychologinnen und Psychologen für das Thema.

Justizministerin Katarina Barley fordert ein Operationsverbot
Seit einigen Jahren beschäftigt sich die Politik mit dem Thema.
Maxi Bauermeister hat im Reisepass das „F“ für „female“ austragen lassen, dort steht jetzt ein „X“. Seit 2013 ist es in Deutschland möglich, den Geschlechtseintrag leer zu lassen. Das reicht jedoch nicht, entschied 2017 das Bundesverfassungsgericht. Intergeschlechtlichen Menschen stehe nach dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht eine positive Bezeichnung zu. Bis Ende des Jahres wird es nun erstmals in Deutschland für Intersexuelle einen neuen Begriff in Pass und Geburtsurkunde geben, der wahrscheinlich „divers“ lauten wird. Deutschland wäre damit das erste Land in der EU, das sich dafür entscheidet.
SPD-Justizministerin Katarina Barley kündigte zudem mehrfach an, Operationen an intergeschlechtlichen Kindern gesetzlich verbieten zu wollen. Einen Gesetzesvorschlag dafür gibt es bislang nicht, jedoch einen Passus im Koalitionsvertrag.

„Ganz viele Menschen wissen noch nicht, was das ist, auch in der politischen Landschaft nicht“, sagt Barley im Gespräch mit BuzzFeed News. Das sei nicht unbedingt nur böser Wille, sondern oft schlichte Unkenntnis. Daran, wie man mit Minderheitenfragen umgehe, die einen nicht selbst persönlich betreffen, zeige sich jedoch wie stark ein Rechtsstaat und eine Demokratie sei, so Barley. „Wenn jeder nur an sich selbst denkt, werden wir eine Gesellschaft aus Egoisten, in der ich nicht leben will.“

„Ich würde mir wünschen, dass ich einfach sagen kann: Das ist mein Kind, es ist intergeschlechtlich, und es darf sich aussuchen, ob es beim Sport bei den Jungs oder bei den Mädels mitmacht. Das wäre mein Traum“, sagt Nicole P.
Ihre Tochter Melina erklärte vor einigen Jahren einer Freundin beim Spielen, dass sie intergeschlechtlich sei. Die Kinder hatten sich nackt ausgezogen und die Freundin fragte, warum das denn so anders aussehe bei Melina. Mädchen hätten doch gar keinen Penis.
„Doch, manche schon“, sagte Melinas Vater.
Das sei nicht wahr, das habe sie in der Zeitung gelesen, sagte die kleine Freundin.
„Aber das siehst du doch, sie steht doch vor dir“, antwortete der Vater.
Die Freundin verstand das und fragte hinterher bei ihren eigenen Eltern nach: Ob man das kaufen könne. Sie wolle das auch haben.




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