Sonntag, 2. September 2018

Micha ist als intersexuelles Kind geboren, weder Mann noch Frau. Dann wurde Micha zu einem Jungen operiert. Es war der Beginn einer Biografie voller Schmerzen und Selbstzweifel.


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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2018
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Der Kampf für ein Leben

Micha ist als intersexuelles Kind geboren, weder Mann noch Frau. Dann wurde Micha zu einem Jungen operiert. Es war der Beginn einer Biografie voller Schmerzen und Selbstzweifel.

Micha ist etwa 14 Jahre alt und liegt auf einer Krankenhausliege, den Unterleib entblößt. Der behandelnde Arzt verlässt den Raum in der Universitätsklinik Innsbruck. Als er wieder hereinkommt sind einige Medizinstudentinnen an seiner Seite. Dann nimmt der Arzt ein Lineal und beginnt, Michas Penis zu vermessen. Eine Praxisstunde für die Studentinnen, eine Qual für Micha und seine Mutter, die mit im Raum ist. Micha liegt da, wie betäubt, wartet, dass es vorübergeht. Wie bei all den anderen Untersuchungen zuvor.
Die Uniklinik Innsbruck schreibt, solche Vorführungen stets nur mit Einverständnis durchgeführt zu haben. Der behandelnde Arzt schreibt, er erinnere sich heute nicht mehr an die Situation. Micha und die Mutter erinnern sich sehr genau.

Es sind die frühen 2000er Jahre. Mediziner haben damals genaue Vorstellungen davon, wie ein gesundes Genital auszusehen hat. Bis 9 Millimeter eine Klitoris, ab 25 Millimeter ein Penis. Alles dazwischen ist ein Fehler, der mit dem Skalpell korrigiert wird, weil der Körper nicht eindeutig der Kategorie Junge oder Mädchen zugeordnet werden kann. Micha aber ist dazwischen. Micha ist intersexuell.
Jahrzehntelang wurden Kinder wie Micha chirurgisch korrigiert, um „richtige“ Jungen oder Mädchen zu werden. Es gibt in der deutschen Sprache kein Pronomen für Micha, deshalb wird Micha in diesem Text „ersie“ genannt.

Niemand weiß genau, wie viele Personen intergeschlechtlich sind. Die Definitionen, wer dazu zählt und wer nicht, gehen weit auseinander. Grundsätzlich sind damit Personen gemeint, die weder eindeutig als Mann noch als Frau geboren werden. Etwa, wenn eine Person mit weiblichen Chromosomen Hoden hat oder der Körper die Sexualhormone nicht verarbeiten kann.

Mutmaßlich ist weltweit fast jeder 50. Mensch intergeschlechtlich. Damit gäbe es so viele intergeschlechtliche Personen wie es Personen mit roten Haaren gibt. In Deutschland wurden jahrzehntelang jedes Jahr mehrere hundert, wenn nicht tausende Kinder operiert, Hoden amputiert, Hautlappen zu künstlichen Penissen verlegt, Klitoris abgeschnitten.

Heute hat sich die medizinische Praxis verändert. Doch operiert wird noch immer. Viele sagen: noch immer zu häufig. Deshalb hat Micha mit BuzzFeed News Deutschland gesprochen und Einblick in seine Krankenakten gewährt. Damit das Thema öffentlich bekannt wird.

„Ich kann nicht begreifen, warum man mir all das angetan hat, alle diese Schmerzen. Warum man mich nicht gemocht hat. Warum man mich nicht lieben konnte“, sagt Micha.

Micha steht auf einem asphaltierten Flachdach, vier Stockwerke über den Straßen im Stadtteil Lindenau in Leipzig. Es ist ein bewölkter Vormittag im Juni 2018. Hier oben sind keine Menschen zu sehen, auf dem Dach fühlt Micha sich wohl. Ersie schleppt einen Sitzsack über die steile Leiter vom Dachboden ins Freie und setzt sich darauf. In den Etagen darunter leben zwanzig Menschen in einem Wohnhausprojekt, offene Küche, es riecht nach Räucherstäbchen, ein Baby weint, im Nachbargarten röhrt eine Kettensäge.

„Ich habe mich geschämt für das,
was ich bin.“

Neben Micha und dem blauen Sitzsack liegt ein Buch. „Ein intersexuelles Leben“ steht darauf. Es ist die Biografie der Intersex-Aktivist*in Hida Viloria, eine Erzählung von einem abenteuerlichen, spannenden und erfüllten Leben, als Mann und als Frau, mit tollem Sex und vielen Freundschaften, ohne Medikamente und ohne Operationen. „Ein Leben“, wiederholt Micha den Titel. „Das habe ich bis heute nicht geschafft. Das ist mir verwehrt geblieben.“ 1991 wird Micha W. in einem Krankenhaus in den Tiroler Bergen in Italien geboren. Im Osten liegt Österreich, im Westen die Dolomiten. Es ist eine Kaiserschnittgeburt, die zweite für Michas Mutter. „Sie haben wieder einen Jungen“, sagen die Ärzte zu Frau W. Nach zwei Tagen wird sie in ein Untersuchungszimmer geführt, dort liegt ihr Kind im Strampelanzug. Das Kind sei uneindeutig sagen die Ärzte. Der Vater wird mit dem Neugeborenen in die Universitätsklinik Innsbruck geschickt. Hypospadie, diagnostizieren die Ärzte. Später ist den medizinischen Akten von „Pseudohermaphroditismus masculinus“ die Rede. Ein „unechter Hermaphrodit“, weil Micha männliche Chromosomen hat.

Bei Micha endet das Urinloch nicht an der Spitze des Penisses, sondern unten, wie bei einem weiblichen Körper. Und das Genital des Kindes ist uneindeutig. Die Ärzte raten, ein Mädchen aus dem Kind daraus zu machen.

Die Eltern nennen das Kind Michael. Damit sie, wenn es doch ein Mädchen werden soll, ein A an das Namensende hängen können.

„Es ist einfacher ein Loch zu graben, als einen Stab zu errichten“, lautet ein geflügelter Intersex-Chirurgenspruch. Die meisten Kinder mit Hermaphroditismus-Diagnosen wie Micha wurden seit etwa den Sechziger Jahren zu Mädchen operiert. Möglichst früh sollte ein eindeutiges Geschlecht zugeordnet werden, damit die Kinder von der Gesellschaft akzeptiert werden, so das Prinzip der sogenannten „Optimal Gender Policy“.

Grundgedanken dieser Theorie haben sich bis heute gehalten. Heterosexueller Sex, besonders Penetration, müsse möglich sein, ebenso die Möglichkeit, Kinder zu bekommen. Der gesellschaftliche Konsens bestimmt die medizinische Praxis.

„Meine Diagnose hat für mich früher bedeutet, dass ich ein defekter Mann bin.“

Michas Vater wehrt sich gegen den Rat der Ärzte. Die Hoden und der Penis sollen nicht amputiert werden, dafür will er nicht verantwortlich sein. Damit ist die Entscheidung gefallen: Das Kind soll ein Junge sein. Die Operationen beginnen.

Drei Monate später entnehmen die Ärzte Baby Michael eine linsengroße Biopsie aus einem der Hoden, um die Gene und Hormonwerte zu bestimmen. Männlicher Chromosomensatz, 46,XY, auch PAIS genannt. Der Säugling bekommt Hormonspritzen zum „Simulationstest“, um zu sehen, wie die Sexualhormone reagieren. Michas Mutter ist zu Hause und weint viel, aus Sorge um das Kind.
„Wir haben auch nicht genau gewusst, was man tun sollte“, sagt Michas Vater. „Man hat immer gehofft, das man das Beste tut. Aber man ist abhängig von den Ärzten.“

Die Mediziner machen einen Gentest von Vater, Mutter und Michas Bruder. Sie wollen herausfinden, ob Michas Diagnose erblich ist.
Die Ergebnisse sind heute im Internet zu finden, zum Beispiel in den Vortragsfolien eines Chirurgen aus Innsbruck, der Micha den Akten zufolge mehrfach operiert hat. Der Pressestelle der Uniklinik zufolge handelt es sich um einen Vortrag für Vorlesungen.

Auf der Titelseite ist die Nahaufnahme eines entblößten Kindergenitals, daneben das Logo der Universität Innsbruck. Ein weiteres Bild von „Patient W.“ zeigt das Geschlecht während einer Operation. Das Genital ist zwischen den petrolgrünen Tüchern freigelegt. Ein Venenkatheter ist am Penisschaft eingestochen, das Genital blutet stark, oben aus der Spitze ragt ein dicker, dunkelroter Faden.
Auf Anfrage von BuzzFeed News gibt die Pressestelle der Uniklinik Innsbruck an, der Arzt erinnere sich nicht an den Patienten. Sämtliche Vorgänge um den damals minderjährigen Patienten seien nur mit Einverständnis seiner Obsorgeberechtigten erfolgt, gibt die Pressestelle auf eine zweite Nachfrage von BuzzFeed News an.

Weder Micha noch Michas Eltern erinnern sich daran, zugestimmt zu haben, dass von Micha Fotos gemacht oder verbreitet werden dürfen.

Da der Patient anonym geblieben sei „war eine gesonderte Genehmigung nicht erforderlich“, schreibt die Klinik.

„Micha war in der Universitätsklinik ein Versuchskaninchen“, sagt Michas Mutter heute im Telefonat mit BuzzFeed News.

Ihre Stimme klingt leise und zögerlich, immer wieder antwortet sie „Das fragen Sie besser meinen Mann“. Erst nach einigen Wochen und mehreren Gesprächen hatte Micha genug Vertrauen gefasst, um einem Gespräch von BuzzFeed News mit der Familie zuzustimmen. Eltern und Kind tun sich schwer, über all das zu reden. Auch deshalb nennen wir den Nachnamen der Familie in diesem Text nicht.
Der einzige Vertraute der Familie ist über die Jahre hinweg der behandelnde Kinderarzt in einer Tiroler Kinderklinik. Er gibt Hoffnung, Vertrauen.

„Er hat uns gesagt, das wird ein ganz normaler Junge. Aber jetzt ist doch nicht alles gut“, sagt Michas Mutter heute. Der Kinderarzt ist 2017 verstorben.

An viele Details von damals erinnert sich Frau W. kaum, vielleicht will sie es auch nicht. „Ich weiß es nicht mehr“, antwortet sie, immer wieder. „Vielleicht hätten wir zu einem Psychologen gemusst. Ich sehe ihn eher als Mann. Obwohl. Ich weiß auch nicht.“

In den Gesprächen mit Micha und den Eltern klingen Vorwürfe durch, tiefe Einschnitte, die sich durch die Kleinfamilie ziehen.

„Ich habe das Gefühl, dass ich von meiner Familie bemitleidet wurde für das, was ich bin“, sagt Micha.
Micha wächst in einem konservativen Tausendsechshundert-Einwohnerdorf zwischen Bergen und Wäldern auf. Bilder aus der Kindheit zeigen Micha unter dem Weihnachtsbaum, auf dem Schlitten, mit dem Bruder in Karohemden auf einem alten Baumstamm.

Das Dorf ist von grünen Hügeln umgeben, von der Hauptstraße aus kann man hohe Berge im Westen sehen. Von den Balkonen der Ferienhotels hängen rote und pinke Geraniensträucher. Jedes Bild auf Google ein Postkartenmotiv.

Sonntags trifft sich die Gemeinde in der Kirche. Im Spätsommer wird eine Kräuterweihe veranstaltet, die Jungfrau Maria wird mit der Heilkraft von Goldrute, Wiesenkümmel und Heideröschen geehrt. Hier gibt es nur Jungen und Mädchen.

Mit zwei Jahren liegt Micha unter Vollnarkose in der Kinderabteilung der Uniklinik in Innsbruck. Es ist der erste Versuch, das kleine Geschlecht zu einem Penis zu machen. Drei Chirurgen sind den Akten zufolge an der Operation beteiligt.

Michas medizinische Akten lesen sich wie Baupläne.

„Keine Blutung. Schaumgummikompressionsverband. Dauerkatheter.“

In der Familie wird über das Thema nicht gesprochen. Wenn Micha wieder einmal in der Klinik ist, versuchen die Eltern das vor ihren Verwandten nicht zu thematisieren. Niemand weiß von Michas Intergeschlechtlichkeit. Nicht die Nachbarn. Nicht die Lehrer. Nicht die anderen Kinder. Niemand sieht Micha je nackt. Als in der Schule geschwommen wird, geht Micha nicht hin.
Mit acht bekommt Micha von den Eltern eine Stichsäge geschenkt. Mit zehn eine Tischkreissäge. Jeden Tag cremt Michas Vater das Genital mit Testosteroncreme ein, damit es wächst, so haben es die Ärzte verordnet. Als Micha alt genug ist, das selbst zu übernehmen bricht ersie die Behandlung ab. „Irgendwie ist es doch auch sexueller Missbrauch, was mir widerfahren ist“, sagt Micha.

Die Forschungslage ist dünn und uneindeutig, beruht oftmals auf Stichproben, doch mehrere Studien haben in den vergangenen Jahren gezeigt, was die geschlechtszuweisenden Operationen mit den heute erwachsenen Kinder teilweise gemacht haben: „hohe Beeinträchtigung der Lebensqualität“, steht in den wissenschaftliche Untersuchungen. Die Liste ist lang: geringes Selbstbewusstsein, Bindungsschwierigkeiten, problematische Familienverhältnisse, Traumata. Dazu Ängste, sich beim Geschlechtsverkehr zu verletzen, zerstörtes Lustempfinden, Depressionen, Suizidalität.

In der Schulzeit beginnen die Probleme. Micha ist kein glückliches Kind, aggressiv, flüchtet oft alleine in die Natur. Dort bringt Micha sich als Jugendliche*r das Bogenbauen bei. „Ich habe in einem Gefängnis gewohnt“, sagt Micha. „Ich habe mir meine eigene Welt konstruiert. Das Bogenbauen war für mich Meditation. Es hat mit Überleben zu tun. Ich habe davon geträumt, alleine in der Natur zu leben.“ Wenn Micha kann, nimmt ersie damals die Werkzeuge mit nach draußen und schnitzt, testet, wie sehr sich der Bogen biegt. Er darf nicht brechen.

Mit 13 kommt Micha in die Pubertät. Stimmbruch und Bartwuchs bleiben aus, Micha wachsen Brüste. Die Ärzte empfehlen, die Testosteroncreme nicht mehr am Genital, sondern an den Brustdrüsen aufzutragen. Im Sommer arbeitet Micha als Tellerwäscher*in in einem Tiroler Restaurant und trägt dicke Wollpullis, aus Scham, aus Angst.

Dann trifft Micha zusammen mit den Eltern eine Entscheidung: Mastektomie.
Mit siebzehn lässt Micha sich die Brüste amputieren. „Das war ein unnötiger und selbstschädigendender Eingriff, den ich bis heute bereue“, sagt Micha. „Aus damaliger Sicht war es aber eine große Erleichterung. Ich war geistig noch ein Kind und mein Körper war mir immer fremd. Also habe ich gemacht, was von mir verlangt wurde.“ Niemand habe die Entscheidung in Frage gestellt.
Ein Schönheitschirurg in Stertzing übernimmt die Operation. Micha redet ungern darüber, hat keine Akten aus dieser Zeit.

Michas Privatsphäre ist irgendwo auf den Untersuchungstischen verloren gegangen, vergraben unter Narben und der regelmäßigen Aufforderung, die Hosen runterzulassen.
„Ich dachte lange Zeit, dass ich für Liebe oder Sexualität total unfähig bin. Das wurde mir so gesagt. Blöderweise habe ich das geglaubt“, sagt Micha heute. „Aber es hat mir auch geholfen, diese Zeit zu überstehen. Sonst hätte ich realisiert, dass ich total anders und einsam bin. Es ist ein Glück, dass ich heute noch lebe.“

2004 befragen Forscherinnen und Forscher Menschen mit einer ähnlichen Diagnose wie Micha. Das Ergebnis: Fast zwei Drittel hatten Suizidgedanken, ein Fünftel Suizidversuche hinter sich. Die meisten von ihnen wurden so wie Micha hormonell und chirurgisch behandelt.

„Ich war in dieser Rolle gefangen. Ich wusste ja nicht, dass es eine andere Möglichkeit gibt.“

Michas Erinnerungen an Schmerzen, Krankenhausbetten und Vollnarkosen verschwimmen. Mit Anfang zwanzig fordert ersie die Krankenunterlagen aus Innsbruck an. Als die Papiere zum ersten Mal gesammelt auf dem Schreibtisch liegen, geht Micha nach draußen Holz hacken. Bis der Mittelfinger bricht.
Viele intergeschlechtliche Menschen kämpfen noch immer um ihre medizinischen Unterlagen, nur wenige bekommen sie. Die Betroffenen erzählen von abenteuerlich klingenden Erklärungen der Krankenhäuser. Ein Hochwasser habe die Unterlagen zerstört, erzählt etwa eine betroffene Person BuzzFeed News. Das Archiv sei aufgelöst, eine andere. Oft sind die Akten einfach nicht mehr da, weil die Aufbewahrungsfristen abgelaufen sind.

Das soll sich nun verbessern. „Alle Befunde sollen mindestens 30 Jahre aufbewahrt werden“, steht in den neuen medizinischen Leitlinien, die vor zwei Jahren veröffentlicht wurden. Sie gelten als progressiv, gegen die Operationen und für mehr Aufklärung. Rechtlich bindend sind sie nicht.

Der Arzt aus Innsbruck, der Micha und der Mutter zufolge den Medizinstudentinnen gezeigt hat, wie man Michas Penis vermisst, antwortet auf die Frage von BuzzFeed News, wie er seine Behandlungspraxis heute beurteile: „Ich habe an die geschilderte Situation keine konkrete Erinnerung [...].“ Die geschilderte Szene entspräche aber „nicht der geforderten Wertschätzung der Würde eines Patienten und der ärztlichen Sorgfaltspflicht, unabhängig von der Diagnose.“

Zuschauen dürfen die Medizinstudierenden noch heute, gibt der Arzt an. Gerade bei seltenen Variationen der Geschlechtsentwicklung sei die Anwesenheit von StudentInnen für die Betroffenen und deren Familien „ohne Frage sehr unangenehm, aber im Sinne der Weitergabe von Wissen leider unumgänglich – die Zustimmung des Betroffenen vorausgesetzt!“

Michas Mutter erinnert sich nicht daran, eine solche Zustimmung gegeben zu haben. Micha ist sich sicher, von dem Arzt nicht danach gefragt worden zu sein.

„In den letzten zehn Jahren hätte ich so viel erleben können. Diese zehn Jahre kriege ich nie wieder zurück.“

Micha beginnt ein Physik-Studium in Innsbruck, achtzig Prozent der Kommilitonen sind Männer. An der Uni findet Micha keinen Anschluss und die Stadt spült die Erinnerungen an die Klinikbesuche wieder hoch. Jedes Wochenende fährt Micha nach Hause, zieht wieder mit dem Bogen in die Wälder oder geht Skifahren.
In dieser Zeit versteht Micha langsam, dass ersie intersexuell ist. Im Internet entdeckt Micha das Onlineforum Bodies like ours. Auf der Plattform schildern Intersexuelle ihre Erlebnisse, Micha liest sich durch die Gespräche in den Foren. Und findet Personen mit der gleichen Diagnose wie ersie, aber mit anderen Geschlechtern. Menschen, die als Männer leben, als Frauen, als Dazwischen, oder mal so mal so. Michas Selbstwahrnehmung verändert sich.

Mit 22 kauft sich Micha ein Zugticket nach Berlin. Zehn Stunden Fahrt, dann steht Micha in einer Tagungsstätte mit drei dutzend anderen intergeschlechtlichen Menschen. Es ist ein Treffen der Intersex-Gruppe „XY-Frauen“ – Personen mit männlichem Chromosomensatz, die von der Gesellschaft als Frauen gelesen werden. Micha ist verunsichert. „Ich hatte Angst, nicht dazuzupassen.“
Auf dem Treffen wird viel über medizinische Details gesprochen. Die Masse an Schicksalen, Leid und Trauma, die hier aufeinander treffen, ist für Micha schwer erträglich. Aber in der Gruppe sieht Micha, dass ein Leben als „Dazwischen“ möglich ist. Und beginnt zaghaft, die weiblichen Seite an sich zu entdecken, die früher nie sein durfte.

Mit 24 zieht Micha erneut um, beginnt ein Geologiestudium in Leipzig, knüpft Freundschaften.
Kurze Zeit darauf beginnen neue gesundheitliche Probleme. Es sind Folgen der früheren Operationen. Schon als Kind hatte Micha häufig Blasenentzündungen. Das Narbengewebe konnte nicht mitwachsen, der Urin nicht richtig abfließen, durch das Pressen beim Wasserlassen könnten die Nieren geschädigt werden.
„Das Risiko dieser Operationen ist erheblich“, sagt Michaela Katzer, Fachärztin für Urologie, die häufiger intergeschlechtliche Personen behandelt und berät.

Hypospadien werden auch heute noch in vielen deutschen Kliniken operiert. Neue Studien zeigen jedoch, dass diese Hypospadien häufig ein Hinweis auf Intergeschlechlichkeit ist. In diesen Fällen soll erst einmal kein chirurgischer Eingriff erfolgen, so steht es in den aktuellen medizinischen Leitlinien. Stattdessen sollen Bluttests oder Ultraschalle gemacht werden, um zu sehen, ob das Kind intergeschlechtlich ist.
Wenn das Kind nicht intergeschlechtlich ist, wird davon ausgegangen, dass das Kind sich zu zu einem Jungen entwickeln wird. Dann wird die Harnröhrenöffnung an die „richtige“ Stelle operiert. So können die Kinder im Stehen pinkeln.

„Die Operation ist für das Gefühl der Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht nicht entscheidend“, sagt Katzer. „Auch nicht, ob die Diagnose als intersexuell gilt oder nicht. Die Frage ist, ob ihnen unnötiges Leid zugefügt wird.“ Sie habe viele ältere Patient*innen mit Hypospadie gesehen, die nicht operiert wurden und heute keine Einschränkungen haben, so Katzer.

Wie würde es Micha heute gehen, hätten die Operationen nie stattgefunden?
„Die Operationen haben mir einen erheblichen Teil meiner sexueller Empfindsamkeit genommen. Und sie haben mich psychisch krank gemacht“, sagt Micha.
„Ich habe nicht an ein Dazwischen gedacht. Diese Alternative war nicht da“, sagt Michas Vater.

„Ich habe eine weibliche Seite, und die habe ich nie zugelassen.“

Nur wenige Kinder wachsen in Deutschland intergeschlechtlich auf, denn erst seit 2013 erlaubt es das deutsche Recht, den Geschlechtseintrag im Pass leer zu lassen. Genutzt wird diese Option bislang nur in Einzelfällen. Studien zu nicht medizinisch behandelten Kindern, die nicht binär aufwachsen, gibt es nicht. Es sind zu wenige.

Aufgrund der gesundheitlichen Probleme macht sich Micha auf die Suche nach einem Arzt, der die Operationen aus der Kindheit korrigieren kann. Micha will eine künstlichen Öffnung für die Harnröhre an die ursprüngliche Position verlegen lassen, hinter das verengte, vernarbte Gewebe.
Zunächst fragt Micha in seiner neuen Heimat Leipzig nach, beim St. Georg Krankenhaus. Doch das lehnt die Operation ab. Das wäre schwere Körperverletzung, der Eingriff entspreche nicht der medizinischen Lehre, habe eine Oberärztin im Beratungsgespräch zu Micha gesagt. So steht es in einem Gedankenprotokoll von Micha. „In ihrer Lehre komme ich doch überhaupt nicht vor“, habe Micha gesagt. „Das stimmt“, habe die Ärztin geantwortet.

Micha lehnt weitere Untersuchungen in der Klinik ab. Eine Oberärztin, deren Name auch auf dem Entlassungsbrief der Klinik steht, sagt auf Anfrage von BuzzFeed News, sie erinnere sich nicht daran, jemals so ein Gespräch geführt zu haben. Da sie sich im Urlaub befinde, könnten keine weiteren Aussagen zu dem Fall getroffen werden, teilt die Pressestelle BuzzFeed News mit.

2017 findet Micha einen Arzt, der bereit ist, die Operation durchzuführen.

„Damit haben wir alle bisherigen plastischen Eingriffe zunichte gemacht“, sagt Dr. Fornara in einem Gespräch am Telefon. Er ist Direktor der Universitätsklinik für Urologie in Halle und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie und hat den Eingriff durchgeführt.
„Ich denke, die Operation war notwendig“ sagt Fornara. „Es hätte letztlich keine Alternative gegeben, die besser gewesen wäre.“

Die andere Option für Micha wäre offenbar eine Reihe von Folgeoperationen gewesen, um die „normale“ Harnröhre zu erhalten.

Die früheren Operationen rückgängig zu machen widerspreche „dem herkömmlichen Denken des Mediziners“, sagt Fornara über die Entscheidung der Klinik in Leipzig, die von Micha gewünschte Operation abzulehnen. „Und daher ist auch die Haltung des Mediziners verständlich. Unverständlich ist, dass er aus seinem Schemendenken nicht herauskommt.“
Die Beschwerden bezeichnet Fonara als „mentale Tortur“, ohne eine Behandlung hätte Micha körperliche Probleme bekommen.

Für Fornara genügend Gründe, um den Eingriff zu machen. „Man hat über diese Leute hinweg entschieden“, sagt Fornara. „Es sind Menschen, die mit einer Welt kämpfen, die sie nicht verstehen will.“
Es ist später Sommer, Deutschland ächzt unter der Hitze. In den Straßen lassen die Bäume vor Durst die Blätter hängen. Micha ist umgezogen, aus der großen WG in eine eigene Wohnung. Über dem Bett hängt eine Flagge, gelb, mit einem violetten Kreis. Es ist das Symbol der intergeschlechtlichen Menschen.
Erst vor wenigen Monaten hat das Bundesverfassungsgericht beschlossen, dass es in Deutschland eine dritte Geschlechtskategorie geben soll. Künftig wird man in Pass und Geburtsurkunde vermutlich den Begriff „divers“ eintragen können.

Bundesjustizministerin Katarina Barley äußerte mehrfach, dass sie mit einem Gesetz geschlechtszuweisende Operationen an Intersex-Kindern verbieten will. So steht es auch im Koalitionsvertrag. Aber in Deutschland sind gerade andere Themen wichtig, es wird über Migration, Grenzschutz und Ankerzentren diskutiert.
Operationen, um eindeutige Jungen und Mädchen zu formen, finden heute vorsichtiger und seltener statt. Darüber gesprochen wird auch im Jahr 2018 kaum. Eine Studie der Humboldt-Universitätzeigt, dass auch heute noch regelmäßig intergeschlechtliche Kinder operiert werden.

Intersex-Aktivist*innen sprechen von Verstümmelung, Ärztinnen und Ärzte fühlen sich falsch dargestellt. Der bekannteste Intersex-Arzt in Deutschland, Olaf Hiort, steht nach Angabe der Pressestelle seiner Klinik derzeit nicht für Gespräche zur Verfügung.

Klagen gegen frühere Unfruchtbarmachungen oder Folgeschäden existieren faktisch nicht. Die Beweislage ist dünn, die Eltern haben den Operationen zugestimmt. Und sind die Betroffenen alt genug, um selbst zu klagen, sind die Fälle meist verjährt.

„Ich will eine Entschädigung”, sagt Micha. „Es kann nicht sein, dass jetzt alles okay ist.“ Heute bewegt sich Micha zwischen dem Wunsch nach Gerechtigkeit und dem Drang, mit all den medizinischen Akten und Schmerzen abzuschließen und sich neu zu definieren. Es prallen zwei Welten aufeinander: Das bisherige Leben, eine fremde und zugleich vertraute Rolle. Und die Möglichkeit, heute alles anders zu machen.
„Ich will etwas dazu sagen, was mich stark macht“, sagt Micha am Ende eines der vielen Gespräche. „Für mich existieren diese Rollenbilder von Mann und Frau nicht mehr. Ich picke mir von beiden Seiten raus, was mir gefällt. Ohne darauf zu achten, ob das aus gesellschaftlicher Sicht zusammenpasst.“

Vergangenes Jahr ist Micha in den Skiurlaub gefahren, stand mit Gepäck und dicker Wintermütze an einem Bahnhof in Norditalien. Der Zug hatte Verspätung, Micha ging an den Fahrkahrtenschalter und fragte, wann der Zug nun endlich komme. Die Frau am Schalter begann zu plaudern, ihre Tochter sei früher auch Ski gefahren, seit einem Beinbruch nicht mehr, wie schön, die Signorina solle die Reise genießen.

Signorina.
„Ich war stolz“, sagt Micha, „dass sie mich als Frau angesprochen hat. „Ich stand da mit meinen Skiern in der Hand und meinem großen Rucksack auf dem Rücken und das hat sich so richtig gut angefühlt.“





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